Texte
zur antikapitalistischen
Organisations- und Programmdebatte

01/12

trend
onlinezeitung

Es gibt einen Überblick über alle bei TREND 2011 veröffentlichten Texte zur Debatte über Organisation und Programm, angeregt durch die "Sozialistische Initiative Berlin" (vormals Berlin-Schöneberg)
 

Nochmals zum „revolutionären Bruch“

von Robert Schlosser

Wer weiß, dass der Begriff „Bruch“ im Zusammenhang mit gesellschaftlicher Entwicklung eben Revolution meint, der muss stutzig werden bei der Formulierung „revolutionärer Bruch“. Was soll das sein, eine „revolutionäre Revolution“?

Im NAO-Blog wird schnell deutlich worum es geht, um politische Macht, die mit Gewalt erkämpft wird. Der revolutionäre Bruch meint im Grunde die gewaltsame Revolution und behandelt diese Frage sozusagen als Glaubensfrage, als ein Prinzip, an dem es festzuhalten gilt. Aus meiner Sicht muss man diese Frage jedoch vor dem Hintergrund der Erfahrungen der Arbeiterbewegung konkret diskutieren.

Wenn man sich an Ereignisse und Verlauf von Pariser Kommune, sowie den Revolutionen in Russland und Deutschland nach dem 1. Weltkrieg erinnert, dann läßt sich folgendes festhalten:

I.
Alle 3 Revolutionen sind durch 2 Faktoren gekennzeichnet:
Revolutionäre Massenbewegungen die minimalistische Ziele verfolgten und gerade deshalb so viele Menschen einbeziehen konnten. Innerhalb dieser Bewegungen wurden aber Formen der Selbstorganisation gefunden, die den Rahmen der bestehenden staatlichen Ordnung sprengten (Kommune, Räte) und Möglichkeiten für die Erreichung weitergehender Ziele sozialer Emanzipation eröffneten.
Zersetzung des staatlichen Gewaltapparates und Übergang wesentlicher Teile der bewaffneten Formationen des Staates auf die Seite der revolutionären Massenbewegung.

Die Zersetzung und Auflösung der bewaffneten „Ordnungsmacht“ war Bedingung des Erfolgs der revolutionären Massenbewegung. Der Übergang der Nationalgarde (und der Rückzug der Armee) (Kommune) bzw. großer Teile der Armee (Russland, Deutschland) auf Seite der Massenbewegungen, die Auflösung des staatlichen Gewaltapparates ermöglichte bzw. garantierte die wesentlich friedliche Form der Revolutionen.
Selbst der zum großen Gewaltakt stilisierte „Oktoberaufstand“ in Russland ist ohne größere Kämpfe schnell und leicht erfolgreich gewesen, weil die Provisorische Regierung über keinerlei einsatzfähige militärische Einheiten verfügte!!

II.
In allen Fällen konnte sich die Konterrevolution aus erklärlichen Gründen auf keine Massenbewegung stützen. Ihr einziges Mittel blieb die erneute Sammlung und Organisierung einer einsatzfähigen Armee und der mit ihr organisierte „bewaffnete Aufstand“ gegen die überwiegend friedliche Revolution, der in allen 3 Fällen zum Bürgerkrieg führte . In Versailles sammelte und organisierte die geflüchtete Thierregierung die Reste der Armee und die durch Preußen freigelassenen Soldaten. Denikin und Koltschak organisierten mit internationaler Hilfe im Osten der Sowjetunion die Weiße Armee. Noske holte die Freikorps aus dem Baltikum für den bewaffneten Aufstand, für den Bürgerkrieg.
Die Rote Ruhrarmee, die sich nach dem Kapp-Putsch in den 1920iger Jahren bildete, und wesentlich aus bewaffneten Arbeitern bestand, hatte nie den Hauch einer Chance gegen die einwandfrei funktionierende Armee der Konterrevolution. Gleiches gilt für die bewaffneten Formationen der Münchener Räterepublik. Der „bewaffnete Aufstand“ in Hamburg 1923 war eher eine tragische Farce.
Nur in Russland konnte der Bürgerkrieg gewonnen werden; aber nicht durch „Bewaffnung des Volkes“ (also von Zivilisten), sondern durch Organisierung einer regulären Armee mit kampferprobten Soldaten und Offizieren der aufgelösten zaristischen Armee!!
Die Rote Armee war nicht zuletzt deshalb erfolgreich, weil die Bauern keine Rückkehr der Grundbesitzer und des Zaren wollten und daher zähneknirschend die Zwangsrequirierungen von Lebensmitteln im „Kriegskommunismus“ ertrugen. Unmittelbar nach Ende des Bürgerkriegs entlud sich ihre Empörung in Bauernaufständen. Der größte fand im Gouvernement Tambow statt, wo bis zu 50.000 Rebellen gegen die reguläre Rote Armee kämpften und von dieser blutig nieder gemacht wurden. Es gibt in der modernen Geschichte der Revolutionen kein Beispiels dafür, dass bewaffnete Zivilisten eine reguläre Armee besiegt hätten!!! „Nur der Griff der Massen zum Gewehr schafft den Sozialismus her“ ist eine ebenso leere wie abenteuerliche Phrase. Politische, durch Massenbewegungen getragene Revolutionen können nur dann erfolgreich sein, wenn das Heer sich entweder in Auflösung befindet und die Soldaten auf die Seite der Revolution wechseln, oder wenn sich die Armee mindestens heraushält, bzw. neutralisiert wird.

