Zuckerbrot
und Peitsche: Am Montag war Tunesiens Präsident Zine ben Abidine
Ben Ali im Fernsehen aufgetreten und hatte angekündigt,
angeblich „300.000 Arbeitsplätze“ innerhalb von knapp zwei
Jahren zu schaffen - aber auch „Terroristen im Solde des
Auslands“ (gemeint waren militante jugendliche Demonstranten)
hart zu sanktionieren. Am gestrigen Mittwoch nun feuerte er
seinen Innenminister, Rafik Belhadj Kacem - und ernannte seinen
Amtsnachfolger Ahmed Friaa -, dabei die Freilassung aller in der
vergangenen Woche festgenommenen Protestierer ankündigend.
Gleichzeitig aber nahm die tunesische Diktatur einen ihrer
prominentesten politischen Opponenten fest, den Journalisten und
früheren Direktor der Zeitung ,Al-Badil’ (Die
Alternative) Hamma Hammami. Letzterer ist der Sprecher der
„Kommunistischen Werktätigenpartei Tunesiens“ PCOT, über die man
denken kann, was man möchte - die Partei war früher maoistisch
und pro-albanisch ausgerichtet und hat heute ein eher vage
demokratisch-marxistisches Profil -, die aber zu den wichtigsten
Oppositionskräften im tunesischen Polizeistaat gehört.
Über die
Hauptstadt Tunis und ihre - ärmeren - Vororte wurde eine
Ausgangssperre ab 19 Uhr täglich verhängt. Dennoch fanden
gestern Abend zu circa zweistündigen Straßenkämpfen in der
Vorstadtzone westlich von Tunis statt. Vor dem Theater von Tunis
kam es am Dienstag zu Handgreiflichkeiten von Polizisten gegen
eine Künstlerdemonstration, die sich dort zu sammeln versuchte,
aber auseinandergejagt wurde. Am gestrigen Mittwoch wurden aus
Städten des tunesischen Südens - Douz, Kebili und Gabès - 8 bis
10 Tote durch polizeilichen Schusswaffeneinsatz vermeldet. Dabei
starb auch ein französisch-tunesischer Doppelstaatsbürger,
Lehrer in Compiègne (rund 50 Kilometer nördlich von Paris), der
an einer technischen Hochschule in Frankreich unterrichtete und
eine Kugel in den Kopfel erhielt. In der Küstenstadt Sfax kam es
zu zahlreichen Verletzten. Inzwischen hat die Revolte und „die
Gewalt“ (die, wie die internationale Presse oft ungenügend
präzisiert, in massivster Form von der Staatsmacht ausgeht) auch
die tunesischen Touristenstädte erreicht. Im Badeort El-Hammamet,
dessen Name wörtlich ,Die Bäder’ bedeutet, wurden schwere
Zusammenstöße mit der Polizei vermeldet.
Am morgigen
Freitag ist ein Generalstreik anberaumt, zu welchem mehrere
gewerkschaftliche Strukturen aufrufen. Fünf Branchenverbände
innerhalb des Dachverbands UGTT - dessen Spitze unter Kontrolle
des korrupten Polizeistaatsregimes steht - sind auf
oppositioneller Linie und rufen zu Aktivitäten in Solidarität
mit der Jugendrevolte und gegen die mafiöse Ben Ali-Clique an
der Macht auf. Unterdessen verweigerte zumindest ein Teil der
Armee (die in Tunesien gegenüber den fast allmächtigen
Polizeiorganen eher vernachlässigt blieb) ihre Mitwirkung bei
der Repression. Anfang der Woche entließ Ben Ali deswegen
ihren Generalstabs-Chef und tauschte ihnen gegen den bisherigen
Leiter des militärischen Nachrichtendiensts aus.
Vollauf wohl
ist Präsident Ben Ali offenkundig nicht mehr bei der Sache.
Gestern wurde bekannt, dass er seine näheren Familienmitglieder
alle bereits ins Ausland geschickt hat. Seine drei Töchter und
deren Ehemänner - darunter das korrupte Schwein, pardon, der
Milliardär Sakhr el-Materei - flohen inzwischen nach Kanada.
Gerüchten zufolge soll bereits ein Flugzeug für Ben Ali selbst
bereit stehen, dessen nähere Absichten allerdings noch unklar
bleiben. Noch fällt es vielen Tunesiern schwer zu glauben, dass
der seit November 1987 ununterbrochen amtierende (und mehrfach
mit über 90 % der Stimmen „wiedergewählte“) Präsident wirklich
den Abgang machen könnte.
