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iz3w Nr. 328 (Januar/Februar 2012)
 

Schwerpunkt:
Legalize it – der Krieg gegen Drogen ist gescheitert


Leseauszüge

01/12

trend
onlinezeitung

Entwicklungspolitik

»In Menschen investieren« – mit diesen Worten fordert die Genossenschaft Oikocredit AnlegerInnen auf, ihr Geld zugunsten von Mikrokrediten »ethisch« anzulegen. Mit diesen Kleinstkrediten sollen Einzelpersonen in Entwicklungsländern befähigt werden, unternehmerisch tätig zu werden. Die entwicklungspolitische Szene feierte Mikrokredite als Erfolgsmodell zum Empowerment der Armen. Längst sind nicht mehr nur NGOs und Entwicklungsagenturen in der Mikrofinanz tätig, sondern auch Banken wie die Deutsche Bank und die GLS-Bank.
Einer der bislang wenigen KritikerInnen der Mikrofinanzindustrie im deutschsprachigen Raum ist der Journalist Gerhard Klas. Er veröffentlichte im Oktober 2011 das Buch »Die Mikrofinanz-Industrie. Die große Illusion oder das Geschäft mit der Armut« (siehe Rezension in iz3w 327). Anlässlich seiner Buchpräsentation in Freiburg fragten wir nach den Gründen für seine Kritik.


Entwicklungspolitik: »Schmutziges Wasser für Verdurstende« .
Interview mit Gerhard Klas über seine Kritik an Mikrokrediten



iz3w: Was war für Sie der entscheidende Moment, der Mikrofinanzindustrie auf den Grund zu gehen?

Gerhard Klas: Als Muhammad Yunus, der Gründer der Grameen Bank, 2006 den Friedensnobelpreis erhielt, da jubelte eine interessante Allianz von Bankvorständen, Großkonzernen, AgentInnen der Entwicklungspolitik bis hin zu NGOs. Im Jahr darauf erfuhr ich von einer Frauenorganisation im indischen Bundesstaat Andhra Pradesh, dass sich dort ein halbes Jahr zuvor eine soziale Krise der Überschuldung ereignet hatte, als Folge der Mikrokredite. Das wurde damals aber nur in der indischen Öffentlichkeit thematisiert. Es gab mehrere Selbstmordfälle, dennoch stand die Nobelpreisverleihung an Yunus nicht in einem schlechten Licht. Gleichzeitig erlebte die Mikrofinanzindustrie gerade in Indien einen neuen Boom.
Anfang 2010 reiste ich nach Bangladesch, in die Wiege der Mikrofinanz, wo mit rund 30 Millionen Menschen ein Fünftel vor allem der weiblichen Bevölkerung bei einem oder mehr Mikrofinanzinstituten (MFI) verschuldet ist. Hier habe ich mit Frauen- und Kleinbauernorganisationen, kritischen ÖkonomInnen, der Direktorin der staatlichen Aufsichtsbehörde und ehemaligen MitarbeiterInnen der Grameen Bank über Mikrokredite gesprochen. Das Ergebnis war ernüchternd. Ein Radiofeature, das nach dieser Recherchereise entstanden war, löste viel positive und negative Resonanz aus. Anhänger der Mikrofinanz kritisierten den Beitrag, von Oikocredit bis hin zu ehemaligen Staatssekretären des BMZ. PrivatanlegerInnen, die ihr Geld Mikrofinanzprojekten zur Verfügung gestellt hatten, waren verunsichert. So entschloss ich mich, ein Buch über den Widerspruch zwischen der behaupteten Armutsbekämpfung und der tatsächlichen Überschuldung vieler Frauen durch die Mikrofinanz zu schreiben.

Wie sehen die Realitäten in Bangladesch aus?

Die behaupteten Segnungen gründen hauptsächlich auf der hohen Rückzahlquote, die als Beleg auch für die soziale Wirksamkeit der Mikrokredite angeführt wird. Eine Frage wird dabei ausgeklammert: Wie sind die SchuldnerInnen in der Lage, Kredite zu 20 Prozent Jahreszins und mehr zurückzuzahlen? Welche Konsequenzen hat das für sie und ihre Familien? In Bangladesch und in Andhra Pradesh gibt es mehr MFI als sonst irgendwo, es herrscht große Konkurrenz. Hier gehen viele Frauen, die eine Rate nicht mehr zahlen können, zum nächsten Anbieter und erhalten einen neuen Kredit. In Bangladesch sind siebzig Prozent der Frauen bei mehreren MFI verschuldet.

