Kann der Eigensinn gesellschaftlicher Teilsysteme ein Bündnispartner gegen die „Profitdominanz“ sein?

von Meinhard Creydt

01/11

trend
onlinezeitung

Divergenzen zwischen der Kapitalverwertung einerseits, den ihren Logiken nicht direkt unterworfenen Sphären andererseits, bilden eine Hoffnungsquelle für den mit Hoffnungen nicht reich beschenkten progressiven Verstand. Dieter Klein, für die Ausrichtung der PDS bzw. Linkspartei und ihr Moderneverständnis einflussreich, formuliert diese (auch von anderen Linken geteilte) Hoffnung so: „Die Linke hat die Chance, den Eigensinn der gesellschaftlichen Teilsysteme gegen die Profitdominanz zu nutzen und ihre transformatorischen Potentiale auszuschöpfen. Sie muss dies tun, indem sie sich mit Menschen verbindet, die eher der spezifischen Eigenlogik der Subsysteme als dem Herrschaftsinteresse der Machteliten verpflichtet sind, weil sie als WissenschaftlerInnen, Juristen, Künstler oder Gläubige anderen Zielen als dem Profit verpflichtet sind“ (Klein 2006, 97 – Hervorhebungen von mir).[1]

Ich skizziere im Folgenden den in dieser Position enthaltenen rationalen Kern (1) und frage, ob diese Teilbereiche tatsächlich so eigensinnig ausfallen wie gewünscht (2). Doch selbst dann wäre die progressive Inanspruchnahme der Eigenlogik der nicht direkt kapitalistisch betriebenen Gesellschaftsbereiche mit massiven Problemen verbunden (3).

(1) Tatsächlich gibt es in den verschiedenen Sphären, die der kapitalistischen Ökonomie nicht direkt unterworfen sind, für emanzipatorische Praxis relevante Konflikte. Im Erziehungswesen legt die Sympathie für pädagogische Reformversuche und Schulkritik davon Zeugnis ab, dass die Arbeitsfähigkeiten und -sinne von Lehrern in Distanz bis Widerspruch geraten zu staatlichen Kriterien für Schule. Im Ge­sund­heitsbereich wird einer Minderheit der dort Arbeitenden deutlich, dass den Sinn für die Ursachen von Krankheiten ernst zu nehmen heißt, nach gesell­schaft­lich vermeidbaren Ursachen von Krankheit und gesundheitsabträglichen Momenten des Ge­sund­heitswesens zu fragen. In der ‚Agraropposition’ von Bauern und Natur­schützern ist aus den Fähigkeiten und Kenntnissen des Umgangs mit der Natur eine Aufmerksamkeit dafür zu spüren, dass die kapitalistische Bewirtschaftung der Natur in Diskrepanz zu einer pfleglichen Landwirtschaft steht. In der Ökologie- und Nachhal­tig­keitsdiskussion kommt es zu einer Mobilisierung technischer, naturwissen­schaft­licher und sozialwissenschaftlicher Intelligenz und Fähigkeiten gegen die herrschenden Zustände.[2]

Heinrich Hardensett, der im progressiven Flügel der Technokratiebewegung (vgl. Willeke 1995) eine zentrale Rolle spielte, entfaltete bereits 1932 die Perspektive, bestimmte technische Sinne und Fähigkeiten gegen kapitalwirtschaftliche Maßgaben zu mobilisieren. Der von Hardensett gewiss einseitig positiv zum Typus stilisierte technisch orientierte Mensch „schätzt Berufe nicht nach Einkommen und als Wert der Arbeit nicht ihren Geldwert, sondern er schätzt Berufe und Arbeit nach ihrer baumeisterlichen Kraft, ihrem handwerklichen Können, ihrer Schaffensfreude und ihrem Gestaltungswillen und Verantwortungsgefühl“ (Hardensett 1932, 123). Aus der Perspektive des im weiten Sinne ‚handwerklichen’ Gelingens der Arbeiten (vgl. Sennett 2008) lässt sich ein massiver Vorbehalt gegenüber modernen und kapitalistischen Imperativen gewinnen. „Die industrielle heutige Arbeitsordnung ist … keineswegs technisch. Sie ist nicht angelegt auf Entfaltung technischer Menschentypen, sondern angelegt auf maximalen Geldgewinn. Taylors Sekundenökonomie ist durchaus untechnische rationalistische Maßnahme. Denn sie liefert zwar vielleicht eine maximale Produktionsmenge, jedoch verhindert sie das baumeisterliche Erlebnis“ (Hardensett 1932, 83). Das kapitalistische Wachstum beinhaltet „unendlichen Fortschritt um des unendlichen Profits willen. … Immer wieder wird das neue ‚zeitsparende’ Verfahren nicht zur Verminderung der Arbeitszeit, sondern zur Ausdehnung der Produktion benutzt. Immer wieder wird eine große technische Tat ihres humanitären, befreienden, beschwingenden oder heiteren Gehalts beraubt, um kapitalistisch ausgebeutet zu werden“ (Ebd., 33).

