„Dümmer
als die Polizei erlaubt?“ Der Ausdruck erweist sich als falsch,
denn die dümmsten oder schrägsten Ideen hat die Polizei selbst.
Vor nunmehr zwei Jahren taufte die Einsatzleitung der
Bereitschaftspolizei auf dem Gelände des Flughafenprojekts von
Notre-Dame-des-Landes, einige Kilometer von der
westfranzösischen Großstadt Nantes entfernt, ihren geplanten
Ordnungseinsatz auf den Namen „Operation Cäsar“. Die Anspielung
auf den altrömischen Machthaber war gewollt und sollte
intendieren, dass man nun dem Dorf der widerspenstigen Gallier
in Form der ZAD – zone à défendre oder „Zu
verteidigende Zone“ -, also des Hüttendorfs der Flughafengegner,
zu Leibe rücken werde. In der französischen Öffentlichkeit
konnte dies jedoch nur überwiegende Sympathie hervorrufen, oder
die Opponenten des Großbauprojekts zumindest in einem heiteren
Licht erscheinen lassen. Prompt antworteten diese daraufhin im
November 2012 mit einer „Operation Asterix“.
Das Flughafenprojekt von
Notre-Dame-des-Landes, in der Protestszene meist mit den
Initialen „NDDL“ abgekürzt, kam diese Woche erneut ins Gerede.
Momentan ruhen dort die Bauarbeiten, seit etwa einem halben
Jahr, weil noch neue Klagen der Projektgegner auf
umweltrechtlicher Grundlage anhängig sind. Eine vorangegangene
Rechtsbeschwerde war zuletzt im November 2013 abgelehnt worden.
Doch als sich an diesem Montag Vormittag (05. Januar 15)
Staatspräsident François Hollande in einem zweistündigen
Rundfunkinterview an die Nation wandte – ein Bestandteil seines
mehr oder minder verzweifelten Versuchs, wieder in die
Kommunikationsoffensive zu kommen und seine extrem schlechten
Popularitätswerte zu überwinden -, kam die Sprache auch auf das
Bauvorhaben von NDDL. Hollande stellte dabei klar, man werde die
ausstehenden Gerichtsverfahren noch zu Ende bringen, und danach
werde gebaut, punktum. Ein Scheitern des Projekts aufgrund
gerichtlicher Urteile scheint er gar nicht ins Auge zu fassen.
Ähnlich äußerte sich wenige Wochen zuvor auch sein
Premierminister Manuel Valls, der ebenfalls keinerlei Zweifel am
Ausgang aufkommen lassen wollte – oder durfte, allein schon um
sein durch die Medien aufgebautes „Macher“image nicht zu
gefährden.
NDDL zählt jedoch in den Augen
eines nicht geringen Teils der französischen Öffentlichkeit zu
einer Serie von „unnötigen Großprojekten“, die im Kern nutzlos
seien und im Ergebnis nur die Umwelt zerstörten. Im Falle des
Flughafenprojekts, das am 15. Oktober 2003 durch die damalige
Rechtsregierung von Jean-Pierre Raffarin offiziell genehmigt
worden war, gibt es dafür sehr reale Anhaltspunkte. Die Pläne
für den Flughafenneubau, der den bereits vorhandenen Flughafen
von Nantes ersetzen soll, datieren bereits aus den 1960er
Jahren. Dabei ging es zwar auch darum, die Flugbewegungen weiter
von den Wohngebieten der Stadt zu entfernen, aber vor allem um
den Wunsch nach fast exponentieller Steigerung des
Fluggastaufkommens im Rahmen eines „Entwicklungsprojekts Großer
Westen“. Nur haben sich die damals angestellten Berechnungen
nicht erfüllt, und bei dem neuen Projekt würde die
Lärmbelästigung der Bevölkerung eher noch erhöht. Denn nach
derzeitigen Planungen würden fünfzig Prozent der Stadt- und
Landebewegungen weiterhin über Nantes gehen und in weniger als
500 Meter Höhe über Wohngebieten stattfinden.
Wird der neue Flughafen gebaut,
soll er bis zum Ende des Jahrzehnts vier Millionen und in
späterer Zeit dann bis zu zehn Millionen Fluggäste pro Jahr
aufnehmen können. Der derzeit bestehende Flughafen ist auf 3,5
Millionen Fluggäste pro Jahr ausgelegt und lag im vergangenen
Jahr knapp darüber, könnte mit einigen unwesentlichen baulichen
Veränderungen jedoch locker auch vier Millionen aufnehmen.