Sind das privatwirtschaftliche Anbieter oder öffentliche Institutionen?

Viele MFI haben sich anfangs mit den Geldern von institutionellen oder nichtkommerziellen Investoren finanziert, z.B. der Weltbank und Oikocredit. Später, als diese MFI dann den von den Investoren geforderten Beweis der finanziellen Nachhaltigkeit erbracht hatten, sind kommerzielle Investoren eingestiegen. Letztere wollen vor allem für ihre AnlegerInnen eine gute Rendite erwirtschaften. Grundlage dafür ist, dass die MFI ohne Zuschüsse und Subventionen einen Profit erwirtschaften können. Das entspricht dem Leitmotto der Weltbank, die Privatwirtschaft könne auch mit den Ressourcen der Armen Gewinne erzielen. Es gibt zahlreiche Fonds zur Finanzierung von Mikrofinanzinstitutionen, die vor allem in Luxemburg und der Schweiz notiert sind. An den Fonds sind zum Beispiel die Deutsche Bank, Credit Suisse, BNP Paribas, die ehemalige britische Kolonialbank Standard-Chartered, aber auch die katholische Pax-Bank beteiligt.

Wie kommen die hohen Zinssätze zustande?

In Südasien müssen MFI zirka zwölf Prozent Zinsen zahlen, wenn sie sich Kapital bei kommerziellen Banken beschaffen – oder sie bedienen sich auf den internationalen Finanzmärkten und müssen die bisweilen zweistelligen Renditeerwartungen der Anleger erfüllen. Zinsen und Profite müssen ebenso wie die Inflation von derzeit mehr als acht Prozent irgendwie erwirtschaftet werden. Und die MFI haben relativ hohe Kosten, weil viele kleinteilige Kredite einen höheren administrativen Aufwand darstellen als ein großer Kredit. Aus Perspektive der MFI ist ein Zinssatz von 20 Prozent gerade kostendeckend, meist liegen die Zinsen für die EndkreditnehmerIn weit darüber. Für sie sind diese hohen Zinsen eine Belastung. So viel Geld kann nur in Ausnahmen und in wenigen Sektoren erwirtschaftet werden, z.B. im Einzelhandel. Oder von Frauen, die das Geld zu noch höheren Zinsen weiter verleihen – was zunehmend der Fall ist.

Sie sprechen mit größter Selbstverständlichkeit von »Frauen« – sind sie die bevorzugte Zielgruppe der MFI?
Es gibt sehr unterschiedliche Modelle, das dominante Modell ist nach wie vor das der Grameen Bank. Sie verleiht vor allem Geld an Frauengruppen beziehungsweise an einzelne Frauen, die ihre Kreditwürdigkeit durch die Mitgliedschaft in der Gruppe beweisen müssen. Sowohl die Frauenrechtlerin Farida Akther, aber auch SoziologInnen und AnthropologInnen sagen, es gehe nicht um die so gerne betonte Emanzipation der Frauen. Kredite würden bevorzugt an Frauen vergeben, weil sie sich viel stärker für die Familie verantwortlich fühlten, sie weniger mobil seien und dafür besser greifbar, um die Raten einzutreiben.
Die nordamerikanische Anthropologin Lamia Karim sagt, die Mikrofinanz sei eine »Ökonomie der Beschämung«. Die Frauen wachsen im Dorf auf, das ist ihr sozialer Referenzrahmen. Würde spielt hier eine ungeheuer wichtige Rolle. Die Frauen, die nicht zurückzahlen können, werden von den Mitarbeitern der MFI – in Südasien fast ausschließlich Männern – beleidigt und beschämt, zum Teil aber auch von anderen Frauen, mit denen sie in einer so genannten Selbsthilfegruppe organisiert sind. Und das erzeugt den viel zitierten »sozialen Druck«, die Raten zurückzuzahlen. So fährt z.B. die ganze Belegschaft einer Grameen Bank Filiale mit ihren Zweirädern vor die Häuser säumiger Schuldnerinnen und belagert sie, bis die Rate gezahlt ist. In Indien wurden Frauen gar zur Prostitution aufgefordert, um Raten zurückzuzahlen.

Wie kommt es zu der oft angeführten Schuldenspirale durch Mikrokredite?