III.
Das gleiche lässt sich auch beobachten in den Revolutionen der arabischen Völker. Die politischen Revolutionen in Tunesien und Ägypten waren erfolgreich, weil und insofern, die Armeen nicht eingriffen. In Lybien wäre der Aufstand im Osten des Landes von den Truppen Ghaddafis blutig niedergemetzelt worden, wenn nicht die Nato eingegriffen und diese Truppen zusammengebombt hätte. In Syrien kann sich die Revolution nicht durchsetzen, weil die reguläre Armee einwandfrei für das Regime funktioniert. Die Bewegung tut gut daran, sich nicht zu bewaffnen! Die Menschen haben mehr gelernt, sind klüger als unsere linksradikalen „Revolutionwächter“. Würden die Leute sich bewaffnen und die militärische Auseinandersetzung suchen, gäbe das ein riesiges Massaker und dem Regime käme nichts gelegener. Wenn jetzt in größerem Maße Deserteure der Armee den bewaffneten Kampf aufnehmen, ist das anders (aber nach wie vor mit Vorsicht) zu bewerten.

Im NAO Blog wurde auch auf das Beispiel Chile, den Pinochet-Putsch verwiesen. Allende war aus meiner Sicht eine verantwortungsvoller Mann, der nicht „die Bewaffnung des Volkes“ betrieb. Die einzige Chance der Volksfront hätte darin bestanden, dass sich entscheidende Teile der Armee gegen Pinochet gewendet hätten. (Darauf hat er wohl gehofft.) Das ist nicht geschehen. Hätten bewaffnete Zivilisten den Kampf gegen dieses Militär begonnen, dann wäre das angerichtete Blutbad noch größer geworden, ohne Aussicht auf Erfolg. Darin liegt die Tragik der Geschichte in Chile.

Die portugiesische Revolution in den 1970iger Jahren war gar wesentlich das Werk von Teilen der Armee selbst!

IV.
Politische Revolutionen haben ihre eigene Logik und Gesetzmäßigkeit, bis zu einem gewissen Grad unabhängig von ihrem sozialen, klassenmäßigen Hintergrund. Nicht die Bewaffnung des Volkes ist Bedingung für eine erfolgreiche politische Revolution, sondern die Verständigung möglichst großer Teile der Bevölkerung auf minimalistische Ziele (minimalistisch im Vergleich zu kommunistischen Zielsetzungen) und die Zersetzung oder mindestens Neutralisierung des staatlichen Gewaltapparates. Dieser Gewaltapparat muss nicht zerbrochen werden, sondern er muss sich selbst auflösen unter dem Einfluss der Massenbewegung!! Die „Bewaffnung des Volkes“ kann nur darin bestehen, dass möglichst große Teile der Armee die Seite wechseln und somit die Konterrevolution ihrer Möglichkeiten beraubt wird. Die „Bewaffnung des Volkes“ muss also in der Entwaffnung der Reaktion bestehen!! Gelingt das nicht „nachhaltig“ und kommt es zum Bürgerkrieg, dann ist der dafür zu zahlende Preis sehr hoch, selbst wenn dieser gewonnen wird. In Russland war er so hoch, dass dass die emanzipatorischen Ziele der Revolution darunter entgültig begraben wurden, ob in Kronstadt oder in Tambow. Dafür aber hatte sich die Partei einen Gewaltapparat geschaffen, der seinesgleichen sucht.
Es hängt also neben einem auf Breite Unterstützung stoßenden Minimalprogramm alles davon ab, den staatlichen Gewaltapparat dauerhaft und endgültig zu zersetzen und aufzulösen (einen Begriff, den ich besser finde, als den des Zerbrechens. Letzterer wird ja heute geradezu ausnahmslos mit dem bewaffneten Aufstand gleich gesetzt.)
Übrigens, zur Bedeutung des Minimalprogramms:
Lenin hat in der Vorbereitung der „Oktoberrevolution“ bei der Überarbeitung des Minimalprogramms immer darauf hingewiesen, dass seine Änderung nicht bedeute, dass man den Sozialismus „einführen“ wolle. Auch „Alle Macht den Räten“ war eine Minimalforderung, die nicht die Überwindung der Warenproduktion, die Überwindung der hierarchischen gesellschaftlichen Arbeitsteilungen bedeutet hätte. Was aus der „Macht der Räte“ geworden ist, wissen wir: Die Partei hat den Räten die Macht übergeben und sie wieder genommen. So wurde aus einem Schritt zum Sozialismus die Kreation eines üblen Zerrbildes desselben.

V.
Für die Organisation des „bewaffneten Aufstandes“ der Konterrevolution, für die Reorganisation der bewaffneten Formationen der Bourgeoisie gegen die überwiegend friedliche Revolution der Massen ist ein „Hinterland“ erforderlich. Das mag ein Teil des Landes selbst sein, oder das oder ein Ausland. Um den bewaffneten Aufstand der Konterrevolution auszuschließen, ist nicht nur die „nachhaltige“ Zersetzung der bewaffneten Formationen der nationalen Bourgeoisie erforderlich. Dies erfordert außerdem eine internationale Revolution, die den Raum (wörtlich!) für die mögliche gewaltsame Konterrevolution begrenzt oder - besser noch – vollständig „dicht macht“

Editorische Hinweise

Den Text erhielten wir vom Autor.