Es handelt sich bei den genannten Konflikten um eine Teilmenge des Doppelcharakters der gesellschaftlichen Arbeit im Kapitalismus. Ein allgemeiner Wider­spruch verläuft zwischen der Verwertung des Kapitals als gesellschaftlich maßgeblichem Relevanz­kriterium und den für profitables Wirtschaften sowie deren Bedingungen nötigen Fähigkeiten, Kooperations­zu­sam­men­hänge und (Er-) Kenntnissen. Zur Verwertung ingang gesetzte Prozesse gehen mit Qualifikationen, Kompetenzen, Nachverarbei­tun­gen und Er­fah­rungen einher, die in vielfältige Spannungen geraten können zum Verwertungskriterium. Die ei­gene system- und sozialintegrative Reproduktion des Kapitalismus in seiner herrschenden Formseite „bewährt“ sich an der Neutralisierung dieser Tendenzen.[3]

Die ideologisch hegemoniale Theorie der funktionalen Differenzierung beinhaltet etwas anderes. Sie hat ihre Berechtigung gegenüber Vorstellungen eines lenkenden Zentrums, das unmittelbar alle Bereiche regiert, und gegenüber Konzepten, die die Gesellschaft mit einem ambivalenz- und widerspruchsfreien Prinzip charakterisieren wollen. Allerdings verzichtet diese Theorie auf jedes Konzept gesellschaftlicher Einheit. Schimank (1996, 189) spricht dann auch ganz affirmativ in der Charakterisierung des Theorems ‚funktionale Differenzierung’ von der „Ansammlung von Teilsystemen, die einander gewissermaßen auf gleicher Ebene gegenüberstehen, ohne von sich aus viel voneinander wissen zu wollen.“

(2) Dieter Klein setzt auf den Gegensatz zwischen den Perspektiven der Kapitalverwertung und den Perspektiven der im Gesundheitssektor Tätigen, der Wissenschaftler, der Pädagogen u. a. So sehr es auch diesen Gegensatz in den genannten Bereichen gibt und so sehr er ein Anknüpfungspunkt für emanzipatorische Praxis ist, so fragwürdig wird es, die Bereiche als Bereiche allein durch ihre Eigenlogik zu charakterisieren.  

Es fällt auf, dass Dieter Klein und andere, die die funktionale Differenzierung als Denkkonzept zur Fundierung ihrer politischen Hoffnungen heranziehen, es nur ganz selektiv zur Kenntnis nehmen. Schon die bürokratisch-administrative Rationalität und die Organisationseffizienz bringen in Krankenhäusern zu jedem arbeitsinhaltlichen Eigensinn fremde Imperative mit sich, die „die Gewährleistung des Betriebs“ und die Einordnung der ihm unterworfenen Materie betreffen. Lenhardt (1984) und Holzkamp (1992) analysieren die Problematik am Beispiel der Schule.

Eine zweite Querschnittsproblematik der funktionalen Differenzierung besteht in der („fachidiotischen“) Absorption der jeweiligen Profession von ihrem Wissen und Tun unter Ausblendung der Kontexte, in denen sie steht und wirkt. Bei der Entwicklung von Massenvernichtungswaffen schafften es die sie entwickelnden Techniker und Wissenschaftler, sich auf den Reiz ihrer Arbeit zu konzentrieren. Jungk (1963, 432) zitiert eine Äußerung eines der Konstrukteure der US-amerikanischen Atombomben von 1945: „Ich fürchtete den Einsatz dieser dritten Bombe. Ich hoffte, man würde sie nicht verwenden, und zitterte bei dem Gedanken, was sie anrichten könnte. Und doch, wenn ich ganz aufrichtig sein soll, reizte es mich zu erfahren, ob diese Bombe die in sie gesetzten Erwartungen rechtfertigen kann, kurz ob sie ‚funktionieren’ würde“. „Die glückhafte Erregung über die neuen Dimensionen menschlichen Wissens und Könnens, die sich da auftaten, ließ diese Männer meist ganz vergessen, dass sie ja eigentlich hier zusammengekommen waren, um ein Todesinstrument zu entwerfen“ (Ebd., 466). So auch Oppenheimer: „Wenn man etwas sieht, was einem ‚technically sweet’ erschein, dann packt man es an und macht die Sache, und die Erörterungen darüber, was damit anzufangen sei, kommen erst, wenn man seinen technischen Erfolgt gehabt hat. So war es mit der Atombombe“ (zit. n. Jungk 1963, 490). Typisch auch die  Antwort eines Atomphysikers (Fermi) auf Einwände gegen den Einsatz der Bombe: „Lasst mich in Ruhe mit euren Gewissensbissen, das ist doch so schöne Physik“ (zit. n. Ullrich 1977, 234f.).