Alle Modelle der MFI gehen davon aus, dass die Lebensumstände und Marktbedingungen immer gleich bleiben. Krankheiten, Katastrophen, Wirtschaftskrisen oder Unfälle werden nicht einkalkuliert. Sobald nur einer dieser Fälle eintritt, gerät das gesamte System ins Wanken. Wenn z.B. jemand erkrankt, liegen die Prioritäten des Familienhaushaltes bei der Behandlung. Oft bleibt dann kein Geld übrig. Hier fängt die Spirale an: Irgendwo müssen die KreditnehmerInnen Geld für die Raten auftreiben. Sie fragen Nachbarn, die Familie oder Freunde. Dazu werden sie von den MitarbeiterInnen der MFI regelrecht angehalten. Irgendwann sind auch diese Geldquellen erschöpft. Der nächste Schritt ist der Gang zu einer weiteren MFI. Der übernächste Schritt, der auch den Verlautbarungen von Yunus widerspricht, ist der Gang zu den lokalen Geldverleihern. Sie nehmen Zinsen von bis zu 100 Prozent. Später schicken die Frauen ihre Kinder zur Arbeit statt zur Schule, verpachten oder verkaufen kleinere Ländereien, den Haushalt oder gar ihr Haus.

In der entwicklungspolitischen Debatte ist ein Argument für die Vergabe von Mikrokrediten die Stärkung der Schwächsten und die Ermächtigung von Frauen. Ihre Berichte widersprechen dem.
Die Mikrofinanz schwächt das Prinzip der gegenseitigen Hilfe und Solidarität, das innerhalb der Kasten und Klassen in vielen Dörfern das Leben prägte. Heute hat eine Frau, die Mitglied in einer Gruppe ist, nicht selten Angst davor, dass die anderen von der Krankheit eines Familienmitgliedes erfahren, weil sie vielleicht die nächste Rate nicht zurückzahlen kann – und dann würde die ganze Gruppe als »kreditunwürdig« eingestuft und von den Geldeintreibern der MFI unter Druck gesetzt.

Ist das von der Mikrofinanz propagierte Bild der armen Kleinbäuerin, die zur erfolgreichen Unternehmerin wird, reine Propaganda?

Nehmen wir an, die Kreditnehmerin pachtet von ihrem Kredit in Höhe von vielleicht 40 bis 100 Euro ein Stück Land, um Nahrungsmittel anzubauen und diese auf dem Markt zu verkaufen. Es dauert mindestens drei Monate, bis sie eine Ernte verkaufen kann. Die Ratenzahlungen beginnen in der Regel eine Woche nach Aufnahme des Kredits. Eine sofortige Rückzahlung der Raten ist illusorisch, die meisten sind hierzu nicht in der Lage. Für die Landwirtschaft ist dieses dominante Modell der Grameen Bank ungeeignet.

Gibt es auch Erfolge der Mikrofinanz?
Einzelbeispiele, die den vermeintlichen Erfolg beweisen sollen, werden in Hochglanzbroschüren vervielfältigt. Doch die sind nicht repräsentativ. Anu Muhammad, wie Muhammad Yunus ein Ökonom aus Bangladesch, spricht von fünf bis zehn Prozent, die mit Hilfe von Minikrediten den Sprung aus der Armut schaffen. Bei weiteren 40 stagniert die Situation, die restlichen 50 Prozent stürzen noch tiefer in die Armut.

Wer dank Mikrokredit ein Kleinunternehmen gründet wie etwa eine Schneiderei, braucht entsprechende Nachfrage. Wie sinnvoll ist diese Inflation der Ich-AGs?

Der Vergabe von Mikrokrediten geht in der Regel keine Situationsanalyse der dörflichen Strukturen voraus. Möglicherweise wird die zehnte Nähmaschine in einem Dorf mit tausend EinwohnerInnen finanziert. Auch die Frage der Verdrängung von älteren Betrieben durch MFI-Projekte ist bisher nicht untersucht worden. Man kann deshalb nicht voraussetzen, dass Mikrofinanz die wirtschaftliche Entwicklung lokaler Strukturen unterstützt.

Wie ist die große Nachfrage nach Mikrokrediten angesichts der inzwischen durchaus bekannten Leidensgeschichten zu erklären? Welche Rolle spielen NGOs?

