Die Linke tut sich schwer mit dem
Erbe Rosa Luxemburgs. Rechte Sozialdemokraten würden damit am
liebsten gar nichts zu tun haben. Das revolutionäre Erbe
empfinden sie als unangenehme Belastung ihrer eigenen Tradition,
die darin besteht, die Lohnabhängigen in das kapitalistische
System zu integrieren. Mit der Niederschlagung der deutschen
Revolution und der Ermordung von Luxemburg und Karl Liebknecht
lieferten sie den historischen Beweis, dass sie bereit sind,
entschlossene Kämpfe gegen das Lohnsystem im Blut zu ersticken.
In anderen Teilen der Linken geht
die Mode um, das Erbe Luxemburgs in Ehren zu halten, es aber
zugleich zu verharmlosen, zu banalisieren und zu entstellen. Man
entfernt daraus die revolutionäre Seite, also genau die Punkte,
weshalb Luxemburg ermordet wurde. Luxemburgs Lehren sollen
„fruchtbar“ gemacht und als „Anknüpfungspunkt“ dienen für ein
Engagement innerhalb des Lohnsystems.
Dieser Teil der Linken schmückt
sich mit dem Namen Luxemburg, um unter falscher Flagge eine
Emanzipation zu verkünden, die diesen Namen nicht verdient. So
gilt Rosa Luxemburg als Vorkämpferin für Frieden und Demokratie,
als hätte sie bürgerliche Ideale nur verwirklichen wollen.
Derzeit kreist das Täuschungsmanöver stärker um den mehrdeutigen
Begriff der „Landnahme“, der noch nicht einmal von ihr selbst
stammt, aber dennoch mit ihrer 1913 veröffentlichten Schrift
„Die Akkumulation des Kapitals“ in Verbindung gebracht wird.
Zur frühen feministischen Landnahme-Konzeption
Bekanntlich war Luxemburg keine Feministin; dennoch berufen sich
viele auf sie. Bereits in den 1970er Jahren entstand der
feministische Subsistenz-Ansatz der Bielefelder Schule.
Vertreter dieser Richtung, darunter Veronika Bennholdt-Thomsen,
Maria Mies und Claudia von Werlhof verbanden die Frauenfrage mit
der Dritte-Welt-Frage und später mit der Ökologiefrage.
Zur Subsistenzproduktion sollen
neben kleinbäuerlichen und kleinhandwerklichen Tätigkeiten vor
allem diverse Hausarbeiten gehören, einschließlich das Gebären
und Aufziehen von Kindern und die „physische und psychische
Arbeit der Sexualität“. Bei dieser Frauenarbeit handle es sich
um „unbezahlte Arbeitszeit, die in den Verwertungsprozess
einfließt und daher um Mehrarbeit“ (Bennholdt-Thomsen 1981:35).
Das Geschlechterverhältnis wird in ein Produktionsverhältnis
uminterpretiert; Frauenarbeit, Nicht-Lohnarbeit und Natur sollen
in ähnlicher Weise unter dem Kapital subsumiert und Gegenstand
kapitalistischer Ausbeutungsprozesse sein.
Der von Marx entwickelte und von
Luxemburg nirgends in Frage gestellte Wertbegriff ist beseitigt;
die Ausbeutung wird von der Lohnarbeit in Richtung Hausarbeit
als den jetzt zentralen Ort der Ausbeutung verschoben.
Wie Hausarbeit unter dem
Gesichtspunkt der Wertschöpfung zu beurteilen ist, brachte
Luxemburg im Artikel „Frauenwahlrecht und Klassenkampf“ (GW 3:
163) so auf den Punkt: „Diese Arbeit ist nicht produktiv im
Sinne der heutigen kapitalistischen Wirtschaftsordnung, und mag
sie in tausendfältigen kleinen Mühen eine Riesenleistung an
Selbstaufopferung und Kraftaufwand ergeben. Sie ist nur eine
private Angelegenheit des Proletariers, sein Glück und Segen,
und gerade deshalb bloße Luft für die heutige Gesellschaft“.