Eine dritte Querschnittsproblematik der funktionalen Differenzierung besteht in der den einzelnen Bereichen eigenen „Problemverschiebung“ (Luhmann 1970, 119), die mit der Transformation von Problemen aus der Umwelt des Systems ins jeweilige Subsystem-Innere verbunden ist. Diese Transformation erklärt, „wie mit Hilfe von Systembildungen Probleme verengt und dadurch unter Eliminierung von Komplexität in lösbare Probleme verwandelt werden“ (Ebd.). Ignoriert wird in positiven Hoffnungen auf die funktionale Differenzierung die mit ihr einhergehende technokratische Problembearbeitung. Sie besteht darin, „die Vielschichtigkeit und Komplexität von Problemen (zu) ignorieren (Folge der Spezialisierung), die Ursachen von Problemen (zu) vernachlässigen (Symptombehandlung), ... die strukturpolitisch vorsorgende Komponente zugunsten nachträglicher Maßnahmen aus(zu)blenden“ (Jänicke 1987, 60).

Dem Verfahren, Probleme in der Welt in von ihren gesellschaftlichen Ursachen abstrahierende Ersatzprobleme zu verwandeln und als Nachfrage nach Stückwerkhandeln zu organisieren und an die für die Antworten zuständigen Apparate anzupassen, diesem Verfahren entspricht die Neigung, Probleme aus der eigenen Lebenstätigkeit auszugliedern, sich selbst für unzuständig und Professionelle für zuständig zu erklären. So stellt z. B. die eigene Beschäftigung mit kranken und alten Mitmenschen vor dem Hintergrund der als überlastend erfahrenen Erwerbsarbeit eine zweite Überlastung dar. Überfordert zeigen sich Menschen, deren Existenz sich gesellschaftlich um Erwerbstätigkeit und das Sich-nützlich-machen für den abstrakten Reichtum zentriert. Zum herrschenden Erwerbs- und Geschäftsleben, in dem die Sinne und Fähigkeiten der Menschen vorrangig Mittel sind für durch sie zu erbringende Leistungen, gehört eine Verdrängung und (räumliche) Verschiebung von Problemen und Leid. Die Inbesitznahme des jeweiligen Problems durch die zuständige Profession und die wegdelegierende Nichtbefassung mit dem jeweiligen Problem bilden einen Zusammenhang gegenseitiger Steigerung. „Es wird etwas herausgezogen, entnommen, woanders zusammengezogen, wie umgekehrt hier etwas konzentriert wird, was woanders herausgezogen wird. … Es ist, als würden die einzelnen Räume als Akkumulatoren spezifischer Befugnisse wirken, welche die umliegenden Räume hinsichtlich dieser einen speziellen Zuständigkeit leerpumpen, ein Vakuum in ihrer Umwelt erzeugen“ (Haug 1993, 143, 139). Die besonderen Kompetenzen von professionell Tätigen lassen sich nur schwer als Ressource in die eigene Auseinandersetzung der Bevölkerung mit diesen Problemen übersetzen. Vielmehr werden die Probleme an die Professionen abgeschoben bzw. deren Diagnosen als Sprache vor der eigenen Auseinandersetzung und Erkenntnis übernommen.

In Bezug auf die Arbeit für gesündere Lebensbedingungen und -weisen ist das bisherige Medizinwesen nicht nur wegen äußerer Schranken (aus „Profitdominanz“) problematisch. Auch die von Horst Müller (2007, 55) vertretene Perspektive einer Parität zwischen kapitalistischer Ökonomie und den „sozialwirtschaftlichen Produktionen“ verbleibt im Horizont funktionaler Differenzierung und ihrer Trennung und Unabhängigkeit der ‚Systeme’. Demgegenüber käme es gerade darauf an, das Arbeiten, die Techniken, die Organisationen, den Konsum, die soziale Gegenstandswelt selbst bspw. unter gesundheitlichen Gesichtspunkten präventiv zu durchdringen und durchzuarbeiten. Die Selbstgenügsamkeit des Gesundheitswesens verdankt sich nicht zuletzt dem Umstand, dass Gesundheit im Kapitalismus keine Querschnittsproblematik aller Bereiche ist, sondern ein Sonderzweck, der nach Maßgabe der gesellschaftlich übergeordneten Kapitalprofitabilität bedient wird – bei allen Ausnahmen, die die Regel bestätigen. Das Lob der „sozialwirtschaftlichen Produktionen“ als „ausdehnungsfähiges Feld gesellschaftlicher Emanzipation“ (Müller 2007, 55) verknüpft die Eigeninteressen der z. B. in der Medizin Tätigen (an möglichst viel Nachfrage nach medizinischen Dienstleistungen) zu unmittelbar mit einer emanzipatorischen Perspektive. Eine präventive Durchdringung und Durcharbeitung aller Lebensbereiche dürfte auch zu einer Schrumpfung der medizinischen Reparatursektoren beitragen. Auch in der „Sozialwirtschaft“ und nicht nur in der unmittelbaren Kapitalverwertung herrscht die Unsitte, Probleme und ihre Ursachen nicht selbst zu bearbeiten, sondern sie als Gelegenheit wertzuschätzen, eigene (über)kompensatorische „Angebote“ absetzen zu können, die wie die Nothilfe die Not nicht selbst infrage stellen.

