„Aber Trotzki war ein ehrenhafter Mann“
Rezension: Herbert Meißner: „Trotzki und der
Trotzkismus – gestern und heute“.


von Anton Holberg

01/12

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Als Marc Anton bei Shakespeare in seiner Rede zur Ermordung Julius Caesars durch den römischen Patrizier Brutus mehrfach den Satz wiederholte „Aber Brutus ist ein ehrenhafter Mann“ war ihm darum zu tun, diesen Brutus der Volkswut auszuliefern. Ich kenne den Autor des hier besprochenen Buches nicht persönlich. Der 1927 geborene Dr.habil Herbert Meißner studierte fünf Jahre lang in Leningrad und promovierte dort bevor er schließlich in Berlin (DDR) an der ’Deutschen Akademie der Wissenschaften’ zum Professor berufen wurde und dort im ’Zentralinstitut für Wirtschaftswissenschaften’ den Fachbereich Geschichte der politischen Ökonomie leitete. Ich vermute, dass er erschüttert vom Zusammenbruch der DDR, die er zusammen mit einer Vielzahl idealistische Gleichgesinnter mit aufbauen geholfen hatte, und auch erschüttert vom Werdegang so vieler führender Kader der UdSSR bei der Beschäftigung mit Leo Trotzki und dem „Trotzkismus“ keineswegs so düstre Absichten verfolgte wie einst Marc Anton. Dennoch liegt es nahe, seine Bemühungen unter dem Motto zusammenzufassen „Aber Trotzki war ein ehrenhafter Mann“.

H.Meißner setzt zunächst zur Ehrenrettung der Persönlichkeit des marxistischen Revolutionärs Trotzki an und weist die einschlägigen historische Fälschungen der Stalin-Zeit über die Rolle, die Trotzki insbesondere in der Oktoberrevolution und bei deren militärischer Verteidigung gegen die interne und externe Konterrevolution gespielt hat, ohne Wenn und Aber zurück. Das ist wohltuend, wenn man bedenkt, dass etwa die DKP noch in den 70er Jahren Bücher herausgegeben hat, die immerhin rund 20 Jahre nach dem Tod Josef Stalins die zu dessen Lebzeiten fabrizierten Geschichtsklitterungen im wesentlichen übernahmen. Demgegenüber scheint mir z.B. die Tatsache, dass H.Meißner relativ viel aus Trotzkis zweifellos falscher Position in Hinblick auf die Friedensverhandlungen von Brest-Litiowsk macht und etwas unzutreffen behauptet, die trotzkistische Geschichtsschreibung bleibe in dieser Frage auffallen still, eher untergeordnet zu sein. Der trotzkistische Autor Isaac Deutscher widmet übrigens diesem Thema im 1. Band seiner dreibändigen Trotzki-Biographie immerhin rund 50 Seiten. Sehr freundlich ist hingegen Messners „Entschuldigung“ für Trotzkis unerwartete Passivität im Machtkampf mit Stalin und seiner Fraktion nach dem Tode Lenins. Diese möglicherweise fatale Haltung erklärt H.Meißner mit der zentralen Bedeutung, die Trotzki der Einheit der Partei und folglich der internen Disziplin beimaß. In der Tat war Trotzki in dieser Frage sicher nicht primär davon beeinflusst, dass erst kurz vor der Revolution, deren auch nach Meißners Einschätzung wichtigster Führer nach Lenin er war, zu den Bolschewiki gestoßen war, eine Tatsache, die er sich immer wieder selbst vorwarf. Ausschlaggebender dürfte sein, dass Trotzkis ganze politische Perspektive wie bereits die von Marx, Engels und Lenin auf der Notwendigkeit der Ausweitung der Revolution zunächst auf die ökonomisch fortgeschrittendsten imperialistischen Staaten des Westens und sodann auf die ganze Welt beruhte. Die Verzögerung bzw. das Ausbleiben der proletarischen Revolution im Westen, insbesondere in Deutschland, verdunkelte jedoch diese Perspektive. Das wiederum bedeutete eine immense Gefährdung der sozialistischen Perspektive in Russland, einem Land mit einem kaum fünfprozentigen Bevölkerungsanteil an Industrieproletariat.