Frankreich
bietet Polizeihilfe an
Unterdessen
erklärte die französische Außenministerin Michèle Alliot-Marie
am Dienstag Nachmittag gegen 16.30 Uhr in der
Nationalversammlung in Paris, Tunesien (und Algerien)
„polizeiliches Know-How“ anzubieten. Dieses könnte es den - in
ihren Augen überforderten - Polizeien beider Länder erlauben,
„sowohl die Sicherheit als auch das Demonstrationsrecht zu
gewährleisten“. Tunesische Migrantenvereine in Frankreich haben
am heutigen Donnerstag auf diesen Hohn in zwei Kommuniqués
geantwortet.
Die Rolle
der neuen Informations- & Kommunikationstechnologien
Behaupte
noch mal jemand, was sich in der virtuellen Welt des Internet
abspiele, habe überhaupt keinen Einfluss auf das „wirkliche
Leben“ in der Gesellschaft. Jedenfalls in Ländern wie Tunesien,
wo nahezu sämtliche Informationen nur zensiert zu erhalten sind,
spielen die modernen Informations- und
Kommunikationstechnologien mitunter eine zentrale Rolle für
kollektives soziales Handeln. Helfen sie doch dabei, die Zensur
und den allgegenwärtigen offiziellen Meinungsfilter zu umgehen
und sich – etwa über Facebook und anderen „soziale Netzwerke“ –
auszutauschen. Zumindest, bis die Repression dann auch gegen die
Akteure auf diesen neuartigen Kampffeldern zuschlägt.
Internet und
Facebook waren tatsächlich wichtige Hilfsmittel für die massive
Jugend- und Sozialprotestbewegung, die sich in den letzten drei
Wochen in Tunesien formierte. Das Ziel erschöpfte sich dabei
allerdings keineswegs darin, sich zum Plausch im Netz zu
verabreden oder empörte Protestresolutionen on-line zu stellen
und es dabei bewenden zu lassen. Vielmehr dienen das Internet
und damit zusammenhängende Technologien lediglich als Mittel zu
dem Zweck, sich zu verabreden und gemeinsame Aktionen auberhalb
des virtuellen Raums zu unternehmen: Streiks von Schülern und
Studierenden, kollektive Arbeitsniederlegungen von Anwälten,
Demonstrationen, Besetzungen.
Auslöser der
Revolte, die Tunesien in diesem Ausmab
seit einem Generalstreik in den Jahren 1977/78 nicht erlebt hat
– die letzte breite soziale Protestbewegung im Juni 2008
erfasste vor allem das Bergbaubecken von Gafsa – war der
Selbstmord eines jungen Prekären. Am 17. Dezember übergoss sich
der 26jährige Mohammed Bouazizi in der 40.000 Einwohner
zählenden zentraltunesischen Stadt Sidi Bouzid mit einer
brennbaren Flüssigkeit, Terpentin, und zündete sich an. Voraus
gingen zahlreiche Schikanen durch die örtliche Polizei. Beim
letzten Mal hatte eine Polizistin den jungen Mann, der Abitur
hat, aber sein Leben durch „illegalen“ Gemüseverkauf auf dem
Markt fristen musste, angespuckt. Bouazizi wollte sich auf dem
Polizeipräsidium beschweren, wo man ihn zum Teufel schickte.
Daraufhin beging er vor den Türen des Gebäudes seine
Verzweiflungstat.
Eine
„verlorene Generation“
Doch Mohamed
Bouazizi war nicht allein das Opfer polizeilicher Schikanen. Er
wurde auch zum Sinnbild einer „verlorenen Generation“, einer
Jugend mit Schul- und oft Hochschul-Abschlüssen, aber ohne
Chancen auf einen halbwegs erträglichen Job. Die Gründe dafür
liegen darin, dass in den ultrakorrupten Strukturen Tunesiens –
wie auch der Nachbarländer, vor allem Marokkos – qualifizierte
Stellen heute nur dank familiärer Beziehungen und aufgrund
persönlicher Loyalitäts- und Abhängigkeitsverhältnisse zu
erlangen sind. Hoch qualifizierte junge Leute, die nicht in das
Raster solcher Beziehungen passen, werden durch die Machthaber
als Gefahr empfunden. Zudem hat besonders Tunesien auf ein
Modell wirtschaftlicher Entwicklung gesetzt, das extrem von äuberer
Nachfrage und vor allem dem EU-Binnenmarkt abhängig ist.