(3) Kleins These lautet, dass „Politik, Recht, Wissenschaft, Kultur, Sozialsphäre, Religion, Ethik und andere Subsysteme ihre eigenen Logiken und eigenen Maßstäbe der Entwicklung“ haben (Klein 2006, 97). Klein denkt weniger an eine Auseinandersetzung in den Bereichen (s. Abschnitt 1), als vielmehr an eine den Bereichen als Bereichen immer schon zugrunde liegende kritische Distanz zur Kapitalverwertung.

Evidenterweise sind Schule, Krankenhaus, Kirche usw. trotz aller in ihnen greifenden Ökonomisierungstendenzen etwas anderes als die kapitalistische Ökonomie. Auf diesen Unterschied und auf den Eigensinn dieser Bereiche fixiert gerät die übergreifende Einheit der Gesellschaftsformation nicht mehr in den Blick. Im Kapitalismus existieren gesellschaftlich übergreifende ideologische Bewusstseins- und Subjektivitätsformen, die auch die Arbeit und das Selbstverständnis der nicht unmittelbar der Ökonomie unterworfenen Bereiche strukturieren. Diejenigen, die allzu hoffnungsfroh auf den Eigensinn von Lehrern, Ärzten und Wissenschaftlern setzen, ignorieren, wie sich gerade die gebildeten Stände bei allen positiven Qualifikationen und bei allem Doppelcharakter dieser Bereiche als praktische Ideologen betätigen. Sie tun dies, indem sie bestimmte allgemeine Ideologeme aus dem Blickwinkel ihrer jeweiligen Profession sich zueigen machen und zu professionellen Mentalitäten mit entsprechender Überzeugungskraft ausgestalten. Patienten sind dann an ihren Krankheiten „selbst schuld“. Lehrern belegen ihre Unterrichtserfahrungen den angesichts der schwachen menschlichen Geisteskräfte „eigentlich“ bestehenden und vom Rest der Gesellschaft allerdings sträflich vernachlässigten Bedarf an ständiger pädagogischer Betreuung der Menschheit. Pfarrer sorgen sich um die Krummheit des Holzes, aus dem der Mensch geschnitzt ist und aus dem er ohne externen Beistand und ohne Gnade nicht herauszufinden vermag.  

Soweit nur die populären Beispiele dafür, dass die professionelle Eigenlogik nicht notwendigerweise progressiv ausfallen muss. Die jeweils bereichsintern eigenlogische und eigensinnige  Aufbereitung und Artikulation problematischer Ideologien und Subjektivitätsformen bilden ein zentrales Thema von in der Sozialwissenschaft, in den Berufsfeldern und in der Linken geführten Diskussionen.[4] Analysiert werden die Problembeschreibungen, Ziele und stillschweigenden Voraussetzungen der medikalisierenden, pädagogisierenden, psychologisierenden u. a. Herangehensweisen. Ineins mit den einzelnen Bereichen jeweilig vertraute und konstitutionstheoretische und formkritische Literatur liegt vor bspw. zur Schul- und Pädagogikkritik,[5] zur Kritik der Sozialarbeit,[6] zur Medizin und zur Sozialwissenschaft (vgl. Creydt 2006 bzw. 2001).

Die Professionen zeigen sich darin geschäftig und produktiv, die gesellschaftlichen Maßgaben, Voraussetzungen und Verlaufsformen von (Schul-)Lernen, Medizin im Gesundheitswesen, Sozialarbeit usw. professionell als pädagogisch, medizinisch oder sozialarbeiterisch unumgänglich oder wertvoll aufzufassen, aufzubereiten und auszustellen. Demgegenüber sind die unspezifischen Ideale, die den Arbeiten und Tätigkeiten in den hier thematisierten Bereichen ihren guten Sinn verleihen (Lernen, Erziehen, Bilden, Heilen usw.), zu dechiffrieren und die Unmittelbarkeit der Ideenrede zu beziehen auf die mystifizierte Verarbeitung von Notwendigkeiten und Zwängen, die die moderne und kapitalistische Form der Gesellschaft mit sich bringen (vgl. Creydt 2007). Es macht einen Unterschied, ob man das Erziehungswesen als vom Erziehungs- und Bildungsziel angeleitet auffasst, oder ob man die Selektion, die Einübung von Konkurrenz, die Gewöhnung an einen instrumentellen, belohnungsorientierten Umgang mit Inhalten, die „Erziehung zur Kälte“ (Gruschka) usw. als Momente des impliziten Lehrplans ausweist. Die für das Gesundheitswesen charakteristischen Verkehrungen habe ich andernorts herausgearbeitet (Creydt 2006).

