Der falsche Säkularismus
Das säkulare französische Ideal der Laïcité ist kein missbrauchtes, edles Konzept – es ist von Haus aus makelbehaftet

von Ian Birchall

01/2016

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Im Nachgang der Charlie Hebdo-Morde war viel die Rede von „republikanischen Werten“. Für manche Franzosen sogar zu viel, denn eine Umfrage ergab jüngst, dass 65 Prozent aller Franzosen der Ansicht waren, Begriffe wie „republikanische Werte“ seien „zu oft verwendet worden und hätten ihre Kraft und Bedeutung verloren“. Im Mittelpunkt dieser republikanischen Werte steht die Laïcité – ein französischer Begriff, welcher so viele Konnotationen und Interpretationen hat, dass er sich so gut wie nicht übersetzen lässt; Säkularismus ist allerdings eine tragbare Annäherung. Heutzutage dient Laïcité als Rechtfertigung für vielerlei Dinge – ob es nun darum geht, kopftuchtragenden Müttern zu verbieten, ihre Kinder zu Schulaktivitäten zu begleiten oder muslimische und jüdische Schulkinder vor die Wahl zu stellen, entweder Schwein zu essen oder hungrig zu bleiben.

Die Laïcité ist jedoch nicht einfach nur ein Konzept, das von Rechten für politische oder kulturelle Zwecke vereinnahmt wurde, es ist auch ein Wert, der von der Linken bis hin zur extremen Linken beansprucht wird. Zudem besteht die Bedeutung der Laïcité darin, dass sie nicht einfach nur ein „Wert“ ist, der den Menschen im Kopf herumschwirrt, sondern dass sie konkret im französischen Bildungssystem verankert ist. Im heutigen Frankreich bewegt sich rund ein Viertel der Bevölkerung (24,7 Prozent) im Bildungssystem, sei es als Angestellte oder Lernende, was Ideale und Gebräuche im Sinne der Laïcité ins Zentrum sozialer und ökonomischer Strukturen der französischen Nation rückt.

Die Laïcité hat eine lange und turbulente Geschichte, der entscheidende Wendepunkt allerdings waren zweifelsohne die Ferry-Gesetze von 1881 und 1882, die den Grundsatz zementierten, dass die Primärausbildung in Frankreich kostenlos, verpflichtend und säkular sein sollte. Ähnliche Ausweitungen der öffentlichen Primärausbildung fanden auch andernorts in Europa statt. Durch die Industrialisierung bedingte Veränderungen erforderten lese- und schreibkundige sowie qualifizierte Arbeitskraft in Frankreich, besonders nach dem entscheidenden Sieg Preußens im Krieg von 1870, den viele damals zumindest teilweise der überlegenen Bildung Preußens zuschrieben.

Es gab jedoch auch andere Faktoren. Die Politiker, die nunmehr die Dritte Republik kontrollierten, hatten ihre Zähne in der Opposition des Zweiten Kaiserreichs gewetzt. Die katholische Kirche hatte eine bedeutende Rolle bei der Errichtung und Unterstützung der Herrschaft Napoleons des III. gespielt. Eine französische Besatzung hatte den Vatikan verteidigt, und erst als diese für den Deutsch-Französischen Krieg abgezogen wurde, verlor der Vatikan seinen Status als unabhängiger Staat und wurde Teil Italiens.

Republikanische Politiker waren daher eher kirchenfeindlich ausgerichtet und misstrauten der katholischen Kirche – was einer weit verbreiteten Stimmung im französischen Volk entsprach. Für dieses Misstrauen gab es klare Gründe. Die Loyalität der Kirche war zweigeteilt zwischen dem französischen Staat und dem Pontifikat, und das Pontifikat hatte seine eigene Außenpolitik, die nicht unbedingt mit der des französischen Staates übereinstimmte. Darüber hinaus herrschte die Furcht, dass katholische Lehrer Rom den Vorzug vor Paris geben könnten – so trug ein Dorfpfarrer während des Sardinischen Krieges angeblich seiner Gemeinde auf, für die Österreicher zu beten, da diese katholisch seien.

Infolgedessen waren Ferry und seine Anhänger der Meinung, die wichtige Aufgabe der Bildung der neuen Generation dürfe nicht potenziell unzuverlässigen Verbündeten in der Kirche überlassen werden, sondern sollte stattdessen von direkten Stellvertretern und Angestellten des Staates übernommen werden. Entscheidend war auch die Frage der Landesverteidigung. Frankreich hatte im Deutsch-Französischen Krieg eine katastrophale Niederlage erlitten und die Territorien Elsass und Lothringen an das neu errichtete deutsche Kaiserreich verloren. Vielerorts herrschte die Ansicht, Frankreich sollte sich bemühen, seine verlorenen Territorien zurückzugewinnen.

Ferry selbst war kein Befürworter eines Krieges gegen Deutschland und bemühte sich um eine Verbesserung mit Frankreichs Nachbarn. Seine Bewegungsfreiheit in dieser Angelegenheit wurde allerdings von der öffentlichen Meinung in Frankreich sowie der realen Möglichkeit eines neuerlichen Krieges mit Deutschland eingeschränkt. Die bevorzugte Option für Ferry war eine Ausweitung des französischen Kolonialreichs – eine Mission, die im Einklang mit seiner rassistischen Überzeugung war, die da lautete: „Überlegene Rassen (…) haben die Pflicht, unterlegene Rassen zu zivilisieren.“ Und so fiel es auch in Ferrys Amtszeit, dass Frankreich Indochina besetzte und annektierte. Derartige Ambitionen rückten die Frage der Streitkräfte in den Mittelpunkt. Frankreich war im Wesentlichen nach wie vor ein Bauernland – im Jahr 1900 waren 45 Prozent der arbeitenden französischen Bevölkerung Bauern und Kleinbauern. 1848 und 1871 waren es Bauernsoldaten, die die „Ordnung“ wiederherstellten und Arbeiteraufstände in Paris unterbanden, und auch in den darauf folgenden Jahrzehnten sollte die Armee immer wieder gegen Streikende eingesetzt werden.

