Einige Thesen zum (Neo-)Stalinismus
Ein Versuch aus aktuellem Anlass

von
Gerhard Hanloser

01-2013

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onlinezeitung

Sozialdemokratie und Stalinismus: zwei Gesichter der Konterrevolution

Das antirevolutionäre Wirken der Sozialdemokratie in der deutschen Revolution von 1918/1919, die von der Sozialdemokratie zustimmend geduldete Ermordung der führenden kommunistischen Köpfe – Liebknecht und Luxemburg-, aber auch die eingeübte sozialdemokratisch reformistische Grunddisposition der deutschen Arbeiterschaft haben die erhoffte weltweite Revolution, die unbedingt durch Deutschland hätte hindurchgehen müssen, verhindert. Der antirevolutionäre Stalinsche „Sozialismus in einem Land“ erhob sich auch auf den Folgen der deutschen sozialdemokratischen Konterrevolution.

Die Sozialfaschismus-These war eine direkt aus Moskau stammende Direktive, die die deutsche Sozialdemokratie in einer Phase, in der diese auf Annäherung an „den Westen“ – vor allem Frankreich – intendierte, angreifen sollte, weil die Sozialdemokratie den von der Sowjetunion in dieser Zeit verfolgten Kurs einer am Versailler Vertrag vorbei operierenden intensiven Zusammenarbeit mit Deutschland und der Reichswehr gefährdete.

Abgesehen von diesen außenpolitischen politischen Interessen traf jedoch die „Sozialfaschismus“-These bei der kommunistischen Basis auch auf einige Erfahrungswerte mit dem sozialdemokratischen Wirken, das die sozialistische-kommunistische Bewegung zuweilen mit repressiven Mitteln traf. Prominentes Beispiel hierfür war gegen Ende der Weimarer Republik der „Blutmai“ 1929 in Berlin, den der Berliner Polizeipräsident Karl Zörgiebel (SPD) zu verantworten hatte.

Lenin, Stalin, Trotzki

Wie verhält es sich mit Kontinuität und Buch zwischen Leninismus und Stalinismus? Sowohl Rätekommunisten und Anarchisten, die eine bloße Kontinuität unter negativem Vorzeichen behaupten, als auch Trotzkisten, die den Bruch überbetonen, sehen die Ambivalenzen nicht. Wobei die frühe Repressionspolitik der Bolschewiki an der Macht gegenüber anderen Revolutionsparteien und -strömungen (Anarchisten, linken Sozialrevolutionären, Syndikalisten) die anarchistische Kontinuitätsthese stützt. Rosa Luxemburg war nur eine der vielen Beobachterinnen aus der Ferne, die die autoritäre Politik der Bolschewiki scharf verdammte und frühzeitig und hellsichtig vor einer Parteiendiktatur warnte.

Zwar gab es noch in den 30er und 40er Jahren kluge Kritik am Stalinismus, die u.a. von Trotzki und der trotzkistischen Opposition, den Rätekommunisten, Anarchisten oder selbst der frühen Frankfurter Schule vertreten wurde – doch diese Kritik konnte sich nie zu einer machtpolitischen Alternative zu dem stalinistischen Weg der Sowjetunion verdichten. Machtpolitisch setzte sich unter dem Stalinismus in der Sowjetunion die politische Großlinie durch, der zu Folge das uneingeschränkte Primat der Sicherheits- und Außenpolitik, der Absicherung des nationalen Territoriums vorherrsche, die Absage an jeglichen Versuch einer „Weltrevolution“ war somit impliziert, was sich wiederum eindrucksvoll um 1968 zeigte, als sich die KPs (wie in Frankreich) auf die Seite der herrschenden Ordnung schlugen.

Stalinismus und Antistalinismus nach Stalin

Der eigentliche Kern Stalinistischer Herrschaft war letzten Endes mit dem Tod Stalins vorbei. Auch die sich anbahnende antisemitische Kampagne war durch den Tod Stalins beendet. Stalinismus als Herrschaftslogik, Machtstrategie und mentale Disposition sollte jedoch Stalin noch weit überleben. Bei aller Personenkult-Kritik Chruschtschows hielt sich der Personenkult in der „kommunistischen Weltbewegung“ und fand und findet vor allem in bäuerlichen Gesellschaften mit ihren personalisierenden Weltbildern eine willige Aufnahme. In diesen Bauerngesellschaften hatte eine stalinisierte Politik oftmals den Zweck verfolgt, das Land autoritär und staatsdirigistisch zu entwickeln.