Klein und Müller gehen von einem äußerlichen Verhältnis zwischen der kapitalistischen Ökonomie und den ökonomieexternen Sphären der modernen kapitalistischen Gesellschaft aus („Profitdominanz“). Beide Autoren kritisieren zu Recht die durch die mit der kapitalistischen Ökonomie einhergehende materielle Unterausstattung, Beschränkung und Unterordnung der nicht direkt der kapitalistischen Ökonomie unterworfenen Sphären. Klein und Müller interessieren sich aber nicht für die Arbeitsinhalte dieser Sphären. Sie verdoppeln damit in der Theorie eine in der Realität vorfindliche Mystifikation. Die Unterordnung und Einschränkung dieser Sphären verleitet die in ihnen Tätigen dazu, sich als über die kapitalistische Ökonomie und ihre Gepflogenheiten erhaben und sich als ihr gegenüber „anders“ und „besser“ vorzustellen[7] und nicht als auf bestimmte Weise an ihrem bestimmten Ort und mit ihrer eigenen Praxis eigensinnig beitragend zur Reproduktion der Gesellschaftsformation. Müller stilisiert dann auch folgerichtig den Unterschied zwischen der Praxis der sozialstaatlichen Bereiche und der Produktion industrieller Waren zum zentralen Gegensatz und Moment der gesellschaftlichen Dynamik.[8] Die alte Entgegensetzung der (nun nicht mehr kriegerisch, sondern professionell verstandenen) ‚Helden’ zu den ‚Händlern’ kommt zu neuen Ehren. Für Müller ist die in den sozialstaatlichen Sphären vorfindliche Praxis auszudehnen und aus ihrer ökonomischen Unterordnung unter die kapitalistische Ökonomie zu befreien. „Sozialwirtschaft als Systemalternative“ (Müller 2007a, 239). Diese Position ist strukturanalog zu jenem Alltagsfeminismus, der aus dem isoliert und abstrakt wahrgenommenen Moment der Unterordnung und mangelnden Wertschätzung der ebenso verdinglicht stilisierten‚weiblichen’ Praxen (Interaktion, Kommunikation, Care-Tätigkeiten) mit der Retourkutsche aufwartet und in der ‚Feminisierung der Gesellschaft’ die Lösung für die Probleme der modernen bürgerlichen Gesellschaft sehen zu können glaubt(e) (zur Kritik vgl. Creydt 2001a).

Müller bemüht den Sozialstaat und die infrastrukturellen Dienste, Klein setzt auf die Eigenlogik von Politik, Recht, Wissenschaft und Ethik gegen deren äußere Abhängigkeiten von der kapitalistischen Ökonomie und gegen externe Einflüsse. Beide stellen nicht die Fragen nach der spezifischen Ausformung dieser Sphären innerhalb der kapitalistischen Gesellschaftsformation und nach den für diese Sphären charakteristischen Weiterverarbeitungen und Transformationen andernorts ungelöster Probleme. Souverän ignorieren sie die umfangreiche gesellschaftskritische Debatte um die bürgerliche Konstitution und Formbestimmtheit von Politik, Recht, Sozialstaat und Kunst.[9] 

Die Perspektive von Klein[10] und Müller erinnert an sozialdemokratische Hoffnungen in den 1960er und 1970er Jahren, die im „Modell Schweden“ mit seinem Sozialstaat sowohl die gemischte Ökonomie eines kapitalistischen und eines schon nachkapitalistisch-„sozialwirtschaftlichen“ Sektors annahmen als auch die tendenziell wachsende Dominanz des nichtkapitalistischen Sektors. Müller stellt die bestehende kapitalistische Gesellschaft gleich als „Übergangsgesellschaft des 21. Jahrhunderts“ dar, sei doch mit den „sozialwirtschaftlichen“ Sphären „der Übergang zu einer neuen Produktionsweise und Gesellschaftsform bereits eingeleitet“ (Müller 2007a, 205). Er sieht in den Bereichen des weit verstandenen Sozialstaats die nachkapitalistische Reproduktionsweise angelegt. „Im Gegensatz zu seinem sachlichen oder gesellschaftlichen Naturell“ – welches Kompliment ! – würden der Sozialstaat bzw. die ihm zurechenbaren „sozialwirtschaftlichen Produktionen“ „restriktiven und entstellenden Formzwängen der Kapitalverwertung unterworfen“ und „disparitätisch und repressiv behandelt“ (Müller 2007a, 226). Unklar bleibt in Müllers Perspektive, wie die friedliche Koexistenz der kapitalistischen Warenproduktion und der sozialwirtschaftlichen Produktion aussehen soll und wie die gewünschte wert(!)bildende Gleichheit bzw. Parität der verschiedenen Sektoren funktionieren kann.[11]

