Bernard Schmid berichtet aus Frankreich

Auch an der Seine
Leihst’ mir mal ’ne Arbeitskraft?

01-2013

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Fremder, kommst Du in die französische Hauptstadt, sage, Du habest Sie stehen gesehen: Paris, seine historischen Gebäude, seine Museen – seine Zeitarbeitsfirmen. Wer vom Pariser Ostbahnhof aus in Richtung Place de la République spaziert, wird über mehrere Hundert Meter hinweg fast nur an Zeitarbeitsbüros vorbeikommen. Den Boulevard Magenta entlang haben sich Dutzende solcher agences d’intérim niedergelassen. Dazwischen liegen ein paar Apotheken, Werbebüros oder Niederlassungen von Modefirmen.

So sieht es dort sei mindestens zwei Jahrzehnten aus. In den letzten Jahren, vor allem von 2009 bis 2011, bot sich allerdings bisweilen ein ungewohntes Bild. Kartons und mitunter Matratzen waren vor den Eingängen der Zeitarbeitbüros ausgebreitet. Menschen schlürften dort Kaffee und diskutierten. Manchmal sah man auch in den Abendstunden im Inneren Menschen, die sich beim Beten niederbeugten: Vor allem Westafrikaner, muslimische Senegalesen und Malier, verrichteten hier ihr Gebet. Und sie taten es deswegen in den Räumen der Leiharbeitsfirmen, weil sie diese besetzt hatten.

Über Wochen und Monate, in manchen Fällen über anderthalb Jahre hinweg zog sich damals der Streik der Sans papiers, der undokumentierten oder „illegalisierten“ Migranten. Er betraf zwar nicht allein Zeitarbeitsfirmen, berührte diese aber in hohem Maße. Der Arbeitskampf wurde für die „Legalisierung“ des Aufenthaltsstatus der Einwanderer geführt, und dabei hatten die Betreffenden oft auch Erfolg, wenn diese Forderung durch ihren jeweiligen Arbeitgeber unterstützt wurde – die Behörden gaben dann schnell nach und „legalisierten“ die Arbeitskräfte im Namen eines anerkannten Bedarfs der französischen Wirtschaft. Dafür hatte die Rechtsregierung in den Jahren 2006 und 2007 eine gesetzliche Grundlage geschaffen. Nur musste man die Arbeitgeber oft durch den Streik dazu motivieren, diese „Legalisierung“ auch zu wollen. Hingegen sah es bei den Lohnabhängigen, die durch Zeitarbeitsfirmen beschäftigt wurden, anders aus.

Da sie oft nur kurzfristige Arbeitsverträge hatten – oftmals stimmten die Dauer von Arbeitsverhältnis mit der Zeitarbeitsfirma und Einsatz beim „Entleiher“ miteinander überein -, sperrten sich die Ausländerbehörden dagegen, in solchen Fällen dagegen, einjährige Aufenthaltserlaubnisse auszustellen. Erst ein zäher und lang dauernder Kampf konnte ab 2009 solche Blockaden in manchen Fällen aufbrechen, da Polizei und Ausländerbehörden genug davon hatten, die Agenturen und die davor liegenden Trottoirs monatelang blockiert zu sehen. Nicht immer gelang es jedoch, zu positiven Ergebnissen zu kommen.

In Südeuropa schwächer, auf den britischen Inseln stärker ausgeprägt

Die Verknüpfung zwischen Zeitarbeitsverträgen und Ausländerrecht ist nicht die einzige Problematik, die in Frankreich im Zusammenhang mit der Leiharbeit manchmal mehr und manchmal weniger heftig debattiert wird. Im Vergleich mit den übrigen romanischsprachigen Ländern – dem übrigen „lateinischen Europa“, wie man in Frankreich auch sagt – weist Frankreich einen relativ hohen Anteil an Leiharbeit unter den abhängig Beschäftigten auf, mit einem nahezu konstanten Anteil von rund zwei Prozent der Beschäftigten insgesamt in den letzten Jahren. Im vergangenen Juli lag er etwa bei 2,1 Prozent.

