Stadtumbau & Stadtteilkämpfe
Modifizierter Auszug
Vorsätzliche Wohnungsnot im Reichtumsland Bundesrepublik Deutschland – 2014/2015 –

von Reinhold Schramm

01-2015

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onlinezeitung

Eine deutschlandweite Statistik zur Wohnungslosigkeit gibt es nicht. Es fehlen repräsentative statistische Erhebungen in der Bundesrepublik, um sozial- und finanzpolitische Rahmenbedingungen für die Bekämpfung von Wohnungsnot und Wohnungslosigkeit zu schaffen.

Mit der Statistik der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosigkeit (BAG W) werden Daten von denjenigen erhoben, die in den Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe Hilfe suchen. Auf dieser Basis nimmt die BAG W Hochrechnungen vor. Diese Daten geben Hinweise auf die Struktur von Wohnungslosigkeit und mögliche Strategien zu ihrer Überwindung.

Im Jahr 2012 lebten rund 284.000 Menschen in Deutschland ohne Wohnung („Wohnungslose“). Diese Zahl ist seit 2010 um 15 Prozent gestiegen. Ohne jede Unterkunft auf der Straße lebten 24.000 Personen (Anstieg seit 2010 um 10 Prozent). Für 2012 wurden 65.000 neue Wohnungsverluste gezählt, darunter rund 25.000 Zwangsräumungen. Bei 130.000 Personen stand der Verlust der Wohnung unmittelbar bevor. Für 2012 wurden 414.000 Wohnungsnotfälle geschätzt. Im Jahr 2008 waren es noch 354.000 gewesen.

Von den Wohnungslosen sind laut Einrichtungsstatistik aus der Wohnungslosenhilfe:

• 64 Prozent allein stehend

• 36 Prozent leben mit Partner/in

• 89 Prozent erwachsen

• 11 Prozent Kinder und Jugendliche

Von den erwachsenen Wohnungslosen sind:

• 75 Prozent Männer

• 25 Prozent Frauen

Wohnungsnot und ihre Hintergründe

Nach Erhebungen des Statistischen Bundesamtes für 2011 lebten 7 Prozent der Bevölkerung in überbelegten Wohnungen, EU-weit 17 Prozent.

Die Überbelegungsquote lag unter armutsgefährdeten Personen (weniger als 60 Prozent des mittleren statistischen Einkommens) mit 20 Prozent fünf Mal höher als unter Nicht-Armutsgefährdeten (4 Prozent). Bei den Leistungsberechtigten in der Grundsicherung lag die Überbelegungsquote bei 22 Prozent. / Als überbelegt gilt eine Unterkunft, wenn Personen über 18 Jahren oder Paaren kein eigener Raum zur Verfügung steht oder mehr als zwei Kinder unter 12 Jahren in einem Raum untergebracht sind.

Entsprechend den – mit der europäischen Vergleichsstatistik– erhobenen Daten mussten 46,3 Prozent der von Armut bedrohten Haushalte (Armutsrisikoquote: weniger als 60 % des mittleren statistischen Einkommens) in Deutschland im Jahr 2010 mehr als 40 Prozent des Haushaltseinkommens für Wohnkosten ausgeben. Bei Haushalten mit höheren Einkommen 16,1 % für Wohnkosten. –

Von Armut bedrohte Familien ohne Anspruch auf Grundsicherungsleistungen haben nach Abzug der Wohnkosten weniger Mittel zur Verfügung, als in den (geringen) Regelsätzen für die Grundsicherung vorgesehen ist.

Neuvertragsmieten, Altersarmut und Wohnungsnot

Von 2008 bis 2013 stiegen die Mieten in München um 14,4 Prozent sowie in Hamburg und Berlin um fast 20 Prozent. Der Engpass auf dem Wohnungsmarkt betrifft insbesondere westdeutsche Großstädte.

Nicht nur die Altersarmut ist in den letzten Jahren gestiegen. Nach der Studie „Wohnen 65plus“ fehlen in Deutschland 2,5 Millionen Senioren-Wohnungen. Wohnungsnot im Alter oder der Verweis auf Pflege- und Altenheime mit entsprechenden Folgekosten drohen.

