Was ist marxistische Erkenntnistheorie?
Teil 1: Vermögen wir unsere Umwelt richtig zu erkennen?

von M. Rosental

01-2015

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Einleitung

Es ist allgemein bekannt, welch ungeheure Rolle die Erkennt­nis im Leben des Menschen und im Leben der Gesellschaft spielt. Um zu existieren und ihr Leben zu verbessern, müssen die Men­schen sich die Natur Untertan machen und sie umgestalten. Das ist aber ohne Erkenntnis der Umwelt nicht möglich. Die Bedeu­tung der Erkenntnis für das Leben des Menschen fällt bei einem Vergleich des Menschen mit dem Tier besonders ins Auge.

Das Tier kann nur existieren, sofern es in der umgebenden Natur Existenzmittel findet. Es nimmt sie in fertigem Zustand: Pflanzen, Beeren, zur Nahrung geeignete andere Tiere. Das Tier ist jedoch außerstande, die Umwelt entsprechend seinen Bedürf­nissen umzugestalten, sie zu verändern. Um die Natur umzu­gestalten und sie den eigenen Bedürfnissen anzupassen, sind die natürlichen Organe der Tiere unzureichend. Mit Pfoten, Klauen und Zähnen können sie vorhandene Existenzmittel ver­wenden, nicht aber neue Lebensgüter schaffen. Dazu werden künstliche Werkzeuge benötigt. Jedoch ist kein Tier imstande, ein künstliches Werkzeug herzustellen, auch nicht das einfachste. Sogar ein hochentwickeltes Tier wie der Affe benutzt besten­falls einen Stock, um Früchte vom Baum herunterzuschlagen. Doch auch diesen Stock stellt der Affe nicht her, sondern findet ihn fertig vor.
Der Mensch beschränkt sich bei der Beschaffung von Existenz­mitteln nicht auf seine natürlichen Organe, die Hände und Füße. Er unterscheidet sich vom Tier vor allem dadurch, daß er künstliche Arbeitswerkzeuge schafft. Einfache Arbeitswerkzeuge sind der Hammer, das Beil, der hölzerne Pflug, komplizierter sind der eiserne Pflug und Maschinen. Nur mit Hilfe solcher Werk­zeuge kann der Mensch die Natur umgestalten, ihm nützliche Pflanzen züchten, die Kraft des Windes und des Wassers nutzen, Erze gewinnen.

Die Arbeit, das ist die Einwirkung auf die Natur mit künst­lichen Werkzeugen zur Erzeugung neuer Existenzmittel, spielt im Leben des Menschen eine gewaltige Rolle. Ohne Arbeit könnte die menschliche Gesellschaft nicht bestehen.

Ohne Kenntnisse kommt man in der Arbeit keinen Schritt vorwärts. Unmöglich ist die Herstellung selbst des einfachsten Gegenstandes ohne Kenntnis des Arbeitsprozesses und der Eigenschaften des Materials, aus dem er angefertigt wird.

Heute weiß jedes Kind, wie man Feuer macht. In der fernen Vergangenheit aber wußten das die Menschen nicht und ver­mochten sich des Feuers nicht zu bedienen, weshalb sie große Entbehrungen ertrugen und unter der Kälte litten. Es verging lange Zeit, bis sie lernten, Feuer zu machen und es zu nutzen. Seit der Mensch das gelernt hatte, drang er vermöge seiner Ar­beit immer tiefer in die Geheimnisse der Natur ein.

Die Arbeit half ihm, die Kräfte der Natur zu erkennen. Die Erkenntnis half ihrerseits, diese Kräfte immer besser und rascher zu meistern, sie sich dienstbar zu machen, also erfolgreicher zu arbeiten. Wenn die Erkenntnis eine so große Rolle spielt, ist es naturgemäß sehr wichtig, zu wissen, was Erkenntnis sei, wie der Mensch seine Umwelt erkenne, wie die Richtigkeit unserer Kenntnisse überprüft werde. Die richtige Betrachtung und Lö­sung dieser Fragen ist für die Erkenntnis der Welt von sehr großer Bedeutung; ihre unrichtige Lösung beeinträchtigt die Er­kenntnis und hemmt sie.

Die richtigen Antworten darauf gibt nur die marxistische Er­kenntnistheorie, deren Hauptsätze wir in dieser Broschüre dar­stellen wollen. Die marxistische Erkenntnistheorie oder Lehre von der Erkenntnis bildet einen wichtigen Bestandteil der philo­sophischen Wissenschaft, die als dialektischer Materialismus be­zeichnet wird.

