In Wirklichkeit bereitet sich
Frankreich keineswegs auf einen Abschied von der Atomindustrie
vor. Vielmehr würde diese auch unter einer möglichen
,rot-grün' geführten Regierung ab Frühsommer 2012, trotz
mittelfristig verminderten Atomstrom-Anteils, eine
Bestandsgarantie auf längere Sicht erhalten. Und auch bei
Teilen der Gewerkschaften sieht es in Sachen Atompolitik doch
ziemlich zappenduster aus...
„Überraschung : französische Atomkraftwerke doch
nicht total sicher!“ Mit dieser sarkastischen Erklärung
reagierte das „Netzwerk Atomausstieg“, Réseau Sortir du
nucléaire, auf den Untersuchungsbericht der
Reaktorsicherheitsbehörde ASN aus der ersten Januarwoche. Dieser
war infolge des Atomunfalls im japanischen Fukushima in Auftrag
durch die Regierung gegeben worden.
Er kommt nunmehr zu dem Schluss, es müsse
angeblich kein einziger der derzeit 58 laufenden Reaktorblöcke
in Frankreich abgeschaltet werden. Allerdings seien umfangreiche
Investitionen erforderlich, um dennoch erforderliche Mabnahmen
zur Verbesserung ihrer Sicherheit vorzunehmen. So sollen die
Betreiber bis zum 30. Juni einen „harten Kern“ ihrer Reaktoren
definieren, in Gestalt einer befestigten Kommandozentrale, die
auch bei gröberen
Krisen oder Unfällen - wie Erdbeben oder Flugzeugabstürzen -
widerstandsfähig wäre. Ferner soll jeder Reaktor über einen
spezifischen Strom- und Wasserkreislauf verfügen, welcher im
Falle eines Zusammenbruchs des Kraftwerkbetriebs nicht mit
ausfällt. Aus der Empfehlung lässt sich entnehmen, dass nicht
einmal dies bis heute überall der Fall ist. Bis Ende 2014 soll
ferner eine nukleare „Eingreiftruppe“ einsatzbereit sein, die im
Krisenfall in alle Reaktoren eines Kraftwerks entsandt werden
kann.
50 Milliarden Euro möchte die ASN in den
kommenden Jahren für diese Zwecke aufgewendet sehen. Henri
Proglio, der Vorstandsvorsitzende des Energiekonzerns EDF (Electricité
de France) - des Hauptbetreibers französischer Atomanlagen -
beeilte sich, zu erklären, in Wirklichkeit handele es sich nur
um Kosten in Höhe von zehn Milliarden. 40 Milliarden seien
nämlich bereits bislang programmiert gewesen, um die Laufzeit
der im Betrieb befindlichen französischen Atomkraftwerke auf -
mehr als stattliche - 60 Jahre ausdehnen zu können. Diese
Ausgaben seien für die kommenden dreibig
Jahre vorgeplant gewesen. Andere Quellen, etwa durch Le Monde
befragte Experten, sprechen zwar eher von fünfzehn statt zehn
zusätzlich erforderlichen Milliarden. Doch Regierungsmitglieder
beeilen sich ebenso wie EDF-Vertreter, den Aufwand herunter zu
spielen.
Industrieminister Eric Besson etwa erklärte
umgehend, der Strompreis für die Verbraucher werde „dadurch
nicht einmal um zwei Prozent der Stromrechnung“ steigen. Es
deutet sich also jedenfalls an, dass die zu erwartenden
Mehrkosten für die Laufzeitverlängerung auf die Konsumenten
abgewälzt werden sollen. Bislang behauptete Frankreich zwar
offiziell stets, der Preis einer Kilowattstunde Strom sei
billiger als in Nachbarländern wie Deutschland - wobei EDF, um
seine gigantischen Kapazitäten an Atomstrom loszuwerden, seit
den siebziger Jahren den Privatkunden unsinnige und
verschwenderische Einrichtungen wie uneffiziente elektrische
Heizungen aufgedrängt hatte und dadurch ihren Verbrauch in die
Höhe trieb. Aber nunmehr kommt auch in der französischen Debatte
um die Atompolitik, die seit dem Fukushima-Unfall erstmals
stärker kontrovers geworden ist, ans Tageslicht, dass es dabei
hohe „verdeckte Kosten“ gibt. Der Umgang mit dem anfallenden
Atommüll ist ebenso wenig in die offiziellen Kosten einbezogen
worden wie der Sicherheitsaufwand oder die in Zukunft
anstehenden Lasten für den Abriss von radioaktiv verseuchten
Anlagen der Nuklearindustrie. Ende Januar dieses Jahres wird
nunmehr die Cour des comptes - der nationale Rechnungshof
- eine erste Preiskalkulation für die „verborgenen Kosten“
vorlegen. So ist es jedenfalls geplant.