Abgesehen von der Frage, ob eine glatte Verdreifachung der
Flugbewegungen in Anbetracht von Kerosinverbrauch und
Luftverschmutzung sowie CO2-Ausstoß überhaupt wünschenswert sein
könnte, ist sie jedenfalls derzeit auch nicht in Sicht. Zudem
liegen die Pariser internationalen Großflughäfen Orly und Roissy
in nur rund 400 Kilometern Entfernung oder, im ersteren Falle,
zweieinhalb TGV-Stunden von Nantes entfernt.
Dennoch hielten die Regierenden an
dem Projekt eisern fest, das laut offiziellen Zahlen – denen
selten zu vertrauen ist, wie Berliner Erfahrungen zeigen – rund
600 Millionen Euro kosten und zu 44 Prozent durch die
öffentliche Hand subventioniert werden soll. Einige der Gründe
dafür liegen in Prestigewünschen – der frühere regierende
Bürgermeister von Nantes, Jean-Marc Ayrault, war von 2012 bis
2014 Premierminister und verhinderte damals ein Kippen des
Projekts – und im Willen nach Wirtschaftsförderung. Die Gegner
machen dagegen geltend, dass seltene Feuchtweisen aus schlecht
nachvollziehbaren Gründen geopfert und ein nur ein Kilometer vom
künftigen Flughafen entferntes Seen- und Vogelschutzgebiet
bedroht würden. Aber auch einige Landwirte wollen ihre
umliegenden Felder nicht dafür preisgeben.
Seit nunmehr zwei Jahren eskalieren die
Proteste darum. An mehreren Aktionswochenenden wie im Mai, im
August und nochmals im Herbst 2013 reisten jeweils auch mehrere
Zehntausend Menschen aus nahezu ganz Frankreich, darunter dem
Großraum Paris, zur Unterstützung der örtlichen Aktivisten an.
Auch Jungle World war dabei. Bei Konzerten auf dem
künftigen Baugelände und zu protestorientierten „Spaziergängen“
konnten bis zu 40.000 Menschen mobilisiert werden.
Dabei ist auch ausschlaggebend, dass die
seitdem vielerorts in Frankreich aufkeimenden
Umweltprotestbewegungen derzeit fast die einzige greifbare
Opposition im Lande darstellen. Jedenfalls, was offene soziale
Bewegungen außerhalb von fest strukturierten politischen Gruppen
betrifft. Anders als in Westdeutschland, wo Ökologiebewegungen,
aber vor allem der Anti-Atomkraft-Protest in den 1970er Jahren
viel frei flottierendes Protestpotenzial auf der Linken anzogen
– nachdem die Mehrzahl ihrer Strömungen zuvor beim Versuch eines
Aufbaus von Betriebspolitik gescheitert waren -, konzentrierte
sich radikale Politik in Frankreich umgekehrt noch bis wenigen
Jahren stark auf Arbeitskämpfe, Konflikte um Verteilungsfragen
zuzüglich Antirassismus und Antifaschismus. Auf dieser Ebene
findet jedoch derzeit ein Umbruch statt.
Seit dem, durch die Gewerkschaft
verlorenen, Massenprotest gegen die mittlerweile vorletzte
„Rentenreform“ im Jahr 2010 fand kein massiver und
unterschiedliche Milieus zusammenführender Sozialprotest mehr
statt. Der letzte gewonnene soziale Kampf liegt nunmehr acht
Jahre zurück, mit dem Kampf gegen verringerten Kündigungsschutz
für unter 26 bzw. unter 30jährigen Neubeschäftigte. Zu den
Ursachen zählen die tiefe Lähmung der Gewerkschaften, die
notorisch über die Frage gespalten sind, ob man auch unter einer
sozialdemokratischen Regierung ähnlich wie unter einer
konservativ-wirtschaftsliberalen „rücksichtslos“ protestieren
dürfe - oder aber ihre vermeintlichen Bemühungen unterstützen
oder jedenfalls gegen mit der Rechten drohende Verschlimmerungen
abschirmen müsse. Umgekehrt tun sich auch die Gewerkschaften
schwer mit dem Umweltprotest. Denn zwar nehmen viele ihrer
Mitglieder an der Basis daran teil, am stärksten die Angehörigen
von Lehrergewerkschaften. Doch gleichzeitig zieht auch das
„Arbeitsplätze“-Argument bei einem Teil der
Beschäftigtenverbände. Im Oktober 2014 gründete sich in Nantes
nun erstmals ein, vorwiegend von libertären Gewerkschaftern
getragenes, „Kollektiv von CGT-Mitgliedern gegen NDDL“. Nantes
ist seit jeher Hochburg anarcho-syndikalistischer Traditionen,
die auch heute in manche der bestehenden Gewerkschaften
hineinwirken.