Unter allen Problemen der Erkenntnistheorie ist die Frage da­nach, ob die Menschen fähig seien, die Welt zu erkennen, ob die Welt erkennbar sei, von besonders großer Bedeutung. Von ihrer richtigen Beantwortung hängt die Lösung der übrigen Fragen ab. Mit ihr wollen wir daher beginnen.

1. Vermögen wir unsere Umwelt richtig zu erkennen?

Jedermann wird, gestützt auf die eigenen Erfahrungen, ohne Zögern antworten: Ja, wir vermögen zu erkennen und erkennen auch die uns umgebenden Erscheinungen.

So sonderbar es auch sein mag, über diese Frage gab es im Ver­lauf vieler Jahrhunderte unter den Philosophen erbitterte Strei­tigkeiten, die noch heute andauern. Es gibt Philosophen, die der Ansicht sind, die Welt sei unerkennbar, und wir könnten von den Dingen nichts wissen. Diese Philosophen nennt man Agnostiker (das Wort Agnostizismus stammt von den griechi­schen Wörtern                                           .
Der Agnosti­zismus ist eine Form der idealistischen Philosophie. Jeder Agnostiker ist Idealist. Was aber ist idealistische Philosophie?

Von jeher, durch viele Jahrhunderte und sogar Jahrtausende wird in der Philosophie ein Kampf zwischen den zwei Haupt­lagern oder -richtungen ausgetragen. Diese zutiefst gegensätz­lichen Richtungen sind der Materialismus und der Idealismus.

Die Materialisten und die Idealisten beantworten die wich­tigste, die Hauptfrage der Philosophie - was in der Welt das Primäre und was das Sekundäre sei: die Materie, die Natur oder das Bewußtsein, die Ideen - auf gegensätzliche Art. Ist die Materie, die Natur durch das Bewußtsein, durch die Ideen her­vorgebracht worden, oder hat umgekehrt die Materie, die Natur das Bewußtsein und die Ideen erzeugt? Diese Frage ist deshalb grundlegend, weil von ihrer Beantwortung die Betrachtungsweise aller übrigen Fragen der Wissenschaft und der prak­tischen Tätigkeit abhängt. Diese oder jene Antwort bestimmt die verschiedenen Anschauungen von der Welt als Ganzes.

Als idealistisch wird eine Philosophie bezeichnet, die die Idee, den Geist, das Bewußtsein als das Primäre, das Entscheidende und die Materie, die Natur als das Sekundäre, von der Idee und dem Bewußtsein Abhängige ansieht. Ihrem Wesen nach unter­scheidet sich die Lehre der Idealisten nur wenig von der Reli­gion, vom Glauben an Gott. Wie die Religion lehrt, Gott habe die Erde, die Meere und Ozeane, die gesamte Pflanzen- und Tierwelt einschließlich des Menschen geschaffen, so behaupten auch die Idealisten, die Natur sei die Schöpfung einer geistigen Kraft. Sie setzen nur an die Stelle Gottes die „Idee", den „Geist". Vom Standpunkt der Idealisten aus hängt auch das gesellschaft­liche Leben der Menschen, die in der Gesellschaft herrschende Ordnung nur vom Willen, von den Ideen der Menschen ab. Die Ideen der Menschen seien es, vermöge deren diese oder Jena Ordnung des gesellschaftlichen Lebens bestehe. Ob die Men­schen in einer kapitalistischen oder einer sozialistischen Gesell­schaft leben, bestimmt sich der Theorie der Idealisten zufolge ausschließlich nach den Wünschen, den Ansichten und dem Be­wußtsein der Menschen.

Gegen den Idealismus kämpfen die materialistischen Philo­sophen. Gestützt auf die Wissenschaft, auf die wirkliche Lage der Dinge, beweisen sie, daß die Natur, die Materie das Primäre, das Bewußtsein, die Ideen aber das Sekundäre, durch die Ent­wicklung der Materie Hervorgebrachte sind. Sie werden Mate­rialisten genannt, weil sie die Materie und nicht die Ideen als das Primäre ansehen. In voller Übereinstimmung mit der Wis­senschaft betrachten sie die Materie als etwas ewig Bestehen­des. Die Materie, die Natur existierte bereits, als es noch keinen denkenden Menschen, ja, überhaupt noch kein Lebewesen gab, demnach auch kein Bewußtsein und keine Ideen geben konnte.
Die marxistische Philosophie ist materialistisch; der Marxis­mus vertritt beharrlich diese einzig richtige Weltanschauung.