Und hier kommen wir zum zentralen Problem des rezensierten Buches: H.Meißner verurteilt die Stalin’sche Propaganda und Mordpolitik gegen die parteiinterne Opposition mit Trotzki an der Spitze, verteidigt aber praktisch die wesentlichen „stalinistischen“ Theorien, wobei der Begriff „stalinistisch“ hier wohlbemerkt nicht im Sinne der bürgerlichen Propaganda auf die Repression fokussiert. Insbesondere verteidigt er die Theorie des „Sozialismus in einem Land“ und behauptet, diese gehe auf Lenin und nicht, wie Trotzki und seine Anhänger behaupteten, als Widerspiegelung der Interessen der sowjetischen Bürokratie auf Stalin zurück. Abgesehen einmal davon, dass sich auch Lenin wie natürlich auch Marx und Engels geirrt haben können, sollte das einzige von H.Meißner angeführte Lenin-Zitat (S.58) angesichts der vielen eindeutigen Aussagen Lenins gegen eine solche Idee (z.B. jenes vom 7.3.1918 „...es ist eine absolute Wahrheit, dass wir ohne die deutsche Revolution verloren sind“) wohl eher dahingehend verstanden werden, dass der Arbeiterstaat in Erwartung einer neuen revolutionären Welle im Westen so lange wie möglich verteidigt werden müsse, nicht zuletzt natürlich auch durch die Ergreifung von Maßnahmen im Interesse eines sozialistischen Aufbaus. Der Arbeiterstaat, oder die „Diktatur des Proletariats“, ist aber selbst noch kein sozialistischer Staat, sondern nur dessen unbedingte Voraussetzung, auch wenn er selbstredend Maßnahmen ergreift, die für den Aufbau des Sozialismus als untere Stufe der klassenlosen – kommunistischen – Gesellschaft notwendig sind. Über den Charakter des „Arbeiterstaates“ in Russland schrieb Lenin 1920: „Wir haben in Wirklichkeit nicht einen Arbeiter- sondern einen Arbeiter- und Bauernstaat...Aber nicht genug damit. Aus unserem Parteiprogramm...ist bereits ersichtlich, dass unser Staat ein Arbeiterstaat mit bürokratischen Auswüchsen ist.“ Ende 1922 bezeichnete er den Staatsapparat als „vom Zarismus übernommen und nur ganz leicht mit Sowjetöl gesalbt...ein bürgerlich-zaristisches Gemisch.“

Auf dieser Grundlage stellt sich die Frage: was ist, wenn die besten proletarischen Kader der Revolution im Bürgerkrieg gefallen oder als Funktionäre über das ganze weite Land verteilt wurden, die industrielle Arbeiterklasse, die den politischen Charakter der Oktoberrevolution bestimmt hatte, gleichzeitig mit dem Zusammenbruch der Industrie atomisiert, nach dem Bürgerkrieg eine neue Arbeiterklasse geschaffen wurde, die als solche nicht die führende Kraft jener Revolution gewesen war, und spätestens 1937/38 die letzten in der Oktoberrevolution führenden Bolschewiki außer Stalin umgebracht wurden (Trotzki war schon ausgewiesen und erst zwei Jahre später dran), die Bürokratie aber gleichzeitig wachsende auch wirtschaftliche Privilegien erlangte? Wann ist der Zeitpunkt erreicht, wo es ungeachtet aller offizieller Bezeichnungen und Propaganda keinen Sinn mehr macht, von einem „Arbeiterstaat“ zu reden und die Verstaatlichung der Wirtschaft, die bekanntlich schon Engels durchaus für als mit dem Kapitalismus vereinbar hielt, keine sozialistische Perspektive mehr hat?

H.Meister, der übrigens auch die in diesem Zusammenhang nicht unwichtige Frage nach der Position der linken Opposition zur NEP und deren abrupten und gewalttätigen Beendigung 1927/28 nicht behandelt, weigert sich, dem in die Augen zu sehen. Stattdessen bedient er - bei seiner eigenen Biographie emotional durchaus nachzuvollziehen - den weitverbreiteten Trugschluss, dass, wenn der ursprüngliche Weg verbaut zu sein scheint, dann doch wohl ein anderer Weg (hier der „Sozialismus in einem Land“) bei etwas gutem Willen schließlich auch zum Ziel führen müsse. Logisch ist das nicht, und die Geschichte hat diese Vorstellung widerlegt. Die immer noch diskutierte Frage allerdings ist: wann hat sie das getan? Für den größten Teil der Linken, unter ihnen die sogenannten orthodoxen Trotzkisten, ist der Zeitpunkt ungefähr 1989. Andere, vor allem Anhänger verschiedener „Staatskapitalismus“-Theorien (Meißner ignoriert die Tatsache, dass es da verschiedene gibt, und nimmt auch die, von der er gehört hat, nicht ernst genug) streiten z.B. über 1927/28 (die ersten 5-Jahrespläne)(Tony Cliff „Staatskapitalismus in Russland“) oder aber 1937/38 (Walter Daum „The Rise And Fall Of Stalinism“) als Datum der endgültigen faktischen Liquidierung der Partei des Oktobers. H.Meißner stellt sich erwartungsgemäß auf die Seite der „orthodoxen“ Trotzkiste gegen die teilweise aus der trotzkistischen Strömung kommenden „Staatskapitalismus“-Theoretiker. Die orthodoxen Trotzkisten berufen sich auf Trotzkis Ablehnung der Staatskapitalismus-Theoretiker Shachtman und Burnham. Allerdings muss dabei beachtet werden, dass Trotzki, der den Beginn des 2.Weltkriegs ja noch erlebte, von der Instabilität der – wie er es nannte – herrschenden bürokratischen „Kaste“ in der UdSSR und deren Sturz im Zuge weltweiter proletarischer Revolutionen nach Ende des Krieges ausging.