Dieser Anteil lag fast überall in Südeuropa im gleichen Zeitraum erheblich niedriger, mit 0,6 Prozent in Spanien oder 0,9 Prozent in Portugal, sowie einem Prozent in Italien. (Vgl. http://la-page-de-l-emploi.pagepersonnel.fr Und vor den jüngsten sozialen Verwerfungen im Zusammenhang mit der Krise lag der Anteil dort noch niedriger, in Portugal lag er etwa Ende der neunziger Jahre noch bei 0,5 Prozent. Deutschland lag im Sommer dieses Jahres dabei ungefähr gleichauf mit Frankreich, mit 2,2 Prozent, wobei der Anteil der Leiharbeit dabei östlich des Rheins in den letzten Jahren stark angewiesen ist. Eine vergleichende Studie aus dem Jahr 1999 wies etwa nur einen Anteil von 0,6 Prozent aus; vgl. http://www.eurofound.europa.eu . Gesetzliche Erleichterungen besonders aus der Schröder-Ära trugen östlich des Rheins zum Aufschwung der Leiharbeit bei, während er in anderen Ländern im Vergleich dazu eher konstant blieb. Den höchsten Anteil an Leiharbeitern unter den Lohnabhängigen fand und findet man dagegen vor allem in Großbritannien, in den Niederlanden und in Dänemark.

Die vergleichsweise geringe Verbreitung von Leiharbeit in Südeuropa erklärt sich aus gesellschaftlichen Faktoren. Zum Einen existieren dort andere Faktoren der Prekarisierung von abhängig verrichteter Arbeit. So sind dort insbesondere Formen von Scheinselbständigkeit – faktische Lohnarbeitsverhältnisse werden in vermeintliche Kleinunternehmer-Existenzen umgewandelt, bei denen die Betreffenden das volle wirtschaftliche Risiken übertragen bleiben, aber weiterhin abhängig bleiben – vorherrschend. Andererseits überwiegen auch andere Mechanismen unter den Arbeitsuchenden und Lohnabhängigen, die eine persönliche Perspektive zu entwickeln versuchen. Laut einer europaweiten Studie eines französischsprachigen Verbands der Zeitarbeitsbranche, Prisme (vgl. http://www.prisme.eu/), sind so 80 Prozent der französischen und der niederländischen Lohnabhängigen der Auffassung, in Ermangelung eines dauerhaften Broterwerbs könne ein Leiharbeitsverhältnis ein geeignetes Mittel sein, um sich einem stabilen Beschäftigungsverhältnis anzunähern: Man steigere dadurch seine employabilité, also die Fähigkeit, durch die Arbeitgeber als „anstellungswürdig“ betrachtet zu werden.

Hingegen ist diese Auffassung in Südeuropa weniger verbreitet, wo man eher auf seine familiären Kontakte sowie sein soziales Netzwerk setze, um an Informationen über Beschäftigungsverhältnisse zu kommen. Eine Strategie, bei der allerdings italienische und deutsche Lohnabhängige ungefähr gleichauf liegen, was ihren Zustimmungsgrad betrifft, der rund um die 60 Prozent liegt, in Italien damit gleichauf mit der zuvor genannten Vorgehensweise. Vor allem in Südeuropa betrachtet man demnach Beschäftigungsverhältnisse, bei denen man von vorherein weiß, dass man von ihnen nicht auf Dauer leben kann, als relativ unterinteressant. Eine große Unbekannte bildet im südeuropäischen Raum dabei Griechenland, da zu diesem Staat keine gesicherten Erkenntnisse über die Verbreitung und Ausgestaltung von Leiharbeit vorliegen. Es bestehen keine offiziellen Statistiken dazu, und Leiharbeitsfirmen können legal tätig sein, ihre Aktivität ist aber nicht vom Gesetzgeber näher reguliert worden.