Der Marxismus erklärt auch das gesellschaftliche Leben auf materialistische Art und zeigt, daß in der Entwicklung der Ge­sellschaft ebenfalls die materiellen Bedingungen des mensch­lichen Lebens das Primäre, das Entscheidende sind. Das Be­stehen dieser oder jener gesellschaftlichen Ordnung hängt nicht vom Willen des Menschen, sondern von den Bedingungen des materiellen Lebens der Gesellschaft ab.

Die Frage, was das Primäre und was das Sekundäre sei, ist nur eine Seite des Problems, das die Philosophen in das Lager der Materialisten und das Lager der Idealisten scheidet. Dieses Problem hat noch eine andere Seite, um die ebenfalls der Kampf zwischen den Materialisten und den Idealisten geht. Das ist die Frage danach, ob die Welt erkennbar sei, ob der Mensch ver­möge seiner Wahrnehmungen, Vorstellungen und Begriffe fähig sei, die ihn umgebende Wirklichkeit richtig zu erkennen.

Für die idealistische Philosophie ist charakteristisch, daß sie die Erkennbarkeit der Welt verneint. Zwar gibt es auch Idea­listen, die die Fähigkeit des Menschen, die wirklichen Eigen­schaften der Dinge zu erkennen, nicht verneinen; diese behaup­ten aber, der Mensch erkenne nicht die Natur, nicht die Ma­terie, sondern einen geheimnisvollen, unsichtbaren Geist, der die Natur geschaffen habe und die Grundlage aller Dinge sei. Wenn man die modernen Idealisten nimmt, die in den kapita­listischen Ländern auftreten, so sind sie fast alle Agnostiker, sie predigen nämlich, es sei unmöglich, die Welt zu erkennen.

Auch in diesem Punkt kämpfen die Materialisten gegen die idealistische Philosophie und gegen den Agnostizismus. Das wichtigste Merkmal der materialistischen Philosophie ist das Anerkenntnis der Tatsache, daß die Menschen fähig sind, die Welt zu erkennen, und daß sie sie erkennen. Die gesamten Er­fahrungen der Menschheit, die gewaltigen Fortschritte der Wis­senschaft bestätigen die Richtigkeit der materialistischen Philo­sophie und widerlegen die Theorien der Idealisten.
Wenn die idealistische Philosophie noch bis zum heutigen Tag existiert und ihre hoffnungslose Sache vertritt, so erklärt sich das hauptsächlich daraus, daß die Ausbeuterklassen der kapitalistischen Länder an ihr interessiert sind. Der bürgerliche Staat unterstützt die Idealisten in ihrem Kampf gegen die ein­zig wissenschaftliche, die materialistische Auffassung von der Welt. Das ist durchaus begreiflich. Die Bourgeoisie bemüht sich, zur Erhaltung ihrer Macht das Volk unwissend und ungebildet zu halten. Das erreicht sie nicht nur durch Gewalt, sondern auch durch Religion und Idealismus. Je schlimmer es um die Bour­geoisie bestellt ist, je entschlossener die Volksmassen gegen den Kapitalismus auftreten, desto umfassender werden beide Mittel zur Bekämpfung der Werktätigen eingesetzt.

Um besser zu begreifen, wie und mit Hilfe welcher Kniffe die Idealisten und Agnostiker ihre völlig falsche Theorie zu bewei­sen versuchen, es sei nicht möglich, die Welt zu erkennen, wollen wir annehmen, daß zwei Menschen ein Gespräch führen, von denen der eine die wissenschaftliche, die materialistische Philo­sophie vertritt und der andere den idealistischen Standpunkt, die Welt sei unerkennbar.

Der Materialist: Sie behaupten, wir Menschen könnten die uns umgebende Welt nicht erkennen. Beantworten Sie mir eine einfache Frage. Ich sehe einen Baum. Gibt es einen Zweifel, daß ich den Baum wirklich sehe? Wie kann man derart offensicht­liche Dinge verneinen?