In den 50er Jahren wurde – besonders in Frankreich, aber auch England - eine linke Stalinkritik ausgeübt (Orwell schon in den 40er Jahren, Sarte-Leford-Debatte in Frankreich in den 50ern), die schließlich in den 60er-Jahren von der außerparlamentarischen Bewegung aufgegriffen wurde. Das historische 1968 in Ost und West war eindeutig antistalinistisch, Rudi Dutschke und Daniel-Cohn-Bendit waren als bekennende Antistalinisten nicht umsonst Repräsentationsfiguren der 68er-Bewegung. Allerdings bildeten sich schon sehr bald ab 1969 maoistische Gruppen (in Frankreich waren diese schon 1968 aktiv) die unter dem Vorzeichen von Chinabegeisterung und „Revisionismus-Kritik“ die antiautoritäre Phase „aufheben“ wollen, jedoch eher beenden haben.

Der fehlwahrgenommene Stalin

Stalinismus wurde beständig als „revolutionär“ fehlrezipiert und bot sich so für sich subjektiv revolutionär Dünkende als Bezugspunkt subversiver Performanz an.

Nicht nur heutige konservative und neuere osteuropäische Historiker, sondern das falsche Alttagsbewusstsein im Kalten Krieg wollte in Stalin einen revolutionären Staatsmann, eine revolutionäre Bedrohung der „freien Welt“ sehen – im puren Umkehrschluss haben so Rebellen gegen den Zustand in eben dieser „freien Welt“ sich gerne auf die inkriminierte, und mit dem Adjektiv „revolutionär“ versehene Figur bezogen. In einer Umkehrung des falschen Alltagsbewusstseins schien so (in Westdeutschland ab1969) der Bezug auf Stalin und die Chinesische Revolution mit ihrer Stalin-Mao-Verehrung das ultimative Provokationspotential zu offerieren. Da Mao den „Revisionismus“ unter Chruschtschow und nach Stalin ablehnte und sich revolutionär inszenierte, meinten viele Revolutionäre, die Mao-Stalin-Linie verspreche noch Revolutionäres. Selbst in der DDR hefteten sich Oppositionelle in den 60er Jahren das Mao-Konterfei schlicht aus provokativem Bekenntnis gegen die verknöcherte DDR-Herrschaft an die Brust.

Sie deuteten den Maoismus falsch. Während nämlich unter Chruschtschow die Arbeiterklasse in einen sozialistischen Wohlstaatsfahrt geführt werden sollte, und in der Sowjetunion die Ideologie der Aufopferung und des Verzichts zurück gefahren wurde, erhoben Länder wie China und Albanien aufgrund ihrer Rückständigkeit und ihrer nachholenden Entwicklungsambitionen genau diese autoritäre Appell-Logik, die im Westen als „revolutionär“ missverstanden wurde. Davon abgesehen wurden die „Rebellion-ist-gerechtfertigt“-Sprüche nicht als das erkannt, was sie waren: ein Zugeständnis an die Aufbrüche der chinesischen Jugend, die von der Staatsführung wieder eingeholt werden sollte.

Neostalinismus heute?

Neostalinismus im wörtlichen Sinne findet sich heutzutage vornehmlich in „kommunistischen“ migrantischen Organisationen, die auf ihren Plakaten nicht nur Lenin und Mao, sondern auch Stalin huldigen. So ist nicht nur der Gedenkstein der Opfer des Stalinismus am Ende der Route des Luxemburg-Liebknecht-Gedenkmarsches alljährlich Stein des Anstoßes von vermeintlich „revolutionären“ Gruppen, sondern es wurden dort bereits antistalinistische Sozialisten, die sich deutlich gegen die positive Bezugnahme linker Zusammenhänge auf die Führerfiguren Stalin, Mao und Lenin wendeten, angegriffen. Neostalinismus sollte jedoch nicht nur als Wiederaufkochen eines Personenkultes verstanden werden, sondern beinhaltet ebenso den unkritischen Bezug auf vergangene bürokratische Herrschaft des „Realsozialismus“.

