Soziale Bewegungen und Konflikte in Tunesien & Algerien
Auch unter einer von „moderaten Islamisten“ angeführten Regierungskoalition in Tunesien dauern die sozialen Auseinandersetzungen fort

von Bernard Schmid

01/12

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Die göttliche Hilfe, die sich die regierenden Islamisten in Tunesien vielleicht erwarteten, vermochte die gesellschaftlichen Konflikte nicht wegzuzaubern. Diese sind vielmehr in den vergangenen Tagen und Wochen mit unverminderter Härte neu aufgebrochen.

Umsonst arbeiten für die Haushaltskonsolidierung?

Die wirtschaftsliberale Politik der wichtigsten Partei der aktuellen Regierungskoalition, En-Nahdha (Wiedergeburt), trug dazu eifrig dabei. So hatte die neue Regierung im Dezember 11 die vermeintlich originelle Idee, die Staatsbediensteten sollten im Jahr 2012 als „Sonderbeitrag zum Staatshaushalt“, zum Zwecke von dessen Konsolidierung, vier Tage umsonst arbeiten.

Der wichtigste Gewerkschaftsdachverband in Tunesien - die UGTT, die früher an der Spitze eine Staatsgewerkschaft bildete, jedoch stets auch linke und oppositionelle Sektoren aufwies - erklärte sich offiziell sogar bereit, darüber zu reden. „Unter Bedingungen“ sei man im Prinzip damit einverstanden, lie die Spitze verlautbaren. Dagegen erklärte einer der neuen beiden Gewerkschaftsdachverbände, die nunmehr in den letzten Monaten der UGTT ungewohnte Konkurrenz machen, sein radikales Nichteinverständnis. Die von abtrünnigen Gewerkschaftern des früheren Dachverbands gegründete UTT, die neben der CGTT den zweiten neu entstandenen Gewerkschaftsbund darstellt, nutzte die Gelegenheit zur Profilierung. „Nicht einen einzigen“ kostenlosen Arbeitstag im öffentlichen Dienst werde es mit ihr geben, verkündete die UTT. Vgl. dazu http://www.investir-en-tunisie.net

Auch die Ankündigung aus Kabinettskreisen, manche Lohnerhöhungen aus den Monaten unmittelbar nach der demokratischen Revolution und dem Sturz von Ex-Präsident Zine el-Abidine Ben ’Ali sollten „zurückgenommen“ werden, da sie der Nationalökonomie schadeten, treffen nicht auf viel Gegenliebe. Am 07. Januar 12 wurde bekannt, dass die UGTT-Spitze, die sich dieses Mal weniger zu faulen Kompromissen bereit zeigte, einen Offenen Brief an Premierminister Hamadi Jebali geschickt habe. Darin warnt sie ihn vor den Konsequenzen, sollte die Regierung versuchen, die in der ersten Jahreshälfte 2011 unter dem Druck der damaligen sozialen Mobilisierungen abgeschlossenen Tarifabkommen anzutasten.

Gafsa-Revier rumort
Vor allem aber rumort es in den zentraltunesischen Armutsprovinzen, die auch bei der Auslösung der Revolution im Winter 2010/11 eine Schlüsselrolle spielten. Am wichtigsten war schon im Vorfeld der anti-dikatorischen Revolution, die das Ben Ali-Regime stürzte, die Bergbauregion von Gafsa. Dort hatte bereits von Januar bis Juli 2008 eine, regional begrenzte, breite Massenrevolte gegen die von Korruption und Klientelpolitik geprägte Einstellungspraxis im Phosphatbergbau stattgefunden. Das Gafsa-Revier war seit Jahren eine Ausnahmeregion in Tunesien, wo sich soziale und politische Opposition, Gewerkschafter, linke Anwältinnen, Frauenrechtlerinnen und Menschenrechtsaktivisten zu einer gut verankerten „Gegenkultur“ mischten.