Der Idealist: So offensichtlich das auch scheinen mag, sind Sie doch im Irrtum. Ihnen scheint es nur, Sie hätten es mit einem wirklich existierenden Baum zu tun. Tatsächlich haben Sie es aber nur mit Ihren Wahrnehmungen, Ihren Vorstellungen vom Baum zu tun. Der Mensch kann außer den eigenen Wahrneh­mungen und Vorstellungen von nichts anderem wissen. Und was ist Ihre Vorstellung vom Baum? Es sind die Wahrnehmung der Blattfarbe, die Wahrnehmung des Stammumfangs, die Wahrnehmung der Astanordnung usw. In Ihrer Vorstellung vom Baum ist außer diesen Wahrnehmungen nichts enthalten.

Der Materialist: Zugegeben. Doch woher stammen diese Wahrnehmungen des Menschen? Ist es denn nicht klar, daß ohne einen Baum auch keine menschliche Vorstellung vom Baum exi­stieren würde? Also ist es so, daß der unabhängig von mir exi­stierende Baum mir Wahrnehmungen vermittelt und in mir eine bestimmte Vorstellung erweckt, und daß diese Vorstellung mich nicht täuscht: Ich sehe wirklich einen realen Baum.

Der Idealist: Nein, so ist es nicht. Dem Menschen sind nur seine Wahrnehmungen gegeben; außer ihnen kann er nichts wissen. Die Frage, ob unsere Wahrnehmungen den Baum wider­spiegeln oder nicht, kann nicht beantwortet werden.

Der Materialist: Aber Sie haben meine Frage, wodurch meine Wahrnehmungen und meine Vorstellung vom Baum hervor­gerufen worden seien, nicht beantwortet.

Der Idealist: Diese Frage, ich wiederhole es, kann kaum oder, richtiger, gar nicht beantwortet werden. Möglicherweise gibt es außer unseren Wahrnehmungen tatsächlich Dinge, beispiels­weise Bäume, die diese Wahrnehmungen hervorrufen. Selbst wenn man das anerkennt, ändert es nichts an der Sache. Wir können nicht erfahren, was der Baum in Wirklichkeit sei, weil wir die Grenze unserer Vorstellung nicht überschreiten können.

Der Materialist: Wenn wir Ihrem Standpunkt entsprechend von den Dingen selbst nichts wissen können, welchen Sinn hat es dann, zuzugeben, daß diese Dinge tatsächlich existieren? Wäre es dann nicht richtiger, Ihren Standpunkt so aufzufassen^ daß es außer den Wahrnehmungen des Menschen nichts gebe, daß nur die vom Baum hervorgerufene Vorstellung existiere und nicht der Baum selbst?

Der Idealist: Ja, genaugenommen existieren nur meine vom Baum hervorgerufenen Wahrnehmungen und nicht der Baum an sich ... Aber warum lächeln Sie?

Der Materialist: Während ich Ihnen zuhöre, kommt mir in den Sinn, daß Sie im Gespräch mit mir auch an meiner Existenz zweifeln müssen. Wenn Ihre Ansicht ehrlich und offen zu Ende geführt wird, müßte jeder Mensch folgendermaßen denken: Nur ich allein existiere; alles übrige, die ganze Welt, das sind nur meine Vorstellungen; die Welt existiert nur insofern, als ich sie wahrnehme. An etwas Derartiges kann ein normal denkender Mensch kaum glauben. Daher lächle ich ...

Wir brechen das Gespräch der erfundenen Partner ab. Wir haben dem idealistischen Agnostiker keinen einzigen Gedanken untergeschoben, der nicht von idealistischen Philosophen aus­gesprochen worden wäre. Natürlich wagt nicht jeder Idealist, der diese Theorie vertritt, zu erklären, daß vom Standpunkt seiner Philosophie nur er allein existiere, während die ganze Umwelt bloß aus seinen, des Philosophen, Wahrnehmungen be­stehe. Das ist ein zu offensichtlicher Unsinn, als daß er mit Er­folg verteidigt werden könnte. Daher greifen die Idealisten zu verschiedenen Tarnungen, den wahren Sinn ihrer Theorie zu verdecken. Zu welchen Kniffen sie jedoch Zuflucht nehmen mögen, der Sinn ihrer Ansichten bleibt der gleiche: Sie ersetzen die Natur, die gesamte uns umgebende Welt durch menschliche Wahrnehmungen und "Vorstellungen.