Nach gründlicher
Auseinandersetzung mit den Marxschen Reproduktionsschemata
gelangte Luxemburg zu ihrer zentralen These, dass ein
„nichtkapitalistisches Milieu“ nicht nur unbedingt notwendig für
die Realisierung des zur Akkumulation bestimmten Teils des
Mehrwerts sei, sondern dass durch die fortschreitende
Vernichtung solcher nichtkapitalistischer Bereiche der
kapitalistische Akkumulationsprozess immer heftiger gegen seine
Absatzschranken stoßen und schließlich krisenhaft
zusammenbrechen werde. Die ökonomische Krisentendenz würde das
Proletariat mehr und mehr in Richtung sozialistische Revolution
drängen.
An die Stelle dieser allgemein
menschlichen Emanzipation, die die kapitalistisch hoch
entwickelten Produktivkräfte zum Ausgangspunkt nimmt, trat
gelegentlich eine rückwärts gewandte Utopie: die Perspektive
einer Subsistenzproduktion in dezentralisierten,
regionalisierten und auf Reziprozität beruhenden
ökonomisch-sozialen Verhältnissen. Solche Selbstsorge-Konzepte
beförderten später die Verbreitung neoliberalistischen
Gedankenguts.
Das von Luxemburg hervorgehobene
„nichtkapitalistische Milieu“ als unbedingte Begleiterscheinung
kapitalistischer Akkumulation ist vollständig umdefiniert: Statt
vor allem Werte zu realisieren, soll die Substenzwirtschaft
Werte schaffen, statt jenseits des kapitalistischen
Reproduktionsprozesses zu stehen, steht sie mitten drin, statt
aufgelöst zu werden, existiert sie nicht nur fort, die
Subsistenzproduktion soll in ihrer technischen Rückständigkeit
die Zukunft weisen.
Schon die Bielefelder
Soziologinnen definierten gelegentlich die Arbeit im Bereich der
Reproduktion als ein „Außen“, das sowohl als ein geografisches
Außen bestimmt war, als auch - etwa in Form der Hausarbeit -
inmitten des kapitalistischen Zentrums liegen konnte. Die
Vorstellung für die heutige Diskussion, wonach
„nichtkapitalistische“ Bereiche entstehen und später zu einem
Ort möglicher Landnahme werden würden, war vorbereitet.
Akkumulation durch Landnahme
Die heutige Debatte um die kapitalistische Landnahme wird
maßgeblich von David Harvey bestimmt. Zunächst teilt er
Luxemburgs These, dass der Kapitalismus, um akkumulieren zu
können, Bereiche „außerhalb seiner selbst“ (Harvey 2005: 140)
benötige. Anders als in Luxemburgs Theorie, sollen solche
Bereiche aber weniger der Realisierung von Mehrwert, sondern vor
allem als profitable Anlagemöglichkeit überakkumulierten
Kapitals dienen.
Harveys Überakkumulationstheorie
ändert den Blickwinkel. Die nichtkapitalistischen Bereiche, die
bei Luxemburg eine zentrale Rolle spielen, werden in zweifacher
Hinsicht uminterpretiert. Neben den „nichtkapitalistischen
Gesellschaften“ gehören dazu erstens bestehende Gebiete
„innerhalb des Kapitalismus“. Zweitens soll der Kapitalismus
über die Fähigkeit verfügen, weitere Gebiete aktiv herzustellen.
Mit dieser „Innen-Außen-Dialektik“ (2005: 140), wie Harvey die
Produktion nichtkapitalistischer Bereiche nennt, beseitigt er
die von Luxemburg aufgezeigte revolutionäre Perspektive. Da der
Kapitalismus eigenständig und unbegrenzt neue Außenbezirke
herzustellen vermag, wird die kapitalistische Landnahme zu einem
nicht enden wollenden Jungbrunnen für das System.
Die frühe feministische
Landnahme-Konzeption sah in der normalen Form der Ausbeutung von
Lohnarbeitern nur die Spitze eines Eisbergs, der auf einem
unsichtbaren Sockel unbezahlter Subsistenzarbeit beruhen sollte.
In gewisser Weise teilt Harvey diesen Mythos, nur dass er die
„räuberischen Mittel der Akkumulation durch Enteignung“
(2013:109) stärker auf die Stadt bezieht.