Politischer Hintergrund von Wohnungsnot

Durch die Zunahme von Einkommensarmut, schlechte Arbeitsverhältnisse und unsicheren Lebensverhältnissen steigt der Bedarf an preisgünstigem und bezahlbaren Wohnraum. Dieser Wohnraumbedarf wird aber nicht gedeckt.

Hauptursache für die zunehmende Wohnungsnot in Deutschland sind der deutliche Anstieg von Mietpreisen und die Zurücknahme des staatlich geförderten Wohnungsbaus. Neue Programme für den sozialen Wohnungsbau werden nicht aufgelegt. Bisherige Sozialwohnungen fallen aus der Mietpreisbindung heraus.

In wirtschaftlich benachteiligten Regionen ist Wohnungsleerstand zwar immer noch weit verbreitet, führt aber nur begrenzt zu einem besseren Zugang benachteiligter Personengruppen zu angemessenen und bezahlbaren Wohnungen.

Die Notwendigkeit von Hilfen zum Wohnen oder gegen Wohnungslosigkeit wird in vielen Kommunen verneint. Wohnungen werden eher leer stehen gelassen, als nach sozialen Kriterien vermietet.

Viele Bundesländer konzentrieren sich in der Wohnungspolitik auf die Förderung von Wohneigentum — dessen Erwerb im unteren Einkommenssegment jedoch nicht möglich ist.

Armut und Wohnungsnot

Haushalte mit einem mittleren Einkommen haben bereits Schwierigkeiten, eine angemessene Wohnung zu erhalten. Besonders schwierig ist die Situation bei Haushalten mit einem geringen Einkommen:

Die Mieten und Wohnungsbeschaffungskosten (Kaution, Courtage, Genossenschaftsanteile, Bürgschaften) sind zu hoch und können kaum aufgebracht werden.

• Haushalten mit geringem Einkommen bleiben nur schlecht ausgestattete und zu kleine Wohnungen.

• Isolation und mangelnde soziale Integration sind ein großes Problem. Für einkommensarme Haushalte mit guter Wohnlage wird es zunehmend schwer, Wohnungen zu halten. Es gelingt seltener, Wohnungen in guter Wohnlage zu halten.

Eine Verknappung von Wohnraum führt zu einer zunehmenden sozialen Selektion auf dem Wohnungsmarkt in Deutschland. Nur „Solvente“, „unproblematische“ Mieterinnen und Mieter haben Zugang zu menschenwürdigen Wohnlagen, während andere soziale Personengruppen in Randbereiche verdrängt werden.

Viele Kommunen haben die Instrumente für eine soziale Wohnungspolitik nicht entwickelt. Wohnungsversorgungskonzepte liegen nicht vor oder werden nicht umgesetzt.

Soziale Ausgrenzung am Wohnungsmarkt

Einkommensarmut und Wohnungsnot stehen in einem engen Zusammenhang. Auch Werktätige, die in Vollzeit zu geringen Tariflöhnen arbeiten und nur für sich selbst sorgen müssen, werden durch die Mietkosten häufig unter die Armutsschwelle gedrückt. Die weiteren Aspekte führen zu sozialer Ausgrenzung und zu ausgeprägter Armut. Sie verschlechtern neben einem geringen Einkommen den Zugang zu angemessenem Wohnraum noch weiter.

Erwerbslose und Beziehende von Grundsicherungsleistungen verfügen nur über ein zu geringes Einkommen. Angemessenen Wohnraum zu finden ist für sie genauso schwierig wie die Sicherung der Wohnung im vertrauten Umfeld. Viele Grundsicherungsbeziehende werden von den [staatlichen Exekutions-] Behörden aufgefordert, ihre Wohnkosten zu senken und ihr gewohntes Umfeld zu verlassen. Sie werden in Stadtquartiere abgedrängt, die billige Wohnungen im schlechtem Zustand bieten – und in denen sich dann soziale Probleme verfestigen. Ihre Bewohner werden noch weiter stigmatisiert und haben immer schlechtere Chancen auf einen Arbeitsplatz oder eine bessere soziale Integration. [Anmerkung: Dieser Zustand dient als abschreckendes Beispiel und hält die Unbotmäßigen auf dem Menschen- und Arbeitsmarkt noch fester unter der erwünschten Fremdbestimmung und (negativen) Selbst-Kontrolle.R. S.] Bei der Verdrängung in Außenbezirke entstehen zudem Fahrkosten, die die Haushalte zusätzlich belasten [und den Zugang zum Arbeitsmarkt (vorsätzlich) noch weiter erschweren.]