Es muß betont werden, daß die angeführten Gedankengänge der Idealisten und Agnostiker über die Unerkennbarkeit der Dinge in der modernen bürgerlichen Philosophie vorherrschen. In den kapitalistischen Ländern verbreiten Hunderte von Büchern und Aufsätzen diese Lüge. Häufig ist es so, daß selbst bedeutende Gelehrte des Auslandes, die sich um die Wissen­schaft verdient gemacht haben, auf den Köder der Idealisten hereinfallen und vom richtigen Weg abweichen.

Indessen ist die idealistische Lehre der Agnostiker von An­fang bis Ende völlig falsch. Bestünden die Behauptungen der Agnostiker zu Recht, so wäre die Existenz des Menschen ein un­erklärliches Wunder. Wenn die Natur tatsächlich ein Geheimnis mit sieben Siegeln wäre, wie könnte sie der Mensch seinen Be­dürfnissen unterordnen? Wie könnte er Brot backen und Ma­schinen herstellen, Häuser bauen und sich gegen Krankheiten schützen?

Der Mensch bearbeitet den Boden, er pflügt, düngt und sät. Wenn sich die ersten Triebe zeigen, pflegt er sie, achtet darauf, daß sie genügend Feuchtigkeit erhalten, und entfernt das Un­kraut. Er weiß, daß das Ergebnis seiner Arbeit die Ernte sein wird. Warum ist der Mensch so sicher, daß diese ganze Arbeit ein günstiges Ergebnis zeitigen wird? Die Antwort ist klar: Weil er das Wesen der Pflanzen und ihre Bedürfnisse erkannt hat. Die tausend- oder zehntausendfach wiederholte Erfahrung be­stätigt sein Wissen, verbessert und vervollkommnet es, und die­ses Wissen hilft ihm, die Naturkräfte in seinem Interesse aus­zunutzen. Ohne Wissen, und sei es vorerst unvollständig, über die Eigenschaften des Bodens, des Samens und die pflanzlichen Wachstumsbedingungen könnte der Mensch kein Brot erzeugen.

Der Mensch will dem Metall eine bestimmte Form verleihen. Vollständig sicher geht er an die Sache heran. Er erhitzt das Metall auf eine bestimmte, ihm im voraus bekannte Tempera­tur. Das Metall schmilzt, jetzt kann er es in jede Form gießen. Was ist es, was dem Menschen auch in diesem Fall ermöglicht, so sicher zü handeln? Wiederum die Tatsache, daß er die wirk­lichen Eigenschaften des Metalls erkannt hat, daß er die Tem­peratur kennt, bei der es schmilzt.

Es ist noch nicht lange her, daß immer wieder Tausende von Menschen durch Epidemien dahingerafft wurden. So war zum Beispiel die Diphtherie eine schwere und gefährliche Kinder­krankheit, der gegenüber die Medizin früher fast ohnmächtig war. Gegen Ende des vorigen Jahrhunderts wurde der Erreger dieser Krankheit, der Diphtheriebazillus, entdeckt. Bald wur­den zuverlässige Mittel zur Bekämpfung der Krankheit gefun­den, die Serumbehandlung und die Schutzimpfung. Jetzt ist die Diphtherie für die Kinder nicht mehr so gefährlich.

Was besagen die angeführten Beispiele? Sie besagen, daß die Natur durchaus erkennbar ist. Diese Schlußfolgerung bestätigt sich nicht nur aus den Erfahrungen der menschlichen Gesell­schaft, sondern auch aus Beobachtungen des Tierlebens.

I. P. Pawlow hat die Lehre von der höheren Nerventätigkeit entwickelt und bewiesen, daß die Tiere nur existieren können, weil sie imstande sind, auf diese oder jene Änderung der sie umgebenden komplizierten Bedingungen richtig zu reagieren (anders gesagt, die Bedingungen der Umwelt richtig widerzu­spiegeln).

