Bernard Schmid berichtet aus Frankreich

Antisemitismus in Frankreich
und Die Tat von Créteil

01-2015

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Anderthalb Stunden Bangen um das eigene Leben, sexuelle Gewalt, antisemitische Beschimpfungen und Bedrohungen – das musste ein junges Paar am Montag, den 1. Dezember 14 in der Pariser Vorstadt Créteil über sich ergehen lassen. Der 21jährige und seine 19jährige Freundin wurden bei sich zu Hause im Quartier du Lac, einem beschaulichen Stadtteil von Créteil, das ansonsten auch soziale Brennpunkte und Hochhauswüsten aufweist, überfallen. Die junge Frau hatte einem Unbekannten die Tür geöffnet, nachdem sie geglaubt hatte, sein Gesicht wiederzuerkennen. Drei maskierte Täter stürmten daraufhin in die Wohnung, fesselten die beiden und vergewaltigen die junge Frau vor den Augen ihres Freundes.

Die antisemitische Dimension der Tat ist offenkundig, weil die Täter im Laufe der anderthalb Stunden häufig wiederholten: „Ihr Juden habt Geld, das steht fest, und Ihr Juden tragt es nicht auf die Bank.“ Da die beiden sowie ihre Eltern ihr Geld allerdings entgegen der Annahme der Täter nicht zu Hause aufbewahren, fanden sie keine Beute. Unterdessen mussten die Opfer antisemitische Beschimpfungen über sich ergehen lassen, und mehrere das Judentum symbolisierende Gegenstände wie eine Menorah wurden zu Boden geworfen oder von der Wand gerissen. Zunächst kündigten die Täter an, auf die Eltern warten zu wollen, um doch noch Geld zu erbeuten. Dann überlegten sie es sich anders und suchten das Weite.

Das Verbrechen wurde am Mittwoch, den 3. Dezember 14 publik. Am selben Tag waren bereits drei Tatverdächtige festgenommen worden: zwei der Teilnehmer an dem Überfall und ein dritter junger Mann, der beim Auskundschaften des späteren Tatorts beobachtet worden war. Der dritte Mittäter, der sich ebenfalls in der Wohnung aufhielt, war hingegen noch flüchtig. Nach ihm wurde noch gefahndet. Am 26. Dezember 14 wurde in diesem Zusammenhang dann eine neue Festnahme mit folgender Einleitung eines Strafverfahrens vermeldet; vgl. http://www.lemonde.fr/

Ansonsten drang über das Profil der Täter bislang wenig nach außen. Bekannt wurde lediglich, dass sie schon zuvor einen weiteren ähnlichen Überfall begangen hatten, am 10. November desselben Jahres, als sie einen alten Mann in seiner Wohnung fesselten. Aus einem Vernehmungsprotokoll, zu welchem die Tageszeitung ,Libération' Zugang hatte, scheint sich allerdings zu ergeben, dass die Täter arabischer bzw. afrikanischer Herkunft zu sein scheinen – das erstgenannte Profil für den Anführer, das letztgenannte Profil für die beiden Ausführungsgehilfen. Auf die Frage nach einer „besonderen Aggressivität in Bezug auf das Judentum“ verneint die angegriffene junge Frau allerdings die so gestellte Frage und betont, es sei ihnen vor allen Dingen „um Geld“ gegangen. Vgl. http://www.liberation.fr

Mehrere hundert Menschen versammelten sich am Sonntag Vormittag (den 06. Dezember 14) in Créteil, in der Nähe der überfallenen Wohnung, zu einer Kundgebung. Die Teilnehmer waren darum gebeten worden, politische Erkennungsmerkmale außen vor zu halten. Innenminister Bernard Cazeneuve erklärte zeitgleich dazu, „der Kampf gegen Antisemitismus und Rassismus“ müsse als dringliche „nationale Angelegenheit“ behandelt werden. Er rief die Präfekten, die juristischen Vertreter des Zentralstaats in den französischen Départements, dazu auf, alle ihn bekannt werdenden antisemitisch oder rassistisch motivierten Taten – auch Propagandadelikte – bei der Staatsanwaltschaft zu melden. Dies könnte dabei helfen, die Staatsanwaltschaft zu motivieren, systematischer zu ermitteln und das strafverschärfende antisemitische oder rassistische Tat- oder Begleitmotiv nicht zu vernachlässigen.

Ähnlich wie bereits im Mordfall von Ilan Halimi im Jahr 2006, bei dem ein 23jähriger Pariser Jude entführt, als Geisel festgehalten und drei Wochen lang misshandelt worden war, mischen sich bei der vorliegenden Tat pure antisemitische Beweggründe und materielle Tatmotive in Gestalt des Bereicherungswunschs. „Juden haben Geld“, dieses Stereotyp liegt der Entführung von Halimi ebenso zugrunde wie dem Überfall in Créteil. Ilan Halimi war ein junger Verkäufer in einem Telefonladen und besaß keine Reichtümer, ebenso wenig wie seine Familie. Die Entführer, die sich selbst als „Gang der Barbaren“ bezeichneten, meldeten sich damals auch telefonisch bei einem Rabbiner und forderten ihn auf, „Geld in Euren Synagogen zu sammeln“. Das ideologische Strickmuster war damals und ist heute identisch: Juden halten zusammen und haben notwendig mit Geld zu tun.