Pro-stalinistische Revisionismuskritik

Innerhalb des traditionskommunistischen Spektrums haben sich die letzten Jahre immer wieder Stimmen hervorgetan, die einen „Revisionismus“ in Form des XX. Parteitags beklagen. Offensichtlich läuft für diese Publizisten, Historiker und Kritiker die Entwicklung seit 1956 auf einen Ausverkauf des Ostens an den Westen hinaus. Ihr Neostalinismus ist Trauer über den Verlust des Realsozialismus, den sie nicht als ein gesellschaftliches Verhältnis im historischen Prozess untersuchen können, in dem genau die vormaligen treuen Stalinisten unter den gegebenen Verhältnissen von Systemkonfrontation, Ansprüchen der eigenen Bevölkerung, technischen Anforderungen agierten. Eine Person muss her, die für den „Ausverkauf“ verantwortlich ist: Ob nun Chruschtschow oder erst Gorbatschow, eines wissen diese pro-stalinistischen „Revisionismus“-Kritiker: Unter Stalin war alles besser. Dieser Neostalinismus ist eine Form der rückwärtsgewandten Nostalgie, begleitet aber auch intellektuell eine gewisse Stalin-Renaissance in Osteuropa, wo den Folgen der brutalen neoliberaler Deregulierung zuweilen besonders von alten Menschen mit Reminiszenzen begegnet wird.

Stalinismus durch Antifaschismus?

Der linke DDR-Oppositionelle Reinhard Schult warnt vor einem Neostalinismus und erklärt, dass über den Antifaschismus die sich organisierenden Altstalinisten den Sprung zur Radikalen Linke schaffen. Er erinnert an die Veranstaltung der Antifaschistischen Revolutionären Aktion Berlin (ARAB) vom Januar 2010 in dem NVA-Offiziere und die RAF-Aussteigerin Inge Viett die Stasi und ihre menschenverachtenden Operationen verharmlosten.

Doch die sich ab den späten 70er Jahren entwickelnde Antifa-Szene hat sich in diversen Organisationsdebatten und als Teil der autonomen Bewegung weitgehend antistalinistisch positioniert. Allerdings ergeht sich besonders die Strömung der antiimperialistisch ausgerichteten Antifa-Gruppen in merkwürdiger historischer Rehabilitierung des KP-Antifaschismus der 20er, 30er und 40er Jahre. Eine solche Vereinfachung der linken Traditionspflege zieht sich von der legendären Göttinger Antifa (M) der späten 80er Jahre bis zur heutigen ARAB und den Zusammen Kämpfen-Gruppen. Doch diese als „stalinistisch“ zu bezeichnen, ist verkürzt und wirkt diffamierend. Nicht jeder, der nicht erkennen kann, dass der KP-Antifaschismus der späten 20er Jahre durch die Sozialfaschismustheorie verdorben und in die außenpolitischen Erwägungen der Sowjetunion eingespannt war, kann als „Stalinist“ bezeichnet werden. Aufmerksam machen sollte man allerdings auf das eindrucksvolle Werk von Bernhard H. Bayerlein „Der Verräter, Stalin, bist Du!“. Darin wird das mörderische Ende der linken Solidarität für die Jahre 1939-1941 beschrieben, das von Stalin und der Sowjetunion besiegelt wurde. Angesichts des Hitler-Stalin-Pakts propagierten die Stalinisten strategisch einen „Antiimperialismus“, der den Antifaschismus verdrängen sollte und der merkwürdige Ähnlichkeiten mit der Nazi-Propaganda gegen die westlichen „Plutokratien“ aufwies. Auch der in größter Not 1941 ausgerufene große Vaterländische Krieg wurde von der Aktivierung des Nationalismus, der Auflösung der Komintern und der definitiven Absage an Emanzipation und Revolution begleitet.

Allerdings kann nach dem Angriff der Sowjetunion durch die Deutschen der Anteil der Sowjetunion an der Niederringung des Faschismus nicht deutlich genug betont werden. Ob der Sieg über die Nazis trotz oder wegen Stalin gelang, ist historisch allerdings weitgehend offen und zu diskutieren. Ein sozialgeschichtlich geprägter Blick kann sich allerdings nicht damit begnügen, lediglich den „Großen Drei“ – Stalin, Churchill, Roosevelt – dankbar zu sein. Es waren die einfachen Soldaten und Soldatinnen, die mit der Nazibarbarei Schluss machten.