Natürlich darf diese tierische Reaktion auf die Wirklichkeit nicht mit der menschlichen Erkenntnis verwechselt werden. Von den Erfahrungen seiner Arbeit her erklärt der Mensch die Na­turerscheinungen, entdeckt er die Naturgesetze, stellt er wissen­schaftliche Theorien auf. Dazu ist kein Tier fähig. Das Leben des Tieres wäre jedoch unmöglich, wenn es nicht auf diese oder jene Eigenschaften der Dinge und des Milieus, in dem es sich befindet, richtig reagierte. Wahrhaftig, könnte denn ein Tier existieren, wenn es, statt sich vor dem Feuer zu fürchten, sich ins Feuer stürzen wollte? Oder würde das Tier nicht verhungern, wenn es nicht die Fähigkeit besäße, Nahrung zu suchen und zu finden? Wäre schließlich das Leben des Tieres möglich, wenn es nicht die Fertigkeit erlangt hätte, an einer Reihe von Merkmalen die Annäherung seiner Feinde zu erkennen?

Und doch werden die Tiere ohne viele derartige Fertigkeiten geboren, die ihnen gestatten, sich den schwierigen Lebensbedin­gungen anzupassen. Natürlich brauchen die Tiere beispielsweise nicht zu lernen, wie sie Nahrung zu sich nehmen; diese Fähig­keit ist ihnen von Geburt an eigen. Doch mit den angeborenen Fertigkeiten allein, die von Generation zu Generation vererbt werden, wären die Tiere nicht imstande, ihr Leben zu erhalten, weil die Verhältnisse, in die sie nach ihrer Geburt geraten, ver­wickelt und schwierig sind. Hinzu kommt, daß diese Verhält­nisse unbeständig sind, sich ändern, und zwar zuweilen sehr plötzlich. Auf solche Veränderungen müssen die Tiere richtig reagieren, andernfalls wären sie nicht imstande, sich der Um­welt anzupassen. Bei den höheren Tieren vollziehen sich diese Reaktionen auf dem Wege über ihr Gehim, in dem sich die Vorgänge der Umwelt, der Wirklichkeit, richtig widerspiegeln. Das allein setzt sie instand, sich zweckmäßig zu verhalten.

Was ist da die lächerliche Theorie der Idealisten wert, die behauptet, der Mensch könne außer seinen eigenen Vorstellun­gen und Empfindungen nichts wissen?

Die Welt ist erkennbar - das ist die einzig richtige Schluß­folgerung, die sich aus den gesamten Erfahrungen der Entwick­lung der menschlichen Gesellschaft, aus den großartigen Errun­genschaften der Wissenschaft und Technik ergibt.

Die Negierung der Erkennbarkeit der Umwelt durch die auf dem Boden des Idealismus stehenden Agnostiker deckt sich mit der religiösen Lehre von der Ohnmacht des menschlichen Ver­standes. Vom Standpunkt der Religion aus weiß und kann Gott allein alles, der Mensch aber soll blind an Gott glauben und sich mit seinem Schicksal abfinden. Die Religion verlangt vom Men­schen, daß er sich vor der „Allmacht" Gottes beuge und sich als klägliches, nichtiges Wesen betrachte, das unfähig sei, das Wesen der Dinge zu erkennen.

Die ungeheure Schädlichkeit der Lehre der Idealisten von der Nichterkennbarkeit der Welt besteht gerade darin, daß sie den menschlichen Verstand und die Praxis entwertet, den Menschen hilflos den Kräften der Natur gegenüberstellt. Diese Lehre wie­derholt in Wirklichkeit die religiöse Propaganda, der Mensch müsse sich vorgeblich unerkennbaren und geheimnisvollen Kräften in Natur und Gesellschaft beugen und sich in seiner Tätigkeit von dem Grundsatz leiten lassen: „Möge alles gehen, wie es geht." Eine derartige Richtschnur ist jedoch nur für die Ausbeuter von Vorteil und nicht für die Werktätigen.

Im Gegensatz zu Idealismus und Religion haben die Wissen­schaft und das praktische Leben des Menschen bewiesen, daß Gott und jegliche unerkennbare Kraft eine Fiktion, daß nur der Verstand und die Arbeit des Menschen im wahren Sinne des Wortes allmächtig sind.

Somit sind wir zu der Schlußfolgerung gelangt: Der Mensch ist mit Hilfe seiner Wahrnehmungen, Vorstellungen und Be­griffe auf der Basis der Arbeit und der praktischen Tätigkeit fähig, die Wirklichkeit zu erkennen, und er erkennt sie auch.

Es erhebt sich nun die Frage: Wie und wodurch entstehen unsere Wahrnehmungen und unsere Vorstellungen; was ist Er­kenntnis?

Editorische Hinweise

M. Rosental: Was ist marxistische Erkenntnistheorie?, Berlin 1956, S. 3-13