Solche „sekundäre Formen der Ausbeutung“ (Harvey 2013:225) mag
es in bestimmten Fällen geben. Allerdings fallen sie mehr unter
die Rubrik von Missständen. Wie Harvey breit ausführt, bestehen
sie in Gaunereien auf dem Immobilienmarkt; sie treten im
Austausch von Waren, in Mietverhältnissen, in Betrügereien beim
Kauf der Arbeitskraft oder bei der Kreditvergabe hervor. Aber
sie erklären gerade nicht die Mehrwertproduktion. Das Zentrum
kapitalistischer Ausbeutung und Herrschaft rückt in den
Hintergrund. Die Sphäre der Mehrwertproduktion mit all ihren
Gegensätzen, Konflikten, Gewalttaten und Widerstandsformen aus
der wissenschaftlichen und politischen Debatte möglichst
auszublenden, gehört zum traditionellen Geschäft von
Vulgärsozialisten. Harvey reiht sich in diese traurige Tradition
ein.
Harveys Enteignungsbegriff
schließt nicht nur vielfältige primäre und sekundäre
Ausbeutungsprozesse ein, sondern auch die Aneignung von
Kapitalvermögen, die durch Finanzmanipulationen oder durch die
Überakkumulationskrise entwertet und durch andere Kapitalisten
zu „Schleuderpreisen“ aufgekauft werden.
Eine größere Heterogenität
hinsichtlich der Aneignungsweisen, der Aneigner und der
Ausgebeuteten ist kaum vorstellbar. Zu den Aneignungs-Opfern
zählt Harvey ausgebeutete Arbeiter, betrogene Mieter,
Arbeitslose, vom Land vertriebene Bauern und intigene
Bevölkerungen ebenso wie geplünderte Kapitalanleger und
ruinierte Unternehmer. Mitglieder sämtlicher Klassen und selbst
historische Überbleibsel alter Gesellschaften gehören dazu.
Harvey hat die Illusion, als könnte sich diese heterogene Menge
zu einer „revolutionären und entschieden antikapitalistischen
Bewegung“ zusammen finden. Notwendig wäre lediglich eine
„ko-revolutionäre Theorie“.
Wie aber soll ein
gemeinschaftlicher Kampf möglich sein, wenn die Menschen, die
den Kampf zu führen haben, weder miteinander kooperieren noch in
anderer Weise miteinander zu tun haben? Es fehlen schlichtweg
die gemeinsamen Existenzbedingungen. Die Heterogenität der
Lebenslagen verhindert gleichartige Interessen. Noch nicht
einmal einen gemeinsamen Gegner gibt es, der zur Herausbildung
gemeinsamer Ziele beitragen könnte. Da zudem der Kapitalismus
über endlose Selbstheilungskräfte verfügen soll, besteht
keinerlei Tendenz zur Vereinfachung und Zuspitzung der
Gegensätze. Es fehlen sämtliche materiellen Bedingungen für
einen einheitlichen Kampf, der sich auf kaum mehr stützen kann
als auf einen durch die „ko-revolutionäre Theorie“ inspirierten
freien Willen.
Landnahme als Gefahr für den
Sozialstaat
Die emanzipatorische Perspektive, die bei Harvey noch eine vage
Hoffnung ist, wird im sozialstaatlich ausgelegten
Landnahmekonzept völlig ausgeblendet. Dahinter steckt die
Vorstellung, „kapitalistisch geprägte Marktwirtschaften (hätten)
bisher ihre Erneuerungs- und Expansionsfähigkeit unter Beweis
gestellt“ (Brie: 2014:15). Ein derart effizienter Kapitalismus
muss nicht mehr grundlegend geändert werden.
Für Klaus Dörre besteht das
Landnahmekonzept im Wechselspiel von Marktöffnung und
Marktbegrenzung. Die „’Landpreisgabe’, die mit der Expansion des
Wohlfahrtsstaats und der Einbettung von Lohnarbeit in
geschützten Arbeitsmärkten verbunden war“, sei durch die
kapitalistische Landnahme, durch Privatisierungen und
Deregulierungen rückgängig gemacht, wodurch eine
Wachstumsdynamik in Gang gesetzt worden sei (2013: 95f).
Weshalb sollte die Landnahme
sowohl für die kapitalistische Entwicklung als auch für eine
politisch-gesellschaftliche Transformation eine Rolle spielen,
wenn sie später durch eine „Landpreisgabe“ korrigiert wird?
Zumindest in der längeren Frist hätten wir es mit einem
Nullsummenspiel, mit einer insgesamt neutralen Wirkung zu tun.
Das aber widerspricht Dörres eigener These, wonach die
kapitalistische Akkumulation die Landnahme unbedingt benötigen
würde.