Stalinistische Diskurslinien

Interessanterweise sind die intellektuell meist besser aufgestellten Gegner des Antiimperialismus aus dem Antifa-Milieu, die Antideutschen, alles andere als im Kern antistalinistisch. Zwar nehmen diese oftmals den historischen Stalinismus aufs Korn, den sie besonders wegen seiner antisemitischen Manöver und Strategien bekämpfen wollen, aber in ihrer Politikform selbst bleiben sie der stalinistischen Logik verhaftet. Ihr Hauptinteresse ist es, dem Staat Israel die bedingungslose Solidarität auszusprechen. Und diesen zeichnen sie in ähnlicher Weise wie die historischen Stalinisten des Kalten Krieges die Sowjetunion: Der Staat erscheint nur noch als Erbe des Faschismus und als Heimstätte der Opfer des Zweiten Weltkrieges. Geschichte wird eingefroren. Nicht umsonst verfährt die linke Monatszeitschrift konkret mit Israel und seinen Gegnern wie vormals mit der Sowjetunion und ihren Gegnern. Die militärische Stärke des Staates wird schlicht unterschlagen, um ein Bedrohungsbild zeichnen zu können. Alle internen Prozesse, Repressalien, sozialpolitischen Entwicklungen werden von dem Bild der außenpolitischen Bedrohung überdeckt. Der Stalinist warnte vor dem „objektiven Kalten Krieger“ und „objektiven Konterrevolutionär“ – das waren Dissidenten in der Sowjetunion oder linke Renegaten der kommunistischen Bewegung. Der Antideutsche kennt seinen „objektiven Antisemiten“ – das sind linke Kritiker der israelischen Regierung. Je profunder und herrschaftskritischer deren Analyse, umso grenzenloser fallen die Schmähungen aus wie beispielsweise gegenüber dem Kritischen Theoretiker Moshe Zuckermann.

In diesem Zusammenhang muss noch der Stalinismus als psychisches Phänomen der umfassenden Paranoia benannt werden. Er sieht sich als Bedrohter und agiert letzten Endes zur Abwehr der vermeintlichen Bedrohung mit autoritärer Politik der Diffamierung, der Unterstellung, der Erstellung von Listen, auf der vermeintlich gefährliche Widersacher vermerkt werden. Die „verfolgende Unschuld“ (Karl Kraus) als psychische Grunddisposition hatte im Stalinismus stets einen sicheren Platz.

Was heißt Entstalinisierung?

In der Partei DIE LINKE ist eine Stalinismus-Debatte geführt worden und die Spitzenkandidatin Sarah Wagenknecht, die in den 90er Jahren noch Chruschtschows Entstalinisierung als schlechten Wendepunkt und Anfang vom Ende des realen Sozialismus markierte und Stalin dahingegen als positive Figur zeichnete, hält es nun lieber mit Ludwig Erhard und der sozialen Marktwirtschaft als vermeintlichem Zukunftsprogramm. Man sollte das nicht vorschnell als Lernprozess goutieren. Der historische Stalinismus hat viele Gesichter: Er war in den 30er-Jahren der propagierten Volksfrontpolitik ein Konzept der aggressiven Anbiederung ans Bürgertum. Die reaktionäre Wendung in der Kulturpolitik, in der der realistische Sozialismus Familie, Arbeit, Vaterland hofierte, war kein Zufall und erfolgte zur gleichen Zeit, in der die – anarchistisch geprägte - spanische Revolution 1936 von GPU-Kommissaren mit zerschlagen wurde. Die aggressive Anpassung ans Bürgerliche der Sarah Wagenknecht im Zeichen der Krise von 2008 ff., die Reminiszenz gegenüber Erhards Wirtschaftswunder-Politik, die von der bundesrepublikanischen Revolte als das Einfahren der konsumistischen Früchte der mörderischen nationalsozialistischen Modernisierung be- und angegriffen wurde, muss viel eher als poststalinistisches Erbe, denn als gelungene Überwindung des Stalinismus begriffen werden.

Hintergrund der diversen Neostalinismen sind eine beispiellose Schwäche von Dissidenz, Autonomie, kritischem Denken und vor allem das Abhandenkommen von libertärer Staatsferne auch im außerparlamentarischen Milieu. Die „autoritäre Persönlichkeit“ (Adorno) sehnt sich schließlich besonders nach der Identifikation mit Machthabern.

(Für Hinweise und engagierte Diskussion danke ich Markus Mohr, eine genauere Ausarbeitung der Thesen folgt demnächst)

Editorische Hinweise

Den Artikel erhielten wir vom Autor für diese Ausgabe.