Bestimmte für die Reproduktion der Gesellschaft wesentliche Arbeiten werden auch im Kapitalismus nicht primär profitabel bewerkstelligt. Müller folgert daraus, dies sei der Beleg dafür, dass auch die Wirtschaft sich ohne das Profitkriterium organisieren lasse. Er übergeht das ebenso einschlägige wie hegemoniale bürgerliche Gegenargument. Es lautet: Die nichtprofitablen Sphären können sich in einer kapitalistischen Gesellschaft nur in dem Maße entfalten, wie ihre profitable Ökonomie (als Quelle der Ausgaben für die nichtprofitablen Sektoren) floriert. Und das wiederum könne sie nicht ohne die Zug- und Druckkräfte von Konkurrenz und Profit.

Klein und Müller beziehen sich auf die von ihnen behaupteten Gegensätze zwischen der kapitalistischen Ökonomie und den anderen gesellschaftlichen Bereichen, nicht auf die Widersprüche in ihnen.[12]  Gesellschaftkritik ist etwas anderes als die Affirmation einer ‚guten’ Substanz und der Angriff auf den diese gute Substanz bloß äußerlich einschränkenden und entstellenden Feind. Kleins und Müllers Positionen erinnern an die in manchen ‚Marxismen’ verbreiteten Thesen von den „guten“ Produktivkräften und an die Auffassung, dass ihnen und dem „sachlichen oder gesellschaftlichen Naturell“ des Großbetriebs oder anderer Organisationen (z. B. Post) seitens der kapitalistischen Ökonomie Hemmnisse und Schranken auferlegt würden. Klein und Müller behalten die Argumentationsfigur bei und wechseln lediglich den Stoff, auf den sie sie anwenden. An die Stelle der Produktivkräfte und Organisationen tritt nun der Eigensinn der nicht direkt der kapitalistischen Ökonomie unterworfenen Bereiche. Systemtransformation erscheint dann als Expansion des Guten und als Schrumpfung des Schlechten.[13] Gesellschaftstheorie spielt demgegenüber weder die Einheit der Gesellschaftsformation[14] gegen die Unterschiede der Bereiche in ihr aus noch affirmiert sie umgekehrt naiv deren jeweiliges Selbstverständnis. Und Gesellschaftskritik verwechselt den „Doppelcharakter“ der gesellschaftlichen Arbeit nicht mit der „funktionalen Differenzierung“. Gegen Hoffnungslosigkeit hilft Wunschdenken genauso wenig wie trostlose Tröstung.  

Anmerkungen

[1] In vielen Artikeln von Michael Jäger, Redakteur der Zeitung ‚Freitag’, besetzen  die Kirchen mittlerweile den Platz des Hoffnungsträgers und geraten zu Adressaten jener Projektionen, die früher den Gewerkschaften und später den Grünen galten.

[2] Zu diesen Konflikten vgl. Creydt 2008.

[3] Baethge sieht „einen Kri­stal­lisationspunkt auch sozialer Identität und politischer Organisierung“ in der „moralischen Qualität der Arbeit – das meint die Berücksichtigung von Sinnbe­zügen, das Interesse am Erhalt der inneren und äußeren Natur und die Herstel­lung diskursiver Kommunikation in der Arbeit. ... Keine Belege, wohl aber erste Indizien, dass es dafür subjektive Voraussetzungen gibt, sind die Befunde über die beträchtliche ökologische Sensibilität von Arbeitern und von hochqua­lifizierten Industrieangestellten …  oder der Hinweis … über die Entstehung eines postkonventio­nellen Mo­ral­bewusstseins bei Facharbeitern. Gewiss ist dies noch eine arg schmale em­pi­ri­sche Basis, aber: was das Morgen ankündigt, kann heute ja kaum schon reprä­sen­tativ sein“ (Baethge 1994, 254).

[4] Vgl. dazu Creydt 2008. Einen anderen Diskussionsstrang bilden Überlegungen im Gefolge von Althussers Theorie der ‚ideologischen Staatsapparate (vgl. bspw. Charim 2002).