Dass Trotzki als Marxist selbst nicht „orthodox“ sein konnte, ist klar. Nichts erlaubt zu glauben, dass er, wäre er nicht schon 1940 von einem GPU-Agenten in Mexiko erschlagen worden, nach dem 2. Weltkrieg Staaten als „Arbeiterstaaten“ bezeichnet hätte, in denen die Arbeiterklasse anders als in Russland 1917 nicht in der Lage gewesen ist, die Bourgeoisie selbst zu stürzen. Dazu hatte er zweifellos das Marx’sche Diktum „Die Befreiung der Arbeiterklasse muss das Werk der Arbeiterklasse selbst sein“ zu sehr internalisiert. Die Neuerung von Arbeiterstaaten ohne proletarische Revolution verdankt die Welt den „orthodoxen“ Trotzkisten unter Führung Michel Pablos, die zweifellos ebenso durch den Kriegserfolg der „konterrevolutionären“ stalinistischen Bürokratie der UdSSR und in ihrem Gefolge der unerwarteten Stärkung der offiziellen Kommunistischen Parteien wie durch das Ausbleiben der von Trotzki vorausgesagten Weltkrise des Kapitalismus auf dem falschen Fuß erwischt wurden.

Dass auch die kleine Zahl der Anhänger der Staatskapitalismus-Theorie unter diesen Bedingungen nicht aufblühen konnte, ist nicht verwunderlich. Bis heute leidet die weltweite proletarisch-revolutionäre Bewegung – gleich ob stalinistisch oder antistalinistisch - in all ihren Teilen unter dem Fehlen emanzipierter Klassenkämpfe des Proletariats. Ihre theoretischen Einsichten können so nur auf vergleichbar unfruchtbaren gesellschaftlichen Boden fallen. Ob Trotzki seine Perspektive einer „nur“ politischen Revolution gegen die stalinistische Bürokratie bei gleichzeitiger Verteidigung der sozio-ökonomischen Basis des „Arbeiterstaates“ nach Kriegsende noch aufrecht erhalten hätte, weiß man nicht. Zweifel sind jedoch angebracht.

Aber wie gesagt: Meißner verteidigt die Person Trotzkis und gleichzeitig das stalinistische Theoriegebäude gegen diese, wobei er leider ganz zentrale Streitpunkte wie die der „Volksfront“ völlig ignoriert. Diese Verteidigung ist in ihrer Durchführung aber theoretisch nicht sehr ernst zu nehmen.

Ich befürchte, dass er mit seinem Buch beim Gros ehemaliger oder auch gegenwärtiger Mitglieder und Anhänger von Kommunistischen oder post-kommunistischen Parteien entweder offene Türen einrennt oder entweder wegen seiner subjektiv revolutionären Gesinnung von gewendeten Kommunisten ebenso abgelehnt wird wie von den traurigen Resten an Stalin-Fans wegen seiner Kritik an Josef Stalin. Für nicht-stalinistische Marxisten ist das Buch ein interessantes Dokument des widersprüchlichen Prozesses der ideologischen Auflösung des „Stalinismus“ – oder allgemeiner ausgedrückt der national-bürokratischen Herrschaft der ehemaligen „realsozialistischen“ Länder. Die positive Darstellung der aktuellen Entwicklung der VRChina, einer des Staaten mit den krassesten Einkommensunterschiede, und der KPCh, einer „kommunistischen“ Partei, die sich bei ihrer Revolution einst die praktische Beteilung der Arbeiterklasse ausdrücklich verbat und in deren Führung heute Millionäre sitzen, ist m.E. nur noch psychisch zu erklären. Angesichts der deprimierenden Lage der Arbeiterklasse weltweit und ihrer revolutionär-sozialistischen Vorhut insbesondere greift der Autor nach einem Leben voll der Hoffnung auf die Befreiung der Menschheit von Ausbeutung und Unterdrückung nach dem scheinbar letzten Strohhalm – aber halt einem Strohhalm.

Herbert Meißner
Trotzki und der
Trotzkismus – gestern und heute
Eine marxistische Analyse

Verlag wiljo heinen
Berlin 2011, 190S., € 13,50