Habermas und die EU
Vom Abdanken kritischen Denkens

Besprechung von Frank Behrmann

01/12

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Rechtzeitig zur Euro-Krise kommt ein neuer Essay-Band von Jürgen Habermas auf den Markt, in dem er sich „zur Verfassung Europas“ äußert. Wer allerdings gehofft hat, es ginge hier um die aktuelle Krise, ihre Hintergründe und die verschiedenen Optionen, wie ihr zu begegnen sei, sieht sich getäuscht. Stattdessen erläutert Habermas seine fernab der politischen Wirklichkeit ersonnenen Ideen einer EU als Vorläufer und Vorbild „auf dem Weg zu einer politisch verfassten Weltgesellschaft“ (40). Dieses Utopia malt er in seinen völkerrechtlichen Details aus. „Das Ziel einer demokratischen Verfassung der Weltgesellschaft verlangt (...) die Konstituierung einer Weltbürgergemeinschaft.“ (86) Der Philosoph stellt sich genüsslich vor, wie z.B. ein Weltparlament arbeiten könnte. Die Ursachen der zahlreichen Widersprüche und Konkurrenzen, die zwischen Staaten, Kapitalfraktionen oder Konzernen bestehen und immer wieder in aller Schärfe ausgetragen werden, muss Habermas ausblenden, sonst würden seine Ideen wie unausgegorene Albernheiten wirken.

„Wie heute schon in der EU würden sich dann in der Weltgemeinschaft (wenn auch in anderen Zeithorizonten) die Gerechtigkeitsperspektiven der beiden verfassunggebenden Subjekte – die egalitären Maßstäbe der Weltbürger und die konservativen, einstweilen nach Entwicklungsstand differenzierten Maßstäbe der Mitgliedstaaten – im Zuge der politisch gewollten faktischen Angleichung der Lebensverhältnisse einander annähern.“ (96) Dass in der EU zur Zeit die Folgen des geraden Gegenteils einer Angleichung der Lebensverhältnisse in der großen Schuldenkrise ihren hochexplosiven Ausdruck finden, hätte den Meisterphilosophen zu einem nochmaligen Überdenken dieser Thesen bewegen müssen. Er hätte dann – wenn er an seinem weltgesellschaftlichen Idyll festhalten wollte – zu der Schlussfolgerung gelangen müssen, dass all dies nicht ohne eine Umwälzung der ökonomischen und politischen Verhältnisse möglich werden könnte. Aber Habermas ignoriert diese Problematik.

Der Bundesregierung wird nicht etwa vorgeworfen, mittels einer erzwungenen vertieften „europäischen Integration“ ihre Dominanz in der EU ausbauen zu wollen, sondern im Gegenteil, zu wenig für ein „gemeinsames Europa“ unternommen zu haben: „Die deutsche Bundesregierung ist zum Beschleuniger einer europaweiten Entsolidarisierung geworden, weil sie zu lange die Augen vor dem einzigen konstruktiven Ausweg verschlossen hat, den sogar die Frankfurter Allgemeine Zeitung inzwischen mit der lakonischen Formel ´Mehr Europa´ umschreibt.“ (41)
Habermas hält sich zwar für einen Kritiker hegemonialer Politik, bläst aber letztlich ins gleiche Horn wie die deutsche Außenpolitik. Folgende Sätze könnten genau so gut von Wolfgang Schäuble stammen: „Die Europäische Union kann sich gegenüber der Finanzspekulation nur behaupten, so die einhellige Analyse, wenn sie die politischen Steuerungskompetenzen erhält, die erforderlich sind, um wenigstens in Kerneuropa, also zwischen den Mitgliedern der Europäischen Währungsgemeinschaft, mittelfristig für eine Konvergenz der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklungen in den Mitgliedsländern zu sorgen. (...) Die Konsequenz einer gemeinsamen ´Wirtschaftsregierung`, zu der sich nun auch die deutsche Bundesregierung bequemt, würde bedeuten, dass sich die zentrale Förderung der Wettbewerbsfähigkeit aller Mitgliedstaaten weit über die Finanz- und Wirtschaftspolitiken hinaus auf die nationalen Haushalte insgesamt erstrecken und damit tief in die Herzkammer der nationalen Parlamente eindringen würde.“ (80)
Wo Habermas von gleichem sozialen Lebensstandard aller EU-Mitgliedsländer ausgeht und dabei an eine Verbesserung in den sozial schwachen Ländern denkt, meint Schäuble mit „Konvergenz“ allerdings das gerade Gegenteil: radikalen Sozialabbau auf ein gemeinsames Minimalniveau. Habermas übersieht die Brisanz, die in der Phrase von einem „vertieften Europa“ steckt. (In den angehängten Artiken, die zwischen 2008 und 2011 in verschiedenen Zeitungen veröffentlicht wurden, äußert er sich der deutschen Politik gegenüber übrigens deutlich kritischer.)