In Bangladesch gibt es kaum noch NGOs, die nicht auch Mikrokredite vergeben. Es sind weit über tausend. Achtzig Prozent des Marktes werden jedoch von den drei großen Banken abgedeckt, der Grameen Bank, BRAC und ASA. Letztere fingen als NGOs an, gefördert mit entwicklungspolitischen Geldern aus dem Westen. Die Nachfrage nach Mikrokrediten hängt indirekt mit den Strukturanpassungsprogrammen (SAP) der 1980er und 1990er Jahre zusammen. Mit den SAPs sollte der Staatshaushalt eingedampft werden, dafür wurden öffentliche Einrichtungen der Daseinsvorsorge etwa im Bildungs- und Gesundheitssektor privatisiert oder mit hohen Gebühren belegt. Die Menschen brauchen also Geld, wenn sie diese Leistungen in Anspruch nehmen wollen.
Zweitens haben die industrielle Landwirtschaft und die Marktöffnung für Agrarimporte viele Bauern und Bäuerinnen in die Knie gezwungen. Vor allem verschuldete Bauern haben ihrerseits die Subsistenzwirtschaft zugunsten des Anbaus von monokulturellen Cashcrops für den Export aufgegeben. Die Preisvolatilität ist jedoch hoch, und die Landwirte können das Geld, das sie zum Überleben brauchen, nicht mehr erwirtschaften. Ihr Bedarf an Bargeld, um die lebensnotwendigen Grundlagen zu finanzieren, ist also enorm gewachsen, bedenkt man, dass die Armen zwischen 60 und 80 Prozent ihres Geldes allein für Lebensmittel ausgeben müssen, wenn sie nicht auf irgendeine Art von Teilsubsistenz zurückgreifen können. Der Mikrofinanzexperte Malcolm Harper, einer der wenigen Kritiker, der selber in der Branche tätig ist, sagte: »Es ist, als würde man schmutziges Wasser an Verdurstende verkaufen«.
Zudem sind Mikrokredite integraler Bestandteil der Monetarisierung und Privatisierung vormals öffentlicher Dienstleistungen. Diese gewollte Entwicklung hat in der Fachwelt den euphemistischen Namen »Financial Inclusion«. Problematisiert wird die Tatsache, dass Arme keinen Zugang zu Bankkonten haben. Ziel ist, diese Leute in den Finanzmarkt und in den globalen Geldfluss zu integrieren. So werden Gesellschaftsstrukturen, die teils auf Tausch und Subsistenz beruhen, marktwirtschaftlich durchdrungen, auch um Absatzmärkte für westliche Konzerne zu schaffen. Ein Beispiel ist Grameen Phone, das inzwischen umsatzstärkste Telefonunternehmen in Bangladesch, das für den norwegischen Telekommunikationskonzern Telenor Profite erwirtschaftet. Die so genannten ‚Grameenfrauen’ haben sich mit Hilfe von Mikrokrediten Handys von Nokia beschafft, um dann Telefoneinheiten an Frauen im Dorf weiter zu verkaufen. Heute, nach nur wenigen Jahren, gibt es kaum noch ‚Grameen-Ladies’, weil immer mehr Menschen in Bangladesch selbst ein Handy besitzen. Die Mikrofinanz schafft Absatzmärkte, von denen große westliche Konzerne profitieren.

Das klingt ein wenig nach Masterplan – als seien Mikrokredite ein instrumentelles Werkzeug, um die Interessen des Nordens zu befriedigen. Das Konzept kommt aber aus Bangladesch, und Yunus vertritt nicht die Interessen der Deutschen Bank.

Das stimmt. Doch der mögliche Profit ist eine Motivation, warum an der Mikrofinanz festgehalten wird, obwohl ihre Erfolge bei der so genannten Armutsbekämpfung nicht nachweisbar sind. Selbst viele Apologeten müssen dies eingestehen. Es gibt auch eine ideologische Komponente: Der Kapitalismus ist in den 1990er Jahren global geworden. Da war ein Konzept willkommen, das unter Beweis stellen sollte, dass auch die Armen vom Kapitalismus profitieren können. Tatsächlich verdeckt die Mikrofinanz mit ihrem Ansatz die strukturellen Ursachen der Armut. Es wird so getan, als ob jeder der Armut entfliehen kann, wenn er oder sie sich nur auf die Spielregeln der Marktwirtschaft einlässt.

Gibt es konkrete Alternativen zur Mikrofinanz?