Viele Wohnungen von Familien mit geringem Einkommen sind zu klein und schlecht ausgestattet. Die soziale Infrastruktur des Wohnquartiers bis hin zu Betreuungsmöglichkeiten, Bildungsangeboten und gesundheitlicher Versorgung ist oft schlecht. Vor allem Alleinerziehende (in ihrer großen Mehrheit vor allem Frauen) sehen sich aufgrund ihres erhöhten Armutsrisikos zusätzlichen Beschränkungen am Wohnungsmarkt ausgesetzt.

Die Verselbständigung junger Menschen wird stark behindert, durch die Schwierigkeit oder Unmöglichkeit, Wohnraum anzumieten. Bei den Vermietern existieren erhebliche Vorbehalte gegenüber jungen (eigentumslosen) Menschen als Mieter. Verschärft werden diese Probleme durch die fehlende Möglichkeit der Wohnungssuchenden, Bürgschaften, Mietsicherheiten und Kaution aufzubringen. Zudem bestehen während des laufenden Bezugs von Grundsicherungsleistungen (Hartz IV etc.) hohe Hürden, vor dem 25. Geburtstag die elterliche Wohnung [aus behördlichen Kostengründen] verlassen zu dürfen. / Verdeckte Wohnungslosigkeit und das vorübergehende Unterkommen bei Bekannten sind insbesondere bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen weit verbreitet.

Für Menschen mit Behinderungen und finanzieller Armut ist die „ganz normale“ Integration in Nachbarschaften und Quartiere ein erhebliches Problem, das durch den großen Mangel an barrierefreien Wohnungen verschärft wird. Kurze Wege sind so nicht gewährleistet. Der Sozialhilfeträger finanziert in der Regel nicht die notwendigen Hilfen bei der Wohnungssuche. Zudem wollen Vermieter häufig eher einen Mietvertrag mit dem Sozialhilfeträger abschließen als mit dem Leistungsberechtigten.

Bei zunehmenden körperlichen Einschränkungen wird es auch für ältere Menschen immer schwieriger, barrierefreie (und bezahlbare) Wohnungen zu finden. Zudem sind ältere Menschen häufig einem Kündigungsdruck ausgesetzt. / Viele ältere Menschen werden in Altenheime verdrängt, weil günstiger, bezahlbarer und angemessener Wohnraum fehlt.

Viele Menschen, die als „ausländisch“ bzw. „fremdländisch“ wahrgenommen werden, haben erhebliche Nachteile bei der Wohnungssuche. Rassistische und fremdenfeindliche Zuschreibungen beziehen sich auf Merkmals, die die Menschen selbst nicht beeinflussen können.

Außerordentlich schwierig und problematisch ist die Wohnsituation von Menschen mit unsicheren Aufenthaltsstatus. Flüchtlinge sind gesetzlichen Sonderregelungen unterworfen, die ihnen den Zugang zum Wohnungsmarkt systematisch versperren. Integration ist unter solchen Bedingungen kaum möglich und wird auch [gesellschafts-] politisch nicht gewollt.

Weitere Personen und Haushalte mit besonderen sozialen Problemen haben auf dem Wohnungsmarkt kaum eine Chance:

• Überschuldete Haushalte
• Haushalte ohne positive Mietschuldenfreiheitsbescheinigungen
• Personen mit besonderen gesundheitlichen Einschränkungen
• Suchtkranke
• Jugendliche, die in stationären Einrichtungen der Jugendhilfe gewohnt haben.
• Haftentlassene

Editorische Hinweise

Es handelt sich um einen  modifizierten Auszug, aus:

Gewährleistung von Wohnraum als Teil eines menschenwürdigen Existenzminimums. Bezahlbaren und angemessenen Wohnraum sichern. Diakonie Texte, Positions- und Fachpapier, 04.2014. August 2014 /

Die Texte der Publikationsreihe sind im Internet frei zugänglich. Sie können zu nichtkommerziellen Zwecken heruntergeladen und vervielfältigt werden.

www.diakonie.de/diakonie-texte-9043.html

Der Text wurde uns vom Autor für diese Ausgabe zur Verfügung gestellt.