„Wachstumsmotoren“ sind einerseits der Dienstleistungssektor und
dabei vor allem der Tourismus, andererseits
Zuliefererindustrien, die aus Europa ausgelagert
Handlangertätigkeiten übernehmen. Dazu zählen die Textil- und
periphere Teile der Automobilindustrie, wie die Herstellung von
Autoteppichen und vergleichbarem Zubehör. Solche Branchen
verlangen nach Arbeitskräften, aber eher nach „gering
qualifizierten“. Hingegen hat das tunesische Schul- und
Hochschulwesen beispielsweise viele Hotelfachkräfte ausgebildet,
die jedoch oftmals keine Arbeitsplätze finden, weil der
Boomsektor des Tourismus in den Händen einflussreicher Familien
konzentriert ist.
Offiziell
beträgt die – weit untertriebene – Arbeitslosenrate in Tunesien
etwa 14 Prozent, doch beiden unter30jährigen sind es demnach 30
Prozent. Unter den Hochschulabgängern sind es offiziell etwa 22
Prozent, gegenüber 10 Prozent im Jahr 2000. Die reale Quote
liegt weit höher und wird auf über 35 Prozent geschätzt. Im
sämtlichen Maghreb-Ländern ist die soziale Figur des diplômé
chômeur, des Arbeitslosen mit Diplom, eine sprichwörtliche
Erscheinung geworden. In Marokko, wo auch in den offiziellen
Statistiken die Erwerbslosenrate mit steigenden Schulabschlüssen
klettert und nicht fällt, gibt es seit nunmehr zehn Jahren eine
organisierte und fest strukturierte „Bewegung der diplômés
chômeurs“. Dagegen konnte das Elend dieser Generation im
Polizeistaat Tunesien, wo fast jede politische oder soziale
Lebensregung erstickt wird, bislang keinen solchen Ausdruck
finden.
Umso
heftiger fiel nun die Explosion aus. Dass sie vom
vernachlässigten Landesinneren – das gegenüber den etwas besser
gestellten Küstenregionen systematisch „vergessen“ und
übergangen wird – ausging, nimmt dabei kein Wunder. In Sidi
Bouzid ist die Rede von 48 Prozent Arbeitslosigkeit – und 60
Prozent in der jüngeren Generation.
Tunesien:
ein mieser kleiner Polizeistaat am Mittelmeer
Die
Schwestern und Brüder von Mohamed Bouazizi haben
Hochschulabschlüsse und dennoch keinen Job. Er selbst besitzt
„nur“ das Abitur, womit er allerdings bereits einen höheren
Bildungsabschluss aufweist als der Präsident: Der 74jährige Zine
Abidine Ben Ali verfügt über keinerlei Diplom, auch kein Abitur.
Das Einzige, was er im Leben gelernt hat, ist Repression: Seine
Laufbahn führte über die Positionen eines hohen
Polizeifunktionärs, eines bei französischen und
US-amerikanischen Nachrichtendiensten ausgebildeten
„Superbullen“ und das Amt des Innenministers bis in den
Präsidentenpalast. Seitdem er im November 1987 seinen Vorgänger
im „Palast von Karthago“, Habib Bourguiba, den „Vater der
tunesischen Unabhängigkeit“, für „medizinisch amtsunfähig“
erklären lieb,
residiert er dort ohne Unterbrechung.
Die
Machtausübung seines Regimes basiert auf keinerlei offiziell
proklamierter „Idee“. Vielmehr fubt
sie auf dem nackten Machtanspruch eines Polizeistaats, gekoppelt
an Konsumversprechen für die Bevölkerung, die sich jedoch
längerfristig als trügerisch erwiesen. „80 Prozent der
Bevölkerung gehören zum Mittelstand“, propagierte das Regime in
früheren Jahren, und versprach eine Lebensweise wie in Europa –
die jedoch für das Gros der Einwohner auf Krediten basierte, die
sie nun nicht oder nur unter schwersten Mühen zurückzahlen
können. So auch die Familie von Mohamed Bouazizi, die von
Schulden und abzuzahlenden Krediten erdrosselte wurde. Nach dem
Tod ihres Bruders – der am 04. Januar in einem Krankenhaus in
Tunis seinen Verbrennungsverletzungen erlag – wurde nunmehr der
Schwester Mohameds ein Job im Staatsdienst versprochen.
Sechs Tage,
nachdem der junge Mann sich vor dem Polizeipräsidium angezündet
hatte, beging ein weiterer Arbeitsloser in Sidi Bouzid
öffentlichen Selbstmord. Der 24jährige Houcine Neji stürzte sich
vor den Augen einer Menge, die sich unten versammelte hatte, von
einem Hochspannungsmasten herunter in die Stromleitung. Dabei
rief er: „Genug vom Elend, genug von der Arbeitslosigkeit!“ Nur
teilweise bestätigten Informationen, bei denen es sich zum Teil
um Gerüchte handeln kann, sollen in den letzten Wochen rund zehn
weitere öffentliche Suizide solcher Art vorgefallen sein. Der
letzte bestätigte Fall betrifft einen 50jährigen Erwerbslosen,
der sich vorigen Donnerstag in Sidi Bouzid tötete.