Wenn man diese Geldquellen einfach wegnimmt, ist den Armen unter den jetzigen Bedingungen nicht geholfen. Sie brauchen Geld für medizinische Versorgung, Bildung und Lebensmittel. Nach der Krise in Indien gibt es jetzt den Vorschlag, mit Mikroversicherungen, Sparkrediten und Kreditinformationsbüros das Problem der Verschuldung zu lösen. Miniversicherungen und Sparprogramme verursachen für die Schuldnerin jedoch zusätzliche Kosten, wenn etwa wöchentlich ein Spargroschen oder Beiträge zu entrichten sind, die im Fall der Rückzahlungsunfähigkeit als Sicherheit verwendet werden. Kreditinformationsbüros sind problematisch, denn sie sollen die Kreditwürdigkeit beurteilen. Überschuldung ist jedoch ein wesentliches Merkmal der Verarmung. Es würden dann ausgerechnet die Ärmsten ausgeschlossen, denen doch mit der Mikrofinanz geholfen werden sollte.

Ein Kreditinformationsbüro ist also kein Verbraucherschutz, sondern vergleichbar mit der Schufa?

Genau. Die Kreditinformationsbüros dienen der Risikoabsicherung der MFI, sie arbeiten nicht im Sinne der Kreditnehmerinnen. Geeigneter wären Zinsobergrenzen oder auch Direktsubventionen für die Kreditnehmerinnen statt günstige Anschubfinanzierungen für die MFIs. Weltbank und die Kreditanstalt für Wiederaufbau lehnen das als Wettbewerbsverzerrung einhellig ab und sagen, das widerspreche dem Konzept des nachhaltigen Wirtschaftens.
Unmittelbare staatliche Regulierungen sind höchstens eine kurz- bis mittelfristige Strategie, um die schlimmsten Auswirkungen der Mikrofinanz abzudämpfen. Erst wenn man das Wort »Kredit« durch »Schulden« ersetzt, nimmt man tatsächlich die Perspektive der SchuldnerInnen ein. Dann wird die Absurdität des Ganzen deutlich. Wie soll man sich mit Schulden und hohen Zinssätzen selbst aus Armut befreien? Seriöse Alternativen hingegen beinhalten immer ein Element der Umverteilung des akkumulierten Reichtums an die Armen.

Manche KritikerInnen betrachten die Mikrofinanz als modernes Modell der Kolonialisierung. Romantisieren sie nicht das Lokale, die Subsistenz und die traditionellen sozialen Beziehungen und zeichnen dabei ein Zerrbild des internationalen Finanzkapitals?

Profiteure der MFI, die sich auf Kosten der Armen bereichern, gibt es überall. Das zeigt das Beispiel der Grameen Bank. Wenn die Mittel- und Oberschicht in Bangladesch ihr Geld hier investiert, erhält sie dafür Zinsgewinne. In Indien haben Vorstände mancher MFI wie SHARE Microfin, die einst von Oikocredit gefördert wurden, mehr Geld verdient als die Vorstandsvorsitzenden kommerzieller Banken. Der Konflikt ist nicht nur einer des Westens gegen den Globalen Süden.

Läuft die Kritik an den MFI nicht Gefahr, nur den Zins oder das Geld zu kritisieren – und damit die globalen kapitalistischen Verhältnisse außer Acht zu lassen?

Bei meiner Kritik geht es um die Ausbeutung der Ressourcen der Armen mittels der Mikrofinanz. Dazu gehört auch die ‚Ware’ Arbeit, die sie verkaufen müssen. Yunus behauptet, jede/r sei sein/e eigene/r UnternehmerIn. Statt die in wenigen Ländern hart erkämpften Errungenschaften und Schutzmechanismen der lohnabhängigen Bevölkerung im Kapitalismus auszubauen, verhindern Mikrokredite gewerkschaftliche Organisierung und die Einführung von Arbeitszeitbegrenzung, Urlaub oder sozialer Absicherung. Das mit der Mikrofinanz beförderte ‚freie Unternehmertum’ bedeutet grenzenlosen Zugriff auf die Arbeitskraft der SchuldnerIn und die ihrer Angehörigen, also eine Maximierung der Ausbeutung. Insofern würde ich eher von verlängerter und nicht von verkürzter Kapitalismuskritik sprechen.


Das Interview führten Martina Backes, Gerald Wittle und Christian Stock
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