[5] Adorno, Theodor W. 1969: Tabus über den Lehrerberuf. In: Ders.: Stichworte. Kritische Modelle 2. Frankf. M.; Arbeitskreis Bildung 1978: Schule (I): Auslese. Kassel; Arbeitskreis Bildung 1978a: Wie man ein guter Lehrer wird (II). Kassel; Arbeitskreis Bildung 1979: Programmatische Erklärung des Arbeitskreis Bildung. In: Ders.: Bildung (Zeitung des AK Bildung) Nr. 5. Göttingen; Beck, Johannes 1994: Der Bildungswahn. Reinbek bei Hamburg; Fleischer, Axel 1980: Über das notwendige Scheitern herkömmlicher Schultheorien. Zum Zusammenhang von verfehlter Schultheorie und misslungener Schulpraxis. In: Randgänge der Pädagogik, Bd. 12. Marburg; Geissler, Karlheinz A. 1994: Vom Lebensberuf zur Erwerbskarriere. Erosionen im Bereich der beruflichen Bildung. In: Negt, Oskar (Hg.) Die zweite Gesellschaftsreform. Göttingen; Gruschka, Andreas 1994: Bürgerliche Kälte und Pädagogik. Moral in Gesellschaft und Erziehung. Darmstadt; Gutte, Rolf 1994: Lehrer – Ein Beruf auf dem Prüfstand. Reinbek bei Hamburg; Holzkamp, Klaus 1993: Lernen. Subjektwissenschaftliche Grundlegung. Frankf. M.; Huisken, Freerk 1991: Die Wissenschaft von der Erziehung. Hamburg; Huisken, Freerk 1992: Weder für die Schule noch fürs Leben. Hamburg; Lippe, Rudolf zur 1997: Adornos Pädagogik. Ein Gespräch mit Rudolf zur Lippe. In: Pädagogische Korrespondenz. Bd. 19. Münster; Waldrich, Hans-Peter 2007: Der Markt, der Mensch, die Schule. Köln.

[6] Bader; Kurt 1985: Viel Frust und wenig Hilfe. Die Entmystifizierung sozialer Arbeit. Weinheim; Ders. 1990: Methoden der Analyse Sozialer Arbeit. Weinheim

[7] Für diese Position gilt: „Kritisch gegen ihren Widerpart, verhielt sie sich unkritisch zu sich selbst“ (MEW 1, 384). „Nur wenn das Imaginäre gegen den Rest spricht, kann es ideologische Macht generieren“ (Haug 1993, 149).

[8] Müller spricht diesbezüglich von der „im modernen Wirtschaftsleben bereits angelegten Sollbruchstelle“ oder der „entscheidenden systemischen Differenz“ (Müller 2007a, 230).

[9] Vgl. zur Nennung der einschlägigen Literatur die Stichworte Recht, Sozialstaat, Staatstheorie und Kunst in Creydt 2001.

[10] Klein zufolge lässt sich der Kapitalismus „als Unterwerfung der Gesellschaft unter die Kapitalverwertung und als Zivilisationsgewinn zugleich definieren, als Kapitalherrschaft und demokratische, sozialstaatliche Begrenzung dieser Herrschaft“ (Klein 2000, 56).

[11] Müller will, dass „waren- oder industriewirtschaftliche Arbeit und alle sonstigen gesellschaftlich notwendige, nützliche und sinnvolle Arbeit als gleich wertbildend rangieren“ (Müller 2007a, 228). Ihm schwebt die „’Emanzipation der sozialwirtschaftlichen Dienste’ als ‚andere Hälfte der Wirtschaft’“ vor und „deren Entfaltung als gemeinwirtschaftliche ökonomische Form und als paritätisch wertbildende Wirtschaftsabteilung“ (Müller 2007, 55). 

[12] Im Unterschied zum Gegensatz enthält laut Hegel jeder Pol des Widerspruches dasjenige, wogegen er sich setzt bzw. wovon er sich absetzt, in sich selbst. Beim Gegensatz könnte noch das von Müller in seiner politischen Perspektive enthaltene Subtraktionsverfahren (Absprengen des negativen Pols) greifen, beim Widerspruch nicht.

[13] „Für Herrn Proudhon hat jede ökonomische Kategorie zwei Seiten, eine gute und eine schlechte. Er betrachtet die Kategorien, wie der Spießbürger die großen Männer der Geschichte betrachtet: Napoleon ist ein großer Mann, er hat viel Gutes getan, er hat auch viel Schlechtes getan. Die gute Seite und die schlechte Seite, der Vorteil und der Nachteil zusammengenommen bilden für Herrn Proudhon den Widerspruch in jeder ökonomischen Kategorie. Zu lösendes Problem: Die gute Seite bewahren und die schlechte beseitigen“ (MEW 4, 131. Vgl. a. MEW 4, 140).