Legal seit 1972

In Frankreich war die Leiharbeit ein Thema starker innenpolitischer Auseinandersetzungen vor allem in den siebziger Jahren. Sie war im Jahr 1972 gesetzlich zugelassen worden; also im selben Jahr wie in Westdeutschland. Anders als in anderen westlichen Kernländern waren die etablierten Linksparteien damals in der Opposition, und erst ab 1981 in der Regierung – in Westdeutschland oder Großbritannien lief es anders herum. Linksparteien und Gewerkschaften forderten die gesamten siebziger Jahre hindurch das definitive Verbot von Leiharbeit. Als die Erstgenannten dann unter François Mitterrand an die Regierung kamen, verabschiedeten sie allerdings kein Verbotsgesetz, sondern versuchten, das Phänomen gesetzlich zu regulieren. Dabei ist es bis heute geblieben.

Gleicher Lohn?

Ein wichtiges Instrument ist dabei die Durchsetzung des Equal Pay-Prinzips.: Leiharbeiter und andere abhängig Beschäftigte beim „Entleiher“ – also in dem Betrieb, der ihre Arbeitskraft nutzt – müssen dieselbe Vergütung bekommen. Ein solches Prinzip der Lohngleichheit besteht in Deutschland zwar theoretisch auch; es ist aber praktisch relativ wirkungslos, da es ausdrücklich durch Tarifverträge umgangen werden kann (n. § 10 Absatz 4 Satz Arbeitnehmerüberlassungsgesetzt AÜG), und also auch ausgehebelt wird. Im Vereinigten Königreich – wo in den vergangenen Jahren, mit mal vier und mal fünf Prozent, der höchste Leiharbeiter-Anteil an der Gesamtzahl der Beschäftigten bestand – besteht die Verpflichtung zur Einhaltung eines Equal Pay-Prinzips ohnehin erst nach zwölf Wochen Betriebszugehörigkeit der Leiharbeiterin beim „Entleiher“. (Vgl. etwa http://www.metiseurope.eu) Also in vielen Fällen überhaupt nicht. Vergleichbar schwache Regeln wie im neoliberalen Paradies Großbritannien gelten zwar auch in skandinavischen Ländern. Doch werden sie etwa in Dänemark de facto durch starke Gewerkschaften kompensiert, die meistens in Tarifverträgen soziale Garantien auch für Leiharbeiter aushandeln.

In Frankreich dagegen sind die gesetzlichen Garantien für die Einhaltung des Equal pay-Prinzips relativ stark, zumal sie auch mit der Existenz eines gesetzlichen Mindestlohns – wie es in Deutschland eben nicht gibt – einhergehen. In der Praxis gibt es auch tatsächlich keine oder nur geringe Lohndifferenzen zwischen Leiharbeitern und Stammpersonal, jedenfalls was die Grundvergütung betrifft, aber auch monatlich ausgeschüttete Prämien und vergleichbare Lohnbestandteile. Ausgenommen bleiben die Leiharbeiterinnen lediglich vom Zugang zu längerfristigen Vorteilen wie Zuschlägen aufgrund der Dauer der Betriebszugehörigkeit, Betriebsrenten und ähnlichen Vergünstigungen. (Allerdings wird Leiharbeit dadurch in mehr oder weniger geringfügigem Ausmaß verteuert, dass dem/r Lohnabhängigen am Ende eines solches Beschäftigungsverhältnisses 10 % der aufgelaufenen Lohnsumme als „Prekaritätszuschlag“ oder indemnité de précarité zusätzlich ausbezahlt werden müssen. Dieser Lohnaufschlag – es ist dieselbe Regel wie auch bei befristeten Arbeitsverträgen, CDD oder contrats à durée déterminée – dient weniger der „Abschreckung“ des Arbeitgebers als vielmehr dazu, dem oder der Lohnabhängigen für die anstehende Periode der Erwerbslosigkeit eine kleines Polster mit an die Hand zu gehen. Diese leichte Verteuerung der Arbeitskraft in Leiharbeits- sowie in zeitlich befristeten Verträgen wird jedoch durch die Einsparnisse bei Einzahlungen für Betriebsrenten, bei Zuschlägen wg. längerer Beschäftigungsdauer usw. sowie wegen geringerer Kosten bei der „Personalverwaltung“ locker aufgewogen.)