Schon wenige
Stunden, nachdem Mohamed Bouazizi in Flammen aufgegangen war,
versammelte sich zahlreiche Elendsgenossen in Sidi Bouzid auf
den Straben
und öffentlichen Plätzen. Ihr Protest schwoll schnell an, und in
den darauffolgenden beiden Tagen gingen die Niederlassung der
Staatspartei RCD (Demokratische Verfassungspartei), Autoreifen
und ein Polizeiauto in Flammen auf. Polizisten wurden mit
Steinen beworfen. Die sonst übliche bleierne Angst vor den
„Sicherheitskräften“ wich der Wut. Die Bewegung breitete sich
schnell aus. Am Wochenende des 25. und 26. Dezember erreichte
sie die Hauptstadt Tunis, wo erste Demonstrationen stattfanden.
Nochmals massiv verbreitet wurde sie in den ersten Januartagen
durch das Ende der Schul- und Hochschulferien.
Die Antwort
des Regimes in dem gut zehn Millionen Einwohner zählenden,
nordafrikanischen Staat fiel dabei sehr „klassisch“ aus: Der
Polizeistaat setzt auf die Gewalt der Uniformierten. Nachdem der
Einsatz von massiven Polizeikräften aus Sicht der Diktatur nicht
mehr genügte, wurden am vergangenen Wochenende in Thala – rund
250 Kilometer südwestlich der Hauptstadt Tunis – erstmals auch
Soldaten der Armee eingesetzt. Die rund 14.000 Einwohner
zählende Stadt wurde förmlich umzingelt.
Am
vergangenen Sonntag schon sprach die tunesische Opposition von
50 Toten, von denen ein Grobteil
in den beiden Nächten zuvor durch Schüsse mit scharfer Munition
in Thala und Kasserine gestorben sei. Am Montag fügte sie in
ihren Erklärungen fünf weitere Opfer aus Kasserine hinzu und
sprach von Scharfschützen, die von den Dächern aus auf
Demonstranten und „Randalierer“ zielen. Unterdessen wurde in
Kasserine zu einem Streik der Arbeiter in der örtlichen
Zellulosefabrik aufgerufen.
Das Regime
in Tunis seinerseits spricht in einer offiziellen Bilanz von
bislang 21 Toten und rechtfertigt den Schusswaffeneinsatz:
Dieser sei angeblich „in Notwehr“ erfolgt, und es seien auch
mehrere Polizisten verletzt worden, „drei von ihnen schwer“.
Doch die ersten beiden Toten unter den Protestierenden hatte es
schon Wochen zuvor gegeben, nachdem die Polizei am 24. Dezember
in Menzel Bouzaïene das Feuer eröffnet hatte. Daraufhin starb
der 18jährige Mohamed Ammari im Kugelhagel, und der
schwerverletzte Chawki Hidri erlag eine Woche später seinen
Verletzungen.
Nur spärlich
dringen die Informationen aus Tala und anderen Zentren der
Protestbewegung, die einer rigiden Nachrichtensperre unterworfen
sind und in denen weder tunesische noch ausländische
Journalisten ungehindert arbeiten dürfen. Der französischen
Abendzeitung Le Monde wurde etwa glatt die Einreise für
die Journalistin Isabelle Mandraud – die die Proteste verfolgt -
nach Tunesien verweigert. Wesentlich schlimmer noch ergeht es
ihren tunesischen Kollegen. Die beiden Presseleute Zouheir
Makhlouf und Loez el-Bey wurden am 24. Dezember „live“ während
der Aufzeichnung einer Radiosendung durch die Polizei
misshandelt.
Gegen die
Akteure im Internet: Das Imperium schlägt zurück
Umso
wichtiger wurde dadurch die Rolle des Internet. Doch auch dieses
ist längst zum Kampfschauplatz geworden. Das Regime versucht
darüber hinaus, die Akteure im virtuellen politischen
„Cyberware“ auf ganz handgreifliche Weise unter ihre Kontrolle
zu bringen. Seit dem vergangenen Donnerstag (o6. Jan.) nehmen
die Verhaftungen unter Bloggern – es gibt 900 von ihnen in
Tunesien, von denen ein gutes Drittel regelmäbig
aktiv ist – massiv zu. So wurden drei Mitglieder des tunesischen
Ablegers der „Piratenpartei“ festgenommen: Slim Amamou, Azyz
Amami und Sla Eddine Kchouk. Zwei von ihnen wurden am
vergangenen Sonntag wieder freigelassen, zusammen mit dem
regimekritischen Rapsänger, Hamada Ben-Amor aus der Küstenstadt
Sfax, der unter dem Spitznamen „El General“ bekannt ist.