Sämtliche sozialen Bewegungen
stehen von vornherein auf verlorenem Posten. Ihre Reformarbeit
gleicht den vergeblichen Mühen eines Sisyphos: Die dem
Kapitalismus durch „De-Kommodifizierung“ mühevoll entzogenen
Bereiche fallen durch Landnahme immer wieder in den Schlund
kapitalistischer Profitlogik zurück.
Der Feminismus begrenzte die
Subsistenzproduktion auf die „drei Kolonien des Kapitals“, auf
die Arbeitskraft der Frauen, auf die Menschen zurückgebliebener
Länder und auf die Natur. Dörre fügt diesem fragwürdigen Konzept
Staatsunternehmen, öffentliche Güter und marktbegrenzende
Regulierungen hinzu.
Mit der Einbeziehung des
Sozialstaates reproduziert er die Irrtümer auf erweiterter
Stufenleiter.
Jedoch wird ein „nichtkapitalistisches Außen“ keineswegs
hergestellt, nur weil der Staat dem Gesamtkapital Bedingungen
der allgemeinen Reproduktion, Infrastruktureinrichtungen etc.
zur Verfügung stellt. Solche Staatstätigkeiten beruhen auf
Kapitalkreisläufen und bleiben finanziell darin eingebunden.
Öffentliche Güter haben die kapitalistische Warenproduktion
nicht nur zur Voraussetzung, sie dienen stets der Reproduktion
des Gesamtkapitals.
Wie Harvey meint auch Dörre, in
der Tradition der Luxemburgischen Imperialismustheorie zu
stehen. Anders als im Landnahmekonzept von Dörre, steht der
Staat in der Argumentation von Luxemburg keineswegs jenseits des
Kapitalismus; seine ökonomischen und sozialen Aktivitäten werden
durch die Reproduktion des Gesamtkapitals und die darin
eingeschlossene Reproduktion der Arbeitskraft vermittelt und
finanziert. Wenn der Staat Funktionen übernimmt, die der
Reproduktion der Arbeitskraft dienen, dann ändern sie durch die
bloße Verwandlung in Staatstätigkeiten keineswegs ihren
Charakter. Sie bleiben reproduktive Bereiche des
gesellschaftlichen Gesamtkapitals.
Rosa Luxemburg arbeitete mit
großer Sorgfalt heraus, wie die Nachfrage der Arbeiterklasse
durch die Lohnzahlung begrenzt wird, deren Quelle das variable
Kapital bildet. Mehr Waren können die Arbeiter (der Kredit
spielt in ihrer Argumentation keine Rolle) einfach nicht
abnehmen. Der Lohn bleibt auch dann die Nachfragegrenze, wenn
Mitverzehrer ins Spiel kommen: Familienangehörige, Verbände,
Sozialabgaben und Steuern für Sozial- und Staatszwecke.
Letzteres bedeute nur „die Übertragung eines Teils der Kaufkraft
der Arbeiterklasse auf den Staat“ (GW 5:401).
Diese Rückführung auf die
Primäreinkommen diente Rosa Luxemburg dazu, Vorstellungen als
falsch zurückzuweisen, „dritte Personen“ oder der Staat könnten
die fehlende Nachfrage schaffen, die der kapitalistische
Akkumulationsprozess benötige. Solche elementaren Einsichten
werden in den verschiedenen Landnahme-Konzepten ignoriert. Der
positive Bezug auf Luxemburgs Akkumulationstheorie bleibt
lediglich formell bestehen, die Inhalte spielen keine Rolle.
Luxemburgs Theorie wird heilig gesprochen, um sich damit nicht
mehr inhaltlich auseinander setzen zu müssen.
Finanzkapitalstische Landnahme
Rosa Luxemburg kannte Hilferdings Schrift „Das Finanzkapital“,
erwähnte sie aber in ihrer „Akkumulation des Kapitals“ nicht ein
einziges Mal, für so irrelevant hielt sie die These von der
besonderen Rolle des Finanzkapitals. Und dennoch wird ihre
Theorie von der fortschreitenden Vernichtung
nichtkapitalistischer Sektoren und Regionen gerade in diesen
Kontext gestellt.