Angesichts der geplanten, relativ horrenden
Ausgaben stellen sich viele Beobachter die Frage, warum
überhaupt noch einmal Dutzende von Milliarden in eine
Technologie gepumpt werden sollen, die in weiten Teilen der Erde
inzwischen als diskreditiert gilt. Nicht nur die Parteichefin
der französischen Grünen, Cécile Duflot, ist der erklärten
Auffassung, dass diese Summen „für die Entwicklung und den
Ausbau anderer Technologien der Energieversorgung“ viel
besser ausgegeben wären.
Französische Regierungspolitiker und
EDF-Vertreter setzen jedoch weiterhin stur und starr auf die
Atomtechnologie, weil sie sich davon versprechen, nach wie vor
könne Frankreich von ihrem Export in so genannte Schwellenländer
mit ansteigendem Energiebedarf profitieren. Henri Proglio
versuchte Anfang November, in die propagandistische Offensive
für den Erhalt der Technologie zu gehen, und malte der
französischen Öffentlichkeit die Konsequenzen eines auch nur
phasenweisen und mittelfristigen Ausstiegs schwarz in schwarz.
Eine Million Arbeitsplätze würde ein Atomausstieg kosten,
behauptete er, natürlich ohne sich auch nur einen Gedanken um
eine mögliche Konversion dieser Stellen durch andere Aktivitäten
im Energieversorgungsbereich zu machen. 400.000 Arbeitsplätze
gingen angeblich im Atomsektor direkt und indirekt verloren,
behauptete Proglio, 500.000 in energieintensiven sonstigen
Energiezweigen, und 100.000 im Export.
Aber auch in Frankreich glauben immer weniger
Menschen an die Unausweichlichkeit einer Fortentwicklung der
Atomtechnologie oder an die fatalerweise katastrophalen Folgen
eines Ausstiegsszenarios. Anfang Dezember vergangenen Jahres
konnte ferner Greenpeace der offizieller „Sicherheits“propaganda
einen Schlag versetzen: Per Überraschungscoup und ohne
Vorwarnung drangen eines frühen Morgens, am 05. Dezember,
Aktivisten von Greenpeace problemlos in mindestens ein
französisches AKW ein, in Nogent-sur-Marne. Von drinnen heraus
meldeten sich durch Veröffentlichung von Fotos und Filmen. In
zwei anderen Atomanlagen, in Blaye und Cadarache, wurde
gleichzeitig ein Eindringen versucht. Um die Behörden zu wurmen
forderte Greenpeace sie dazu auf, selbst herauszufinden, wo noch
Aktivisten ins Innere vorgedrungen sein könnte, ohne ihren
Aufenthalt zu verraten.
Auch auf politischer Ebene ist die
Atomtechnologie unterdessen, erstmals ernsthaft, zum
Streitgegenstand der französischen Innenpolitik geworden. Am 16.
und 17. November vergangenen Jahres hatte das Abkommen zwischen
Sozialdemokratie und Grünen für eine Regierungsbildung im
Frühsommer dieses Jahres vorübergehend auf der Kippe gestanden.
Am Abend des ersten Tages hatte sich herausgestellt, dass die
französische Nuklearfirma AREVA unmittelbar in die Verhandlungen
zwischen den beiden Parteien eingegriffen hatte.
Im Vorgriff auf einen Wahlsieg hatten beide sich
auf einen politischen Grundlagentext geeinigt. Die
Sozialistische Partei wollte dadurch sicher gehen, nicht nach
den Wahlen oder zwischen ihren beiden Durchgängen, wenn eine
Stimmenübertragung von den ausscheidenden Listen auf die
stärkeren Parteien für die Stichwahl erforderlich wird, mit
„überzogenen“ inhaltlichen Forderungen konfrontiert zu werden.
Das Wahlbündnis aus Grünen und Linksliberalen, Europe
Ecologie-Les Verts (EE-LV), dagegen wollte eine Garantie
über eine bestimmte Anzahl von Parlamentswahlen frühzeitig
festzementiert wissen. Auch, um bei einem schwachen Abschneiden
der Präsidentschaftskandidatin von EE-LV, Eva Joly, dann nicht
in Sachen Sitze leer auszugehen. Die Einigung zwischen beiden
Formationen bezog also sowohl inhaltliche Aspekte als auch
Fragen von Sitzverteilung und parteipolitischen Interessen mit
ein. Aus diesem Grunde wurde er vielfach und von
unterschiedlichen Seiten her kritisiert, denn er erschien
letztendlich als „ein Tauschbasar, auf dem
Grundsatzüberzeugungen gegen Parlamentsmandate eingetauscht
werden“.