Am 05. Januar 12 verbrannte sich ein Arbeitsloser in Gafsa in der Öffentlichkeit - ähnlich wie vor nunmehr dreizehn Monaten der junge Mohammed Bouaziz in Sidi Bouzid, was damals den Stein ins Rollen gebracht hatte. Der Familienvater Ammar Gharsalla starb am 10. Januar an den erlittenen Verbrennungen. Die Selbstverbrennung erfolgte unmittelbar vor dem Besuch dreier Minister der Regierung Jebali in Gafsa, nachdem Gharsalla vergeblich gefordert hatte, einen Termin bei ihnen zu bekommen, um ihnen die sozialen Probleme der Region darzulegen. Daraufhin wurden die Minister vor Ort mit heftigem Unmut und Demonstrationen konfrontiert. (Anm.: Eine weitere Selbstverbrennung wenige Tage zuvor im nordtunesischen Bizerte scheint hingegen eher auch mit psychischen Problemen ihres Opfers zusammenzuhängen.)

In Protest eingetreten ist ferner die tunesische Presse, da die Journalisten es ablehnen, sich einen Maulkorb verordnen zu lassen. Premierminister Jebali hatte im Dezember 11 verkündet, ihm zufolge sollten die Medien sich wie Sprecher der Regierung Tunesiens verhalten. Er reagierte dadurch auch auf die von ihm kritisierte (und im Übrigen durchaus reale) Feindseligkeit einer Mehrheit der Presseorgane gegenüber der regierenden, „moderat-islamistischen“ Partei En-Nahdha.

Darüber hinaus ernannte er am 07. Januar 12 Mohamed Nejib Ouerghi zum neuen Direktor der staatlichen Pressefirma Snipe, die für Druckereien, Vertrieb und den Inhalt der staatseigenen Zeitungen verantwortlich ist. Ouerghi war unter der Diktatur von 2003 bis 2010 Leiter der Regierungszeitung Le Renouveau gewesen, und damit eines karikaturhaft primitiven Verlautbarungsorgans des Ben Ali-Regimes. Am übernächsten Tag demonstrierten Hunderte von Journalisten im Regierungsviertel von Tunis, der Kasbah, und weitere Mobilisierungen mit Unterstützung aus der Bevölkerung sind angekündigt. Innerhalb kurzer Zeit wurde der Druck so stark, dass die neue Regierung inzwischen ihre Bereitschaft erklärte, ihre Personalentscheidung wieder in Frage zu stellen. Es wird abzuwarten bleibt, was daraus wird…

Auch in den Nachbarländern und besonders in Algerien ist die soziale Lage nicht eben ruhig. In Algerien rumorte es Anfang Januar über eine Woche lang in den Wüstenstädten Laghouat und in Ouargla, daneben auch in Skikda an der Mittelmeerküste, und zuletzt in Armenvierteln von Oran und Algier.

Algerien: Heftige Unruhen in mehreren Städten

Die Wüste lebt - politisch. Die algerische Wüstenstadt Laghouat (das „gh“ wird als stimmloses „R“ wie in der französischen Sprechweise für „Paris“ ausgesprochen) zählt rund 450.000 Einwohner/innen. Und diese sind den Machthabern als notorisch rebellisch bekannt.

Als im Juni 1965 ein Putsch der Armee unter dem späteren Präsidenten Houari Boumedienne den Experimenten der ersten drei Jahre nach der Unabhängigkeit („Selbstverwaltungssozialismus“, wenngleich unter Kontrolle von oben) ein Ende setzte, waren die Einwohner/innen nicht sonderlich einverstanden. Und Dutzende von Neugeborenen in Laghouat wurden daraufhin demonstrativ auf den Namen „Ben Bella“ getauft. So hieß der damals gestürzte Präsident, Ahmed Ben Bella, den die neuen Machthaber damals bis 1980 im Gefängnis verschimmeln ließen (auch wenn dessen Politik i.Ü. ebenfalls kritikwürdige Aspekte hatte). Seitdem haben die algerischen Machthaber die Stadt, nun ja, nicht unbedingt in ihr Herz geschlossen. Boumedienne zürnte über Jahre hinweg aufgrund der Anekdote mit den Neugeborenen.