Neben Lohnabhängigen sind aber auch andere
Milieus in den frankreichweit aufsprießenden ZADs oder
zones à défendre aktiv - der Name kommt von einer
Abwandlung des offiziellen Kürzels, ZAD für zone à
aménagement différé (ungefähr „Zone für längerfristige
Erschließung“). Dieses rechtliche Instrument erlaubt es
staatlichen Stellen oder Unternehmen, Bauvorhaben über einen
sechsjährigen Zeitraum mit einem Vorkaufsrecht für alle
potenziell in Frage kommenden Grundstücke durchzuführen. Der zu
Protestzwecken abgewandelte Name wurde unterdessen ebenso
Hüttendörfern in Notre-Dame-des-Landes gegeben wie Protestcamps
in der Nähe des Staudammprojekts von Sivens in
Südwestfrankreich, rund dreißig Kilometer von Toulouse entfernt,
oder auch in Roybon in der Nähe von Grenoble. Dort soll ein
geschütztes Waldgrundstück einem Center Parc, also einer
Freizeiteinrichtung, weichen. Seit dem vergangenen Herbst laufen
auch dort heftige Proteste. Zwei Tage vor Weihnachten stoppte
ein Gericht das Bauvorhaben aufgrund der Nichtbeachtung
wasserrechtlicher Vorschriften. Der Bauherr, der Club Pierre &
Vacances, ging in Berufung und bot zugleich Gespräche über
Abwandlungen an den bisherigen Plänen an.
Neben städtischen Linken und Gewerkschaftern,
die aus Toulouse nach Sivens, aus Grenoble nach Roybon oder auch
aus Städten von Nantes bis Paris zum Großprotest gegen „NDDL“
anreisen, leben in den ZAD auch Baugegner tagaus, tagein direkt
vor Ort. Den bürgerlichen Journalisten fällt es schwer, mit
ihnen ins Gespräch zu kommen, da sie gegenüber den Medien
mehrheitlich grundsätzlich misstrauisch sind. Und ihnen
gegenüber beispielsweise stets nur unter einem einheitlichen,
geschlechtsneutralen Vornamen – „Camille“ – zu reden bereit
sind.
Zu ihnen zählen junge Menschen, die aus der
unmittelbaren Umgebung stammen, aber auch jüngere und ältere
Menschen von weiter außerhalb, die den Aufenthalt dort zum
Anlass nehmen, mit ihrem bisherigen Leben zu brechen. Manche von
ihnen führen eine Art Aussteigerleben, das sie damit begründen,
bisher stets in prekären Beschäftigungsverhältnisse gearbeitet
zu haben - aber auch gar keine Motivation zu verspüren, in eine
dauerhaft gefestigte und auf Erwerbsarbeit ausgerichtete
Existenz tiefer einsteigen zu wollen. Aber auch organisierte
Autonome, die meinen, hier über neuen einen Hebelpunkt zum
Umkippen des verhassten Systems zu verfügen, machen mit.
Als Trittbrettfahrer versuchten vor allem in
Sivens in der zweiten Jahreshälfte 2014, auch organisierte
Rechtsextreme mitzumischen. Nach ihrer Enttarnung wurden sie
jedoch von ortsansässigen Protestaktivisten entfernt. Sie zählen
vor allem zu einer außerparlamentarischen Aktivistengruppe
namens MAS (Mouvement d’action sociale), die
ähnlich der italienischen Casapound-Bewegung auf vordergründig
innovative Weise in verschiedene gesellschaftliche Bereiche
einzudringen versucht. Die etablierte und parteiförmige extreme
Rechte hat sich jedoch, nach einigem Herumeiern, gegen eine
demagogische Unterstützung für die Proteste entschieden. Beim
Front National forderte der Vizevorsitzende Louis Aliot im
Herbst zunächst „örtliche Referenden“ über Bauprojekte und
glaubte, mittels der Abstimmungsforderung Befürworter wie Gegner
ruhigstellen zu können. Doch dann wuchs der Druck der
konservativ-reaktionären Landwirtelobby in Gestalt des auf
„Produktivismus“, also auf Produzieren-um-jeden-Preis
ausgelegten Bauernverbands FNSEA. Dessen Mitglieder schwanken
oft zwischen einer Stimmabgabe für Konservative oder für die
extreme Rechte. In Sivens etwa marschierte die FNSEA auf und
forderte die Fertigstellung des umstrittenen Staudammprojekts.
Daraufhin schwenkte der Front National auf einen harten Kurs
ein. Seine Abgeordnete Marion Maréchal-Le Pen forderte ein
„Verbot gewalttätiger linksradikaler Protestgruppen“.
Bei dem Bauvorhaben von Sivens geht es um ein
Aufstauen des Flüsschens Tescou, das ein Feuchtgebiet mit über
neunzig seltenen Arten – vor allem Pflanzen – massiv gefährdet.