Habermas schwankt zwischen Kritik an Fehlentwicklungen, die er nicht als symptomatisch für das Ganze wahrnimmt, und der Falscheinschätzung der EU als eines Europas für alle und nicht als eines kapitalistischen Bündnisses zur effektiveren Durchsetzung politischer Ziele der europäischen Staaten und wirtschaftlicher Interessen ihrer Konzerne in der Welt. Diese ambivalente Haltung der EU-Politik gegenüber ist auch charakteristisch für einen Vortrag, den Habermas im April letzten Jahres hielt. Auf der einen Seite erkennt er an, dass der „europäische Einigungsprozess (...) immer schon über die Köpfe der Bevölkerung hinweg betrieben worden ist“ und dass sich die deutsche Europapolitik „immer stärker auf einen unverhohlenen Führungsanspruch eines ´europäischen Deutschlands in einem deutsch geprägten Europa´“ zuspitze. Andererseits spricht er wiederum von einer „überfälligen Koordinierung der Wirtschaftspolitiken in den beteiligten Mitgliedstaaten“. Er übersieht erneut, dass genau das Angela Merkels Ziel ist. Nur, dass die dabei an keinerlei Gleichberechtigung der Partner oder demokratische Beteiligung der BürgerInnen denkt.
Habermas ist nicht nur überzeugter Europäer, sondern auch Sozialdemokrat. Und so strebt bei ihm die deutsche Europapolitik erst mit Regierungsantritt von „Europaskeptiker“ Merkel nach Dominanz. „Die nationale Einigung hat in Deutschland einen Mentalitätswandel in Gang gesetzt, der (...) auch das Selbstverständnis und die Orientierung der deutschen Außenpolitik erfasst und in Richtung einer stärkeren Selbstinszenierung verändert hat. Seit den 90er Jahren wächst allmählich das Selbstbewusstsein einer militärisch gestützten ´Mittelmacht´, die als Spieler auf weltpolitischer Bühne agiert. (...) Der Wandel zeigt sich insbesondere seit dem Regierungswechsel von 2005 auch in der Europapolitik.“ (Herv. F.B.)

Dass aber die bundesdeutsche Europapolitik von Beginn an auf die Gewinnung von möglichst viel Einfluss zielte, sollte nicht vergessen werden. Nach und nach wurde das Bestreben, international nach dem verlorenen Weltkrieg überhaupt wieder Gehör zu finden, von dem Wunsch abgelöst, in der Weltpolitik mitmischen zu dürfen, bis hin zu dem heutigen Zustand einer EU, die bereits zu einer Weltmacht unter deutsch-französischer Führung geworden ist (siehe z.B.: www.nadir.org/nadir/initiativ/agr/Mitteleuropastrategien.html ). Diese nachweisbaren Zusammenhänge kleistert Habermas mit seinem Europa-Idealismus zu.

Seine überraschend unkritische Haltung zur EU oder zu Kerneuropa-Konzepten vertritt Habermas schon länger. Vor neun Jahren rührte er in der FAZ gemeinsam mit Jacques Derrida die Werbetrommel für einen um Deutschland und Frankreich gruppierten „Staat Europa“. Die EU leide darunter, dass einzelne Staaten gemeinschaftliche Entscheidungen blockieren könnten. Es sollten sich jene „Nationen, die eine Vertiefung der EU wirklich wollen“ zu einem „avantgardistische(n) Kerneuropa“ zusammentun, um „mit einer gemeinsamen Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik den Anfang zu machen“. Von dieser „Lokomotive“ der EU werde eine „Sogwirkung ausgehen, der sich die anderen Mitglieder - zunächst in der Eurozone - nicht auf Dauer werden entziehen können“. Anders gesagt, die Partner würden in die vertiefte EU hineingezwungen. Künftig könnten dann „überstimmte Minderheiten von der Obstruktion eines Mehrheitswillens“ abgehalten werden.

Wahrscheinlich entgegen ihren eigenen Überzeugungen macht diese Argumentation die beiden zu unfreiwilligen Anwälten des deutsch-französischen Vormachtstrebens. Was sie damals lieber nicht erörterten, war die Frage, wer denn in einem so skizzierten Europa das Sagen hätte oder an wessen (Klassen-) Interessen Ökonomie und Politik ausgerichtet wären. Dann nämlich läse sich ihre „Vision“ des neuen Europas schon viel weniger idyllisch.

Dennoch ist Habermas kein Anhänger einer aggressiven Großmachtpolitik. Ganz anders als z.B. der neulich auf diesen Seiten rezensierte Eberhard Sandschneider, der sich für eine Effektivierung der deutschen Außenpolitik einsetzt. Habermas wird immer noch durch einen humanistischen Impuls angetrieben; er biegt sich aber die Realtitäten in der EU zurecht oder ignoriert sie gleich ganz. Machtorientierte Politikberatung auf der einen, Idealisierung der EU auf der anderen Seite sind die zwei Pole zwischen denen sich die gegenwärtigen Debatten um die Weiterentwicklung der EU bewegen. Niemand sagt in der Öffentlichkeit „nein“ zur Ausweitung deutschen Einflusses in und mittels der EU.

Wenn schon ein linksliberaler Philosoph wie Jürgen Habermas in solche Apologien der deutschen Außenpolitik verfällt, ist das ein deutliches Zeichen, dass eine grundsätzliche, an den Interessen der arbeitenden Bevölkerung der EU-Staaten oder an antiimperialistischen Aspekten orientierte Kritik an der deutschen EU-Politik kaum verbreitet ist und über keinerlei Schlagkraft verfügt. Das ist es, was sich dringend ändern muss!

Jürgen Habermas
Zur Verfassung Europas

Ein Essay
edition suhrkamp,
Berlin 2011, 130 S., 14 Euro

Außerdem:

Jürgen Habermas
Ein Pakt für oder gegen Europa?
Vortrag am 6.4.11, European Council on Foreign Relations und Stiftung Mercator


Jacques Derrida und Jürgen Habermas
Unsere Erneuerung. Nach dem Krieg: Die Wiedergeburt Europas
FAZ vom 31.5.03