In jüngster Zeit wurde Laghouat, seit 2010, regelmäßig von sozialen Unrunen erschüttert. Es ging um die enorme Arbeitslosigkeit, um die Praktiken von Vetternwirtschaft & Korruption bei der Zuteilung von Wohnungen (wie auch Arbeitsplätzen), oder um das Herunterkommen und Verrotten-Lassen des örtlichen Krankenhauses. Als vor gut einem Jahr, vom 06. bis 09. Januar 2011, dreitägige schwere Unruhen infolge der Anhebung der Preise von Grundbedarfsgüter (Speiseöl, Zucker) ganz Algerien durchliefen, rappelte es in Laghouat besonders stark. Drei Tage hielten Einwohner/innen die zusammengezogenen Polizeikräfte in Schach und aus ihren Wohnvierteln heraus.

Und nun ging es wieder los: Die Streitfrage der Zuteilung von (Sozial-) Wohnungen wurde in den letzten Wochen akut. Am 14. Dezember 2011 hatte Staatspräsident Abdelaziz Bouteflika (Boutefliqa) die Stadt besucht. Bewohner wollten dabei zu ihm vordringen und ihm Dokumente über ihre verzweifelte und langjährige Suche nach bezahlbarem Wohnraum übermitteln. Sie wurden durch die Sicherheitsbediensteten abgewimmelt, aber der Präfekt der Stadt musste ihnen zugleich hoch & heilig versprächen, ihr Problem werde in nächster Zukunft eine Regelung finden.

In der ersten Januarwoche 2012 wurden nun die Listen derjenigen Familien, denen Sozialwohnungen zugeteilt werden, ausgehängt. Und wie so oft in diesen Fällen in Algerien brach daraufhin ein Zorn der Entrüstung aus, da der Verdacht aufkam, „Nepotismus“ (Vetternwirtschaft, Klientelpolitik) habe bei der Erstellung der Listen Pate gestanden. Daraufhin kam es zu Unruhen, die von jungen Arbeitslosen - und von sich mit ihnen solidarisierenden Händlern ausgingen. Es kam zur Besetzung von öffentlichen Plätzen, Straßensperren und -blockaden, zu Auseinandersetzungen mit der Polizei und einer Reihe von Verhaftungen.

Solche Vorkommnisse sind in Algerien, wo es ständig örtliche Riots aufgrund von Konflikten um soziale Grundbedürfnisse gibt, beinahe Alltag. Das Hochinteressante am Beispiel Laghouat ist jedoch, dass die Unruhen in diesem Falle offenkundig nicht unorganisiert sind, sondern durch örtliche Associations (Vereinigungen, Initiativen) in den Stadtteilen getragen und organisiert werden. Und diese wiederum kommunizieren eifrig über Internet respektive die „sozialen Netzwerke“ in demselben. Zu den Vereinigungen, die - im Unterschied zu allen etablierten Institutionen - ein gewisses Vertrauen innerhalb der örtlichen Bevölkerung zu genießen scheinen, zählt auch die „Liga für Menschenrechte“.

Auch am Mittwoch und Donnerstag, 11. und 12. Januar blieben ein Teil des Stadtzentrums durch mehrere Dutzend von jungen Leuten besetzt. Zuvor hatte der Präfekt, Youcef Chorfa (ausgesprochen Yussef Schorfa), jedoch ein Zugeständnis machen müssen und der Liste von Anspruchsberechtigten für Sozialwohnungen einen „nicht definitiven Charakter“ zugesprochen. Diese könne also noch überarbeitet werden.

Parallel dazu gab es in denselben Tagen Demonstrationen, meist von jungen Arbeitslosen, in Ouargla - ebenfalls eine Stadt im wüstenhaften Süden Algeriens - und in Skikda in Nordostalgerien, an der Mittelmeerküste. Am Mittwoch (11. Januar) kam es zudem zu Riots, welche sich an Konflikten um Wohnraum entzündet hatten, in einem Armenviertel der westalgerischen Metropole Oran (Derb) sowie in Baraki, einem Wohnviertel an der Peripherie der Hauptstadt Algier.

Der Maghrebspezialist Luis Martinez wirft unterdessen in der Pariser Abendzeitung Le Monde die Frage auf, ob nicht in Algerien - das von den Umbrüchen in der Region in den letzten 12 Monaten relativ wenig berührt wurde, auch, weil die Bevölkerung nach dem Bürgerkrieg der 1990er Jahre vordergründig konfliktmüde ist - „die Ruhe vor dem Sturm“ herrscht.

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Wir erhielten diesen Text vom Autor zur Veröffentlichung in dieser TREND-Ausgabe.