Auch hier sind die Planungen, die dem seit 1989 in die Wege
geleiteten Projekt zugrunde liegen, großteils Makulatur. Die
genutzte landwirtschaftliche Anbaufläche rund um den Stausee,
deren Bewässerung das Bauvorhaben dienen soll, sind seit Beginn
der Planungen insgesamt um ein Drittel geschrumpft. Doch
entgegen offizieller Beteuerungen, hier gehe es um eine
Begünstigung des Anbaus durch kleine Produzenten und
biologischer Methoden, geht es der Agrarlobby in Wirklichkeit um
Pläne für einen intensiven und umweltgefährdenen Anbau durch
einige wenige Großproduzenten – es gibt in ihren Augen
anscheinend noch nicht genug Mais-Monokulturen. Die
Bezirksbehörden im Département Tarn sind fest in der Hand dieser
konservativen Agrarlobby. Inzwischen zweifelt allerdings auch
eine offizielle Expertise für das französische Umweltministerium
den Nutzen des Projekts an, und die EU drohte Frankreich mit
einem Verfahren wegen Verstoßes gegen Umweltvorschriften beim
Genehmigungsverfahren des Projekts.
Letzteres ruht heute, um neue
Prüfungen zu ermöglichen. Seine politische
Durchsetzungsschwierigkeiten sind immens gewachsen, seitdem in
der Nacht vom 25. zum 26. Oktober ein junger Demonstrant in
Sivens ums Leben kam. Der 21jährige Student der Botanik Rémi
Fraisse wurde in jener Nacht durch eine so genannte
Offensivgranate der Polizei tödlich getroffen. Dabei handelt es
sich um mit dem Sprengstoff TNT gefüllte Schockgranaten, die
zuletzt im Juli 1977 in Creys-Malville den jungen
Anti-Atomkraft-Demonstranten Vital Michalon getötet hatten –
seitdem war jedoch an ihrem Einsatz nichts Wesentliches geändert
worden.
Zum ersten Mal seit 1986 und dem Tod des
protestierenden Studenten Malik Oussekine kam damit in
Frankreich ein Mensch bei einem Polizeieinsatz im Zusammenhang
mit einer Demonstration ums Leben. Im Nachhinein erfuhr die
Öffentlichkeit, dass die Gendarmeriekräfte in jener Nacht über
vierzig solcher „Offensivgranaten“ abgefeuert hatten. Ihre
Gefährlichkeit musste der französische Innenminister Bernard
Cazeneuve indirekt einräumen, indem er drei Tage nach dem Tod
des Demonstranten ihre Verwendung mit sofortiger Wirkung
untersagte. Bis dahin war über 48 Stunden lang der gewaltsame
Tod des 21jährigen zunächst verschwiegen worden – in ersten
Agenturmeldungen hieß es lediglich, die Beamten hätten den
Leichnam „gefunden“, als ob die Einsatzkräfte nichts damit zu
tun hätten -, und wurde seine Ursache angezweifelt. Nachdem die
äußere Gewalteinwirkung offensichtlich geworden war, leugneten
die Behörden daraufhin den Zusammenhang und behaupteten,
vielleicht sei ja der Rucksack des Getöteten, der nicht
aufgefunden wurde, mit einem mysteriösen Inhalt ausgestattet
gewesen und explodiert.
Cazeneuve musste jedoch die
Realität eingestehen, nachdem zwei Laboranalysen TNT-Spuren
auffanden, die nur aus den Beständen der Polizeigranaten stammen
konnten. Rémi Fraisse war unbewaffnet gewesen und führte weder
Molotow-Cocktails noch andere potenziell riskante Gegenstände
bei sich. Es war die erste Demonstration seines Lebens gewesen,
und in angetrunkenem Zustand am späteren Abend hatte er sich
nicht erkannt, wo die Gefahrenzone während der militanten
Auseinandersetzungen lag. Fraisse hatte einer bürgerlichen
Umweltschutzvereinigung namens France Nature Environnement (FNE)
angehört, die auch eine Komponente der Ökoproteste bildet.
Dieser erste Demonstrationstote seit
Jahrzehnten führte dazu, die laufenden Umweltproteste noch
stärker in den Mittelpunkt der öffentlichen Aufmerksamkeit zu
rücken. Zudem fanden Anfang November mehrere Wochen lang
Schülerproteste und Oberschulstreiks in Paris und angrenzenden
Städten wie Saint-Denis statt, deren Teilnehmer allerdings oft
durch betont martialische Aktionen aus der autonomen Szene am
Rande von Demonstrationen abgeschreckt wurden. Der politische
Preis für das Durchsetzen von unbeliebten und umweltzerstörenden
Großprojekten wuchs zwischenzeitlich erheblich.
Editorische Hinweise
Den Artikel erhielten wir vom Autor für diese
Ausgabe.
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