Umstrittene Studie

Am 14. November 2014 wurde eine Studie des bekannten, konservativen Politikforschers Dominique Reynié publiziert, die das Festsitzen antisemitischer Ressentiments und Ideologieelemente in Teilen der französischen Gesellschaft belegt. Die Untersuchung besteht aus zwei Teilen: Im ersten wurden 1005 Personen aus der Bevölkerung nach ihren Parteipräferenzen befragt und im Anschluss auf ihre Anfälligkeit für antisemitische Argumentationen hin getestet. Im zweiten Fall wurden 575 Personen aus der muslimischen Bevölkerung befragt, wobei dieser zweite Teil der Studie sehr umstritten ist. Da die Speicherung ethnisch oder konfessionnel konnotierter Daten in Frankreich unter das „Verbot ethnischer Statistiken“ fällt, konnten die Meinungsforscher in diesem Bereich nicht Menschen bei sich zu Hause anrufen. Deswegen nahmen sie ihre Studie auf der Straße vor, nach dem Zufallsprinzip. Dies ist jedoch methodisch sehr umstritten, und die Politikforscherin Nonna Meyer – eine der besten Spezialistinnen für die extreme Rechte in Frankreich – widersprach am vergangenen Wochenende diesem Vorgehen in einem Gastbeitrag für Le Monde. Sie befürchtet, dass optische Erkennungsmerkmale wie auffällig an den Tag gelegte religiös-kulturelle Symbole dabei die Meinungsforscher orientiert haben könnten, während die Mehrzahl der Muslime unauffällig lebt und ihre Religion als Privatsache betrachtet.

Im Ergebnis berichten Reynié und sein Team, dass neun Prozent der Gesamtbevölkerung und elf Prozent ihrer als muslimisch definiertgen Auswahlgruppe zwei unter mehreren angebotenen, antisemitischen Aussagen zustimmen. Nur einer solchen Aussage unter mehreren stimmen demnach 13 Prozent in der ersten und 18 Prozent in der zweiten Vergleichsgruppe zu. Zu den angebotenen Antworten gehören „ein zu großer Einfluss von Juden in der Politik“ oder auch „die Verantwortung von Juden für die Wirtschaftskrise“ – die letztgenannte Antwort erhält mit sechs Prozent im Durchschnitt den geringsten Zustimmungswert. Aber auch ob Israels Palästinapolitik „rassistisch“ sei wurde gefragt, was auf die Gefahr einer unzulässigen Vermischung doch höchst unterschiedlicher Betrachtungsebenen hindeutet.

Unter den Anhänger/inne/n politischer Parteien stufen die Meinungsforscher die Wählerschaft der Grünen – unter deren Anhängern widersprachen 62 Prozent allen angebotenen, als antisemitisch gewerteten Aussagen – als am resistensten ein. Umgekehrt besteht demnch die geringste Resistenz gegenüber antisemitischen in der Anhängerschaft des Front National, in welcher nur 25 Prozent alle Aussagen ablehnten. (Es waren jeweils Antworten im Sinne von „dafür“, „dagegen“ sowie „keine Meinung“ zugelassen.)

Dieudonné & Alain Soral

Nicht wenig zu diesem Klima beigetragen hat die Enthemmung antisemitischer Ressentiments durch einen vorgeblichen Kunstschaffenden in Gestalt des Theatermachers Dieudonné M’bala M’bala, der seinen Vor- als Künstlernamen benutzt und vor allem unter jungen Leuten mit und ohne Migrationshintergrund ein Publikum für sein Théâtre de la Main d’Or im 11. Pariser Bezirk findet.

Inhaltlich ebenso wie zeitlich ist ein enger Zusammenhang zwischen seinen Vorstößen zu Anfang dieses Jahres und einem steilen Ausschlag nach oben, der bei den antisemitisch motivierten Straftaten zu beobachten war. So schreibt das Onlinemagazin Mediapart, 85 antisemitische Vorfälle seien in engem zeitlichen Zusammenhang mit der bislang letzten spektakulären „Dieudonné-Affäre“ beobachtet worden. Im Januar 14 hatte der damalige Innen- und jetzige Premierminister Manuel Valls einen Auftrittsverbot gegen Dieudonné verhängt, nachdem dieser sich im Dezember 2013 gegenüber einem prominenten Radiojournalisten in eindeutigen Anspielungen ergangen hatte: „Wenn ich an Patrick Cohen denke, sage ich mir: die Gaskammern – schade...“