Für Luxemburg ging eine solche Landnahme notwendig aus der
kapitalistischen Produktionsweise selbst hervor. Diese schafft
„nicht bloß im Mehrwerthunger des Kapitalisten die treibende
Kraft zur rastlosen Erweiterung der Reproduktion, sondern sie
verwandelt diese Erweiterung geradezu in ein Zwangsgesetz, in
eine wirtschaftliche Existenzbedingung für den
Einzelkapitalisten“ (GW 5:18). Finanzmärkte und Banken tauchen
in diesem Zusammenhang gar nicht auf; das industrielle Kapital
selbst ist imperialistisch.
Demgegenüber beschönigt die
Vorstellung einer „finanzkapitalistischen Landnahme“ (Dörre
2013) das Industriekapital, indem die notwendig
imperialistischen Tendenzen des Kapitals in den Finanzsektor
ausgelagert werden, der dann scheinbar von außen her durch seine
„Gewinnansprüche“, durch die „Shareholder-Value-Steuerung“ und
durch angeblich weitere Erpressungsmittel die Unternehmen zur
Expansion antreiben soll.
In diesem stark auf den
Finanzsektor ausgerichteten Landnahme-Konzept sind die
produzierenden Unternehmer mehr Opfer als Täter. Durch gezielte
politische Eingriffe in das Finanzsystem scheinen die
aggressiv-imperialistischen Kräfte des Kapitals zähmbar zu sein,
ohne das Herzstück des Kapitalismus, die Warenproduktion und
Warenzirkulation politisch umwälzen zu müssen. Das ist so
ziemlich das Gegenteil von dem, was Rosa Luxemburg in ihrem
kurzen Leben geschrieben, gesagt und für was sie gekämpft hat.
Luxemburg als Vorläuferin einer monetären Werttheorie?
Zur Vorstellung einer „finanzkapitalistischen Landnahme“ passt
eine Theorie, die dem Geld eine im Vergleich zur Ware abgehobene
und beherrschende Stellung zuerkennt. Das Geld darf nicht mehr,
wie Marx es sah, eine Konsequenz der Ware sein, sondern muss
eigenständig sein und zusammen mit dem Kredit den Wertbildungs-
und Akkumulationsprozess maßgeblich bestimmen.
Riccardo Bellofiore versucht
Luxemburg für eine solch monetäre Werttheorie zu vereinnahmen,
die im Anschluss an die Neue Marx-Lektüre unter Beteiligung von
Michael Heinrich seit den 1970er Jahren ausgearbeitet wird. Aus
den wenigen Bemerkungen Luxemburgs zur Werttheorie will
Bellofiore herausgelesen haben, dass sie - ebenso wie es der
monetäre Wertansatz vorsieht - die abstrakte Arbeit und damit
die Quelle des Warenwerts jenseits des unmittelbaren
Produktionsprozesses ansiedelt, also paradoxerweise dort, wo gar
nicht mehr gearbeitet wird. „Die Betonung liegt bei diesem
Ansatz darauf, dass der Wert am Schnittpunkt zwischen Produktion
und Zirkulation geschaffen wird – oder genauer gesagt, dass er
dort ‚entsteht’“ (Bellofiore 2013:41).
Allerdings besagt das von
Bellofiore angeführte Luxemburg-Zitat das Gegenteil: „Die von
Marx entdeckte abstrakt-menschliche Arbeit“, schreibt Luxemburg
(GW 1/1:414f) „ist nämlich in ihrer entfalteten Form (!) nichts
anderes als – das Geld.“
Bellofiores Lesart, abstrakte
Arbeit und Wert würden erst durch das Geld geschaffen, verdreht
den Sachverhalt. Im Zitat bildet vielmehr die abstrakte Arbeit
den Ausgangspunkt und das übergreifende Moment. In geronnener
Form wird sie Wert, der eine notwendig gegenständliche Form
erhält. In „ihrer entfalteten Form“ ist diese abstrakte Arbeit
„nichts anderes“ als das Geld, während das Wertverhältnis einer
Ware zu einer einzigen verschiedenartigen Ware dessen Keimform
bildet. Das Geld, so die kurze Botschaft, ist die Konsequenz
abstrakter, warenproduzierender Arbeit und schafft keineswegs
den Wert.