Die Vorzüge aus Sicht der Arbeitgeber liegen also nicht im Lohndumping, dem das Gesetz nach wie vor – auch in der Praxis - einen Riegel vorschiebt. Hingegen finden sie Vorteile darin, dass sie einerseits die Leiharbeiter im Unternehmen als „Puffer“ im Hinblick auf Personalreduzierungen benutzen können: In der Krise, wie derzeit im Automobilsektor, brauchen die Firmen deswegen oft nicht zu entlassen und aus ihrer Sicht „teure“ Sozialpläne aufzulegen, sondern müssen lediglich die Verträge mit Leiharbeitsfirmen nicht erneuern. Rund 450.000 Arbeitskräfte sind allein auf diesem Wege seit 2008/09 in der Automobil- und Baubranche verschwunden, ohne dass Entlassungen hätten ausgesprochen werden müssen. Allein von Ende 2011 bis Anfang Dezember 2012 wurden insgesamt 73.600 Leiharbeitsstellen „abgebaut“.

Ein weiterer Vorteil aus Sicht des Arbeitgebers liegt darin, dass Leiharbeitskräfte bei Wahlen zu gewerkschaftlichen Vertretern und Betriebsräten nicht mitstimmen. Zum Teil suchen die Unternehmensführungen auch noch einen weiteren Vorzug darin, dass sie Leiharbeiter benutzen, um streikendes Stammpersonal zu ersetzen. Dies ist vom Gesetzgeber ausdrücklich verboten worden, und wenn es nachweisbar ist, kann der Arbeitgeber deswegen ohne Zweifel gerichtlich verurteilt worden. Dennoch wird es immer versucht, wobei man den Zusammenhang zwischen der Einstellung von Zeitarbeitern und dem Streik von Stammbeschäftigten zu verwischen versucht, etwa durch präventiven Rückgriff auf die Leiharbeit.

Öffentliche Arbeitgeber gehen dabei oft mit schlechtem Beispiel voran: In den neunziger Jahren wurde die französische Post aus diesem Grunde verurteilt, etwa wg. des Einsatzes von Leiharbeiter/inne/n im Streikfall im 5. Pariser Bezirk. (Vgl. etwa eine Entscheidung des Kassationshofs/Obersten Gerichtshofs in Zivil- und Strafsachen vom 19.05.1998 zwischen der Post und der CGT-PTT, dabei ging es um den ebenso verbotenen Einsatz von befristet Beschäftigten zwecks Streikbruchs.)

Zuletzt war dies übrigens noch am 04. September 2012 in Lons-le-Saunier im französischen Jura der Fall, aufgrund der Beschäftigung von Leiharbeiter(inne)n als Streikbrecher zwischen dem 23. und 29. April 2010; dafür wurde La Poste zu einer Geldstrafe in Höhe von 3.750 Euro sowie Schadensersatzzahlungen von 500 Euro an jede der drei klagenden Gewerkschaften verurteilt. (Vgl. http://www.cgt-fapt-37.com und http://www.leprogres.fr oder http://lci.tf1.fr/) Heute hat sie es allerdings im Allgemeinen weniger nötig, zum Zwecke des Streikbruchs auf Leiharbeiter/innen zurückzugreifen, da sie inzwischen genügend prekär Beschäftigte – etwa mit befristeten Arbeitsverträgen – unter dem eigenen Stammpersonal aufweist, die in aller Regel auch nicht streiken...

Editorische Hinweise

Der Artikel erschien als Beitrag zur europäischen Ebene für das Titelthema zur Zeit-/Leiharbeit in der Berliner Wochenzeitung ,Jungle World’ vom 13. Dezember 2012.  DIe vorliegende Version ist eine überarbeitete Langfassung des Autors für diese Ausgabe..