Dieudonné berief und beruft sich darauf, doch nur ein Künstler zu sein und Satire zu betreiben. Immer dann, wenn man ihn strafrechtlich zu packen versucht, beruft er sich darauf, es doch nicht ernst gemeint zu haben. Auf diese Weise dehnt er die Provokationen immer weiter aus, so forderte er 2013 in einem Video auch die Freilassung von Youssouf Fofana. Auch anlässlich der Verbotsauftritte im Januar stellte er sich als verfolgte Unschuld eines Meinungsterrors dar. Es ist zu befürchten, dass Dieudonné zumindest im Januar in den Augen eines Teils der Öffentlichkeit als moralischer Sieger dastehen konnte. Denn in der breiten Öffentlichkeit war die Affäre erst wahrnehmbar, als Valls das Bühnenverbot verhängte. Über die Äußerung betreffend Patrick Cohen und die deswegen erstattete Strafanzeige der Rundfunkanstalt Radio France wurde zwar ebenfalls berichtet, aber nicht in den Hauptschlagzeilen, und die Anzeige fiel in die Zeit zwischen Weihnachten und Neujahr. Was in der breiten Öffentlichkeit ankam, war also eher die „Zensurmaßnahme“ als ihr Anlass, was Dieudonné für sich auszunutzen versuchte.

Eine vergleichsweise positive Nachricht, in diesem Gesamtzusammenhang, bildet unterdessen das grandiose Scheitern des Versuchs, eine Partei mit Schwerpunkt auf den Banlieues zum Hauptzweck der Mobilisierung antisemitischer Ressentiments zu gründen. Das am 11. November 14 offiziell proklamierte Parteigründungsprojekt des hauptberuflichen Antisemiten und „Schriftstellers“ Alain Soral sowie seines langjährigen Kumpans Dieudonné bietet den Anblick eines Scherbenhaufens. Heute fragen sich viele Beobachterinnen und Beobachter auch, ob nicht die Ankündigung, zum Stadium einer Parteigründung überzugehen, bereits den Ausdruck einer „Flucht nach vorne“ darstellte - zu einem Zeitpunkt, als sich die Schwierigkeiten bereits häuften.

Im Laufe des Herbst 2014 hatten Dieudonné und Soral verkündet, ein Partei unter dem Namen Réconciliation nationale („Nationale Aussöhnung“) aufzubauen. Doch seitdem häufen sich nur die Nachrichten über die Abgänge von ehemaligen Getreuen. Alain Soral und Dieudonné haben sich mit zahlreichen, bisher engen Mitarbeitern überworfen. Denn das, was die gerne auf Juden projizierten – grenzenlose „Raffgier“, Geld- und Sexgier – praktizierten die beiden selbst.

Dieudonné machte vor allem durch hemmungslose Bereicherung und Steuerbetrug auf sich aufmerksam. Soral ließ sich durch Mitarbeiter „Frischfleisch“ zutreiben, in Gestalt von jungen Frauen, oft mit Migrationshintergrund, die für „die Dissidenz“ aktiv sein wollten. Bei einer jüngst publik gewordenen Affäre ging es um eine schwarze Sängerin namens Bintu, die von Alain Soral sexuell belästigt wurde, nachdem sie für ihn hatte künstlerisch aktiv werden wollen. Er versandte ihr SMS-Nachrichten mit Fotos von seinem ausgefahrenen Geschlechtsteil. Die junge Frau ging nicht auf das Ansinnen ein, bewahrte die Nachrichten jedoch auf und machte sie in ihrem Milieu öffentlich. Bis dahin hatten Dieudonné und Soral vor allem davon profitiert, dass viele junge Rapsänger und andere Künstler sich von der etablierten Kulturindustrie ausgebeutet fühlten und dank Sorals Verlag und seiner starken Präsenz im Internet zu Bekanntheit kommen wollten.

Dieudonné und Soral behaupteten, eine moralische Alternative zur Kulturindustrie darzustellen. Das Bekanntwerden solcher Praktiken hat diese Illusion nun definitiv platzen lassen. Ein anderer Protagonist, Jérémie Maradas-Nado alias „Joe Dalton“, hatte jahrelang unbezahlt Wach- und Sicherheitsdienst geleistet. Als er sein Geld reklamieren wollte, zeigte Dieudonné ihn wegen Erpressungsversuchs an, und er wurde von Alain Soral nahe stehenden Polizisten misshandelt, bevor sie ihn ohne Anklage laufen lassen mussten.

Am Wochenende des 06./07. Dezember 14 publizierte Libération auf vier Seiten die Aussagen solcher „Dissidenten der Dissidenz“; vgl. http://www.liberation.fr/ - Neben dubiosen Geschäftspraktiken erzählen sie auch von den antisemitischen und paranoiden Obsessionen, die im inneren Führungskreis geherrscht hätten. In den Banlieues haben sich ihre Erlebnisse lÄngst herumgesprochen. Dieudonné und Alain Soral dürften dort nun in breiten Kreisen erledigt sein. Die Ideologie und die Ressentiments, derer sie sich bedienten, sind es damit jedoch nicht.

Editorische Hinweise

Den Artikel erhielten wir vom Autor für diese Ausgabe.