„Das Haus war eine Station der
städtischen Polizei, die wir uns zurückgeholt haben. Wir
müssten 39 Polizisten hier rausholen“. Diese Szene hört an,
als wäre sie in einem Land im Bürgerkrieg geschehen.
Abgespielt hat sie sich aber im Stadtteil 23 Januar in der
venezolanischen Hauptstadt Caracas im Jahr 2005. Dabei ist
kein Schuss gefallen, die Polizisten haben gemerkt, dass die
politische Situation ihnen keine andere Wahl lässt, als sich
den linken Stadtteilaktivisten zu beugen. Allerdings hätten
sie noch gedroht, dass sie wiederkommen, wenn Chavez gestürzt
sein wird. Darüber berichtet Guadalup Rodriguez, eine der
Organisatorin der linken Stadtteilgruppen. Sie berichtet
darüber in dem kürzlich im Pahl-Rugenstein-Verlag erschienenem
Buch „Wir haben keine Angst mehr“. Der Hauptteil besteht aus
Gesprächen, die der Publizist Helge Buttkereit mit 10
Aktivisten der bolivarischen Revolution in Venezuela führt.
Neben Stadtteilaktivisten sind Gewerkschafter in
selbstverwalteten Betrieben, Hausbesetzern, einen
bolivarischen Beamten und einem Mitglied des Zentralkomitees
der Kommunistischen Partei Venezuelas geführt hat. So
unterschiedlich die Gesprächspartner auch sind, so kann man
sie als Basisaktivisten bezeichnet, die oft schon vor den
Regierungsantritt von Chavez in linken Gruppen aktiv waren und
verfolgt wurden. Der Autor vermittelt mit den Gesprächen einen
Einblick in die Arbeit und die Diskussionen dieser linken
Basisbewegung, die keineswegs unkritisch Regierungsparolen
nachbeten. Fast alle Gesprächspartner klagen über die
bolivarische Bürokratie, die viele Basisinitiativen hemmt.
Gustavo Martinez von der Kaffeefabrik „Fama de America“ ist
gar der Meinung: „Die Rechte ist geschwächt, hat keine
Projekte, kein Fundament. Die Bürokratie ist der Feind, den
wir besiegen müssen.“
Aber auch das mangelnde Interesse
von Stadtbewohnern, sich in den Basisbewegungen zu engagieren,
wird beklagt. „Der Staat will Wohnungsprogramme aufleben. Aber
das Problem ist das Gemeinschaftsgefühl, das fehlt“,
beschreiben Omaira Roa und Dalio Maggi die Situation in einen
Stadtteil von Caracas. Auch Martinez klagt über fehlendes
Bewusstsein vor allem bei langjährigen Beschäftigten in der
Kaffeefabrik. Er moniert auch, dass nach dem Putschversuch
gegen Chavez im Jahr 2002 der „große Sprung nach vorn“
ausgeblieben und nimmt dabei auch den Präsidenten aus der
Kritik nicht aus, der damals zu nationaler Versöhnung
aufgerufen habe. Wie tief der Riss auch in der
Regierungspartei sein muss, zeigt sich daran, dass bei dem
Räumungsversuch einer von Arbeitern besetzen Fabrik für
Autoglas, für den ein Gouverneur der Regierungspartei
verantwortlich war, zwei Arbeiter getötet wurden. Für den
linken Aktivisten Juan Contreras ist Cuba, das er in den 90er
Jahren mit weiteren linken Stadtteilaktivisten aus dem Barrio
23 Januar an Solidaritätsbrigaden in Kuba teilgenommen hat,
ist das Land auch heute für Venezuela noch immer ein Vorbild.
Seine Motivation zu den Brigaden beschreibt er so: „Wir sind
aus einer solidarischen Geste für die kubanische Bevölkerung
dort hingefahren“. Bezogen auf Venezuelas Weg zum Sozialismus
sagt er: „Ich glaube, es ist ein Problem aller Venezolaner und
wenn wir es in Kuba geschafft haben, warum sollen wir es nicht
auch in unserem eigenen Land schaffen“. Es gibt allerdings
auch befremdliche Töne von einigen Interviewpartner: So hätte
man sich eine kritische Nachfrage des Autors gewünscht, wenn
drei Stadtteilaktivisten des Barrios Sententa sagen, dass man
nicht erlauben kann, dass „Menschen mit schlechten Benehmen“
in die Gemeinschaft zieht. Was ist damit gemeint und wie
erkennt man das, wäre da sofort meine Anschlussfrage, die aber
leider nicht gestellt wurde. Die gleichen Stadtteilaktivisten
haben zuvor schon den venezolanischen Diktator Manuel Jimenez
gelobt, weil der angeblich Häuser für die Armen bauen wollte
und Chavez diese Arbeit jetzt fortsetzt. Tatsächlich aber war
Jimenez ein rechter Politiker, der den Stadtteil 23 Januar für
Regierungsbeamte bauen wollte. Nach seinem Sturz, der
wesentlich durch den Aufstand der armen Bevölkerung von
Caracas vorangetrieben wurde, besetzten diese dann die gerade
fertiggestellten Häuser und blieben drin. Dadurch entstand in
dem Barrio auch früh eine linke Selbstorganisation, die heute
ein wichtiger Träger der bolivarischen Basisbewegung geworden
ist. Warum aber dort jetzt einige Jimenez zu einen frühen
Chavez aufbauen wollen, wäre sicher eine Nachfrage Wert
gewesen.
Das Buch liefert einen ehrlichen,
ungeschminkten Blick auf Debatten in den venezolanischen
Basisbewegungen. In einen Kapitel setzt sich Buttkereit
kritisch mit aktuellen Texten auseinander, in denen sich die
bekannt lateinamerikanischen Linksintellektuellen Marta
Harnecker und Michael Lebowitz mit sozialistischen
Perspektiven auseinander. Leider sind diese Texte noch nichts
ins Deutsche übersetzt. Ein Interview mit Aktivisten der
Gruppe Interbrigadas, die seit Jahren Bildungs- und
Kulturarbeit in Venezuela leisten und Buttkereit bei seiner
Recherche in Venezuela unterstützten, schließt das Buch ab.
Interessant ist übrigens die Entstehung der Gruppe, die ein
Mitbegründer schildert. Als links anpolitisierte Schüler
hätten sie auf einem trotzkistischen Jugendcamp in Frankreich
erstmals von dem politischen Prozess in Venezuela erfahren,
sich danach gezielt Informationsveranstaltungen zu dem Thema
in Berlin rausgesucht und seien dabei auf auch eine von Dario
Azzellini besucht, der ihnen weitere Einblicke in die Thematik
verschaffte. Womit auch gleich ein Beweis erbracht wird, wie
Bücher und Vorträge zur Politisierung beitragen. Das
besprochene Buch wird da keine Ausnahme sein. Wer sich einen
gut lesbaren Überblick über die linke Basisbewegung in
Venezuela verschaffen will, sollte es lesen. Ein Glossar klärt
über einige Organisationen im heutigen Venezuela auf, die in
dem Buch erwähnt werden. Wer tiefer in die Thematik einsteigen
will, findet mit der kommentieren Literaturliste des Autors
gute Lesehinweise.
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Helge Buttkereit
Wir haben keine Angst mehr
Interviews, Reportagen und Analysen zum bolivarischen
Venezuela
Pahl-Rugenstein-Verlag, 2011
170 Seiten, 14,90 Euro
ISBN 978-3-89144-448-1
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