Hingegen fehlt bisher jegliche Nachricht von Azyz Amami.
Die
Regierung glaubt, durch die Festnahmewelle unter Internetnutzern
endlich „Ammar 404“ enthauptet zu haben. So nennt sich
sarkastisch die Netzbewegung von Regimekritikern, unter
Anspielung auf die Fehlermeldung „Ammar 404“ – oder englisch „error
404“ -, die in Tunesien regelmäbig
auf den Bildschirmen aufscheint, sobald man sich auf eine
politisch unliebsame Webseite zu klicken versucht. Unterdessen
wurde auch bekannt, dass der mit Abstand meistgenutzte
Internet-Provider in Tunesien mutmablich
die Passwörter von Benutzern „schluckt“. Die ,Agence
d’Internet tunisienne’ (AIT) soll auf diese Weise die
Zugangs-Codes zu Diensten wie Yahoo, Google und Facebook Aubenstehenden
– etwa auch Polizisten oder Nachrichtendienstlern – zugänglich
machen. Die Providerfirma AIT gehörte bis im September 2010
einer Tochter von Präsident Ben Ali, Cyrine Mabrouk, die seitdem
einen privaten Radiosender in luxuriöser Umgebung leitet. Das
tunesische Informationsministerium hat direkten Zugriff auf den
Provider.
In einem
Land, wo ein Prozent der Bevölkerung – ein Rekordwert – bei den
Sicherheitskräften beschäftigt ist, konnte bislang noch jede
strukturierte politische Opposition erstickt werden. Die Revolte
der letzten Wochen hat dieses Korsett nun gesprengt. Dass
Anwälte und andere Berufe sich massiv der Bewegung anschlossen,
weil sie glauben, sie erlaube die Durchsetzung grundlegender
politischer Freiheiten, ist ein wichtiges Element für die nähere
Zukunft.
Übriger
Maghreb: Marokko, Tunesien
Die übrigen
Maghreb-Staaten haben unterdessen Angst vor einem Übergreifen
des Funkens der Revolte. In Marokko wurden vorsorgliche mehrere
Solidaritätskundgebungen für die tunesische Jugend, die in Rabat
und Casablanca geplant waren, verboten. Hingegen fand in
Nouakchott - der Hauptstadt Mauretaniens - eine
Solidaritätskundgebung statt.
Unterdessen
rief in Algerien die unabhängige Gewerkschaft der
Staatsbediensteten – SNAPAP – für Donnerstag zu
Solidaritätskundgebungen für Tunesien auf. Diese Initiative
wurde jedoch durch die Wucht einer eigenen Rebellion der
algerischen Jugend überrollt. Seit dem vergangenen Dienstag
brannte es zunächst in einem ärmeren Stadtteil der Hauptstadt
Algier – Bab el-Oued -, dann auch in der westalgerischen
Metropole Oran und in mehreren Städten im Nordosten des Landes.
Am Wochenende waren fünf Todesopfer infolge von Zusammenstöben
mit der Polizei zu beklagen, in Msila, Annaba, Boumerdès und
Tipaza. 1100 Personen waren infolge von „Randalierens“ und
Plünderungen festgenommen worden. Vielerorts wurden
Staatssymbole, darunter auch 40 Schulen, angegriffen.
Den
auslösenden Funken in Algerien bildete die starke Erhöhung der
Preise für Grundnahrungsmittel, besonders Speiseöl und Zucker.
Diese ist unter anderem auf internationale Preisschwankungen
infolge von Spekulationen und auf die starke Importabhängigkeit
Algeriens bei fast allen Gütern – mit Ausnahme seiner beiden
Devisenbringer Erdöl und Gas – zurückzuführen. Aufgrund der
Proteste beschloss die algerische Regierung am Samstag, die
Importsteuern und Abgabe auf die betroffenen Grundbedarfsgüter
um 41 Prozent zu senken, in der Hoffnung, so zur Senkung der
Preise zu führen. Aber die Revolte der Jugend geht längst über
den Protest gegen die Preise für diese Nahrungsmittel hinaus.
Editorische Anmerkungen
Wir erhielten den Artikel von Autor.
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