Dass sich Rosa Luxemburg nur knapp
zum inneren Zusammenhang von Wert und Geld äußerte, muss als
Hinweis gewertet werden, dass sie die von Marx sorgfältig
ausformulierte Werttheorie als ziemlich vollendet ansah, also
für sie schlichtweg keine Notwendigkeit bestand, darüber längere
Ausführungen zu machen. Dort, wo sie das Wertgesetz
thematisierte, u. a. in ihrer „Einführung in die
Nationalökonomie“, unternahm sie keinerlei
Interpretationsversuche der Marxschen Werttheorie. Diese wird
als richtig und eindeutig unterstellt, um dann von einem anderen
zumeist historischen Gesichtspunkt aus dem anfälligen „Bau des
kapitalistischen Babelturms“ (GW 5: 698), dem Wertgesetz als dem
inneren Band zersplitterter Privatproduktion, auf die Spur zu
kommen.
Wie man sehen konnte, haben die
VerehrerInnen Luxemburgs in ihren verschiedenen
Landnahme-Konzepten alle systemtranszendierenden Aspekte
ausgemerzt. Emanzipation ist kein Thema mehr. Sie haben
Luxemburgs Akkumulationstheorie vollständig uminterpretiert,
verstümmelt und ihr eine entgegengesetzte Tendenz gegeben. All
das geschieht eher verdeckt als offen, indem die
Akkumulationstheorie gelobt und scheinbar fortentwickelt wird.
Tatsächlich aber wird sie zerstört und damit integrationsfähig
für die bürgerliche Soziologie und ökonomische Vulgärtheorie
gemacht.
Wie gezeigt werden konnte: Eine solche Vermählung ist eine
Schwindelhochzeit.
Literatur
Bellofiore, Riccardo (2013): Rosa Luxemburg – Kritik der
politischen Ökonomie und die politische Perspektive, in: Ingo
Schmidt (Hrg.): Rosa Luxemburgs „Akkumulation des Kapitals“,
Hamburg
Bennholdt-Thomsen, Veronika (1981): Subsistenzproduktion und
erweiterte Reproduktion. Ein Beitrag zur
Produktionsweisendiskussion, in: Gesellschaft. Beiträge zur
Marxschen Theorie 14. Frankfurt a.M.
Brie, Michael (2014): Akkumulation des Kapitals – Akkumulation
des Sozialen und Ökologischen im Kapitalismus. Folgerungen für
revolutionäre Realpolitik. Beitrag für die Konferenz “’The
Accumulation of Capital: A Contribution to an Economic
Explanation of Imperialism’: A Century-Old Work Remains Current,
Provocative and Seminal”
Dörre, Klaus (2013): Landnahme und die Grenzen sozialer
Reproduktion. Zur gesellschaftstheoretischen Bedeutung Rosa
Luxemburgs, in: Ingo Schmidt (Hrg.): Rosa Luxemburgs
„Akkumulation des Kapitals“, Hamburg
Fraser, Nancy (2009): Feminism, Capitalism and the Cunning of
History, in: New Left Revue 56/2009
Harvey, David (2005): Der neue Imperialismus. Hamburg
Harvey, David (2013): Rebellische Städte, Berlin
Luxemburg, Rosa (1913): Die Akkumulation des Kapitals. Ein
Beitrag zur ökonomischen Erklärung des Imperialismus, in: Rosa
Luxemburg, Gesammelte Werke (GW), Band 5, Berlin 1975
Luxemburg, Rosa (1925): Einführung in die Nationalökonomie, in:
Rosa Luxemburg, Gesammelte Werke (GW), Band 5, Berlin 1975
Luxemburg, Rosa (1899): Sozialreform oder Revolution, in: Rosa
Luxemburg, Gesammelte Werke (GW), Band 1/1, Berlin 1974
Luxemburg, Rosa (1912): Frauenwahlrecht und Klassenkampf, in:
Rosa Luxemburg, Gesammelte Werke (GW), Band 3, Berlin 1973
Mies, Maria (1983): Subsistenzproduktion, Hausfrauisierung,
Kolonisierung, in: Beiträge zur feministischen Theorie und
Praxis. 9/10. Zukunft der Frauenarbeit, Köln
Sandleben, Guenther (2011): Finanzmarktkrise – Mythos und
Wirklichkeit, Norderstedt
Sandleben, Guenther / Schäfer, Jakob (2013): Apologie von links.
Zur Kritik gängiger linker Krisentheorien, Karlsruhe
Editorische Hinweise
Den Artikel erhielten wir vom Autor für
diese Ausgabe.
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