In ihrer ersten Fassung enthielt die Einigung
eine Aussage, wonach eine „Konversion“ der derzeitigen
MOX-Industrie - also der Produktion von Brennelementen, welche
aus einer Mischung von Uran und Plutonium bestehen - angestrebt
werde. Also ein Erhalt der bestehenden Arbeitsplätze, die aber
für andere Aktivitäten umgewidmet werden sollen, genannt wurden
die zukünftige Einlagerung von Atommüll und der spätere Abriss
von ausgedienten Atomanlagen. Doch ohne ihre Intervention im
geringsten zu verbergen, schaltete die Atomfirma AREVA -
Betreiberin der Wiederaufbereitungsanlage von La Hague, wo das
Plutonium aus dem anfallenden Atommüll abgetrennt wird - sich
ein. Sie bedrohte die französische Sozialdemokratie mit
„schwerwiegenden Konsequenzen“, falls ein Ausstieg aus der
MOX-Produktion erfolge, etwa in Form der Bedrohung von
Arbeitsplätzen.
Daraufhin zog die Sozialistische Partei die
Passage im Einigungstext einseitig zurück. Dies sorgte für einen
Aufschrei bei den Grünen, und Eva Joly wollte nun gar nicht mehr
sein, im zweiten Durchgang der Präsidentschaftswahl überhaupt
für François Hollande stimmen zu können. Innerhalb weniger
Stunden wurde die ursprüngliche Fassung daraufhin
wiederhergestellt. Diese präzisiert jetzt, es sei keineswegs ein
Ausstieg aus der Fabrikation von MOX-Brennelementen geplant,
sondern nur ihre Verringerung proportional zur vorgesehenen
Reduzierung des Atomenergie-Anteils an der globalen
Energieversorgung. Dem Abkommen zufolge soll diese, bis 2025,
von derzeit 74 Prozent auf geplante 50 Prozent zurückgehen. Die
anteilsmäßige
Reduzierung der Brennelemente-Herstellung aus MOX soll mit einer
Bewahrung der Arbeitsplätze und ihrer Umwidmung einhergehen. Für
das geplante, jedoch umstrittene Atommüll-Endlager im
lothringischen Bure wird eine Bestandsgarantie abgegeben.
Insofern wird auch unter einer eventuellen künftigen
Mitte-Links-Regierung nicht mit einem scharfen Bruch mit den
bisher in Frankreich geltenden Dogmen der Atompolitik zu rechnen
sein. Zumal im Milieu der französischen KP, aber auch bei den
Gewerkschaften in Teilen noch immer eine beinharte Position der
„Verteidigung aller Arbeitsplätze“ vorherrscht. Am Standort des
AKW im elsässischen Fessenheim, das schon seit 1977 in Betrieb
ist und - als älteste laufende „zivile“ Atomanlage im Land -
unter einem Präsidenten François Hollande und eventuell sogar
bei einer Wiederwahl Sarkozys als Abschaltkandidat gilt,
organisieren Gewerkschafter etwa einen örtlich stark verankerten
Widerstand dagegen. Sie beklagen einen Verrat durch die Politik,
die aufgrund kleinlicher Parteiinteressen „ihren Standort zu
opfern“ bereit sei.
Vergleichbare
Positionen gelten bislang noch für eine Mehrheit der gröberen
Gewerkschaften (ohne SUD-Basisgewerkschaften). Teile der
CGT-Energie wären sogar bereit, einen Streik gegen eine
Verringerung des Atomenergie-Anteils unter einer späteren
„rot-grün“ geführten Regierung zu organisieren. Allein die heute
rechtssozialdemokratisch geführte CFDT, welche in den 1970er
Jahre eine linksalternativ und ökologisch beeinflusste Periode
durchlief, bleibt noch ein Erbe gewerkschaftlicher
Atomkraftkritik übrig. Auch ihre, seit langem nicht mehr als
links zu bezeichnende, Gewerkschaftsführung erklärte sich dazu
bereit, einen teil- und schrittweise Atomausstieg unter einer
sozialdemokratisch geführten Regierung konstruktiv zu begleiten.
Editorische Hinweise
Wir erhielten diesen Text vom
Autor zur Veröffentlichung in dieser TREND-Ausgabe.
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