[14] Die Gesellschaftsformation bildet die Gliederung  und Konstitutionsstruktur  des gesellschaftlichen   Ganzen.   Erst   dieser   Typ gesellschaftsformationsspezifischer  Differenzierung weist der  Ökonomie ebenso ihren Platz und ihre Wirksamkeit  zu wie allen anderen Ebenen  auch. Von der ‚Gesellschaftsformation’ her denkend wird es möglich, die Dichotomie zwischen Abhängigkeit und Autonomie der verschiedenen Bereiche zu durchgreifen.  „Diese ‚relative Unabhängigkeit’ begreifen  heißt ihre ‚Relativität’  bestimmen,  also  den Abhängigkeitstyp, der  gerade  diese Form  der  ‚relativen' Unabhängigkeit  als  Resultat  produziert  und   festlegt“ (Althusser 1972, 131). Das Politische hat in der  bürgerlichen  Gesellschaft einen ganz anderen Inhalt und eine andere Form als in  feudalen Gesellschaften (relative Autonomie des Politischen und seine Konzentration  i.U. zur feudalen Zersplitterung).

Literatur:

Althusser, Louis  (zus. mit E. Balibar u.a.) 1972: Das Kapital lesen. Reinbek bei Hamburg

Baethge, Martin 1994: Arbeit und Identität . In: Beck, Ulrich und Beck-Gernsheim, Elisabeth (Hg.): Riskante Freiheiten. Frankf. M.

Beck, Ulrich 1986: Die Risikogesellschaft. Frankf. M.

Charim, Isolde 2002: Der Althusser-Effekt. Entwurf einer Ideologie-Theorie. Wien

Creydt, Meinhard 2000: Theorie gesellschaftlicher Müdigkeit. Frankf. M.

Ders. 2001: Wissenschaft, die nicht denkt. In: Fachschaftsreferat des AstA FU Berlin (Hg.): Reader zum kritischen Hochschultag am 23.5.2001, S. 2 - 11 und 111ff.

Ders. 2001a: Zur Kritik feministischer Wirklichkeitskonstruktionen. In: Hintergrund 1/2001. Osnabrück

Ders. 2006: Selbstverantwortung als Ideologie. Die Medizin des Gesundheitswesens. In: Forum Wissenschaft 1/2006

Ders. 2007: Warum eigentlich Materialismus? In: Grundrisse (Wien) H. 22, 2007 und in: Sozialistische Hefte (Köln) H. 13, 2007.

Ders. 2008: Kritik an den Wissenschaften und den Inhalten professioneller Tätigkeiten. In: Utopie kreativ, H. 6

(Meine Texte finden sich im Netz unter www.meinhard-creydt.de)

Hardensett, Heinrich 1932: Der kapitalistische und der technische Mensch. München

Haug, Wolfgang Fritz 1993: Elemente einer Theorie des Ideologischen. Hamburg

Jänicke, Martin 1986: Staatsversagen. Die Ohnmacht der Politik in der Industriegesellschaft. München

Jungk, Robert 1963: Die Zukunft hat schon begonnen. Reinbek bei Hamburg

Klein, Dieter 2000: Die Linke und die Moderne. In: Z – Zeitschrift marxistische Erneuerung. 11.Jg, Bd. 44. Frankf. M.

Klein, Dieter 2006: Notwendigkeit und Möglichkeit sozialer Reformen im Kapitalismus –   und über ihn hinaus. In: Maurer, Ulrich; Modrow, Hans (Hg): Links oder lahm? Die neue Partei zwischen Auftrag und Anpassung. Berlin

Lenhardt, Gero 1984: Schule und bürokratische Rationalität. Frankf. M.

Luhmann, Niklas 1970 : Soziologische Aufklärung Bd. 1. Opladen

Müller, Horst 2007: Historische Schranken der Kapitalwirtschaft und konkrete Alternative. In: Sozialismus H. 2

Müller, Horst 2007a: Alternativkonzepte der politischen Ökonomie – Sozialismus des 21. Jahrhunderts ? In: Ders. (Hg.): Die Übergangsgesellschaft des 21. Jahrhunderts. Norderstedt

Schimank, Uwe, 1996: Theorien gesellschaftlicher Differenzierung. Opladen

Sennett, Richard 2008: Handwerk. Berlin

Ullrich, Otto 1979: Technik und Herrschaft. Frankf. M.

Willeke, Stefan 1995: Die Technokratiebewegung in Nordamerika und Deutschland zwischen den Weltkriegen. Frankf. M.

 

 

Editorische Anmerkungen

Wir erhielten den Artikel vom Autor zur weiteren Veröffentlichung. Erstveröffentlicht wurde er in: Marxistische Blätter H. 5/2010, 48. Jg., und in anderer Fassung im Sommer 2010 in ‚Sozialistische Positionen’, sowie auf seiner eigenen Homepage.