Es gab jedoch eine Schwierigkeit mit dem Landvolk. Ihr Nationalgefühl war entschieden zu schwach, und Bauern neigten viel eher dazu, sich mit ihrem Dorf oder ihrer Provinz zu identifizieren als mit der französischen Nation. Von der Bretagne bis hin zur Provence sprachen viele Bauern andere Sprachen oder Dialekte als das Französische – amtliche Zahlen von 1863 belegen, dass bis zu ein Viertel der Bevölkerung kein Französisch sprach. Aus einigen Gegenden hieß es sogar, die Bauern wüssten nicht, dass sie Franzosen seien.

Ein zentrales Motiv im Bildungsprojekt Ferrys war damals die Stärkung des Bewusstseins für die französische Identität durch den Ersatz der religiösen Bildung durch „sittliche und staatsbürgerliche“ Bildung, welche ein Gefühl für Patriotismus und nationale Zugehörigkeit vermitteln sollte. Zu den Grundlagen des Stundenplans im neuen Schulmodell gehörten militärische Ausbildung für Jungen und Handarbeiten für Mädchen (etwa das Nähen von Uniformen).

Die militärischen Übungen in den neuen Schulen erlangten beachtliche Bedeutung. Ein Historiker beschrieb die Angelegenheit wie folgt:

Es war die Zeit der „Schulbatallione“. Eine republikanische Erfindung von Paul Bert, eingeführt 1882. Konkret hieß das, den Eintritt der Schüler in die Grundschulen auszunutzen, um ihnen „patriotische Staatsbürgerschaft“ über militärische Übungen einzuflößen. Die Kinder probten das Marschieren mit Spielzeuggewehren und hölzernen Bajonetten, übten sich jedoch außerhalb der Schule in Armeeschießständen auch mit scharfer Munition.

In der Einführung eines Kolloquiums zu den Ferry-Gesetzen 1985 beschreibt François Furet die Verankerung der Laïcité in der Bildung als „bestes Symbol des größten und einzigen Sieges der Linken seit der Französischen Revolution“. Zum Zeitpunkt der Einführung der Ferry-Gesetze sowie der Laïcité allerdings war die Einstellung der Linken dazu weniger enthusiastisch. Für einen Flügel der Sozialistischen Partei unter der Führung des charismatischen Jean Jaurès stimmte es wohl, dass die Ferry-Gesetze sowie die Trennung von Kirche und Staat als großer Fortschritt angesehen wurden. Als junger Mann hatte Jaurès ein freundliches Verhältnis zu Ferry gepflegt und stand der Vorstellung der Laïcité als Teil seiner allgemeinen Zugeständnisse an die republikanische Politik offen gegenüber. 1904 vertrat Jaurès die Beteiligung der Sozialisten an einer republikanischen Regierung mit der Begründung, sie hätte die Republik gerettet, und streifte die Tatsache, dass die republikanische Regierung auch Truppen auf streikende Arbeiter hatte schießen lassen, nur am Rande.

Für die marxistische Linke lagen die Dinge anders. Im Sommer 1882, als das Ferry-Gesetz zur Laïcité gerade verabschiedet war, stattete Karl Marx selbst auf dem Rückweg von seinem Aufenthalt in Algerien Paris einen beinahe dreimonatigen Besuch ab. In seiner Korrespondenz aus dieser Zeit findet sich keine Erwähnung dieser Ereignisse – ungewöhnlich, sah Furet die Laïcité doch als den größten Sieg der Linken an. Paul Lafargue – Schwiegersohn von Marx sowie nach seiner Ansiedlung in Paris 1882 drei Jahrzehnte lang führender marxistischer Denker und Autor – nahm ebenfalls in seiner umfangreichen Korrespondenz mit Engels zu keinem Zeitpunkt Bezug auf die Ferry-Gesetze. Möglicherweise war diese Auslassung Marx’ und Engels’ Geringschätzung Ferrys geschuldet – Marx verhöhnte seine „Misswirtschaft“ im Zeitraum vor der Pariser Kommune, während Engels ihn einen „Dieb ersten Ranges“ nannte.

Karl Kautsky allerdings, der sogenannte „Marxismuspapst“ nach dem Tod Engels’, hatte eine etwas andere Sichtweise. Auch wenn er allgemein der Dritten Republik sowie den Illusionen, die sich in der sozialistischen Bewegung Frankreichs viele über sie machten, kritisch gegenüberstand, äußerte er ohne Vorbehalte: „Im Bereich der Bildung hat die Dritte Republik Großes geleistet.“ Dennoch war er skeptisch, was die Trennung von Kirche und Staat anging: „Wenn es nun einen Bruch zwischen Kirche und Staat gegeben hat, dann ist dies einer Provokation der Kirche zuzuschreiben. Dennoch bleibt zu bezweifeln, ob dieser Bruch ein dauerhafter sein wird.“ Später äußerte sich Kautsky folgendermaßen:

Die liberalen Politiker der Bourgeoisie haben heute alles Interesse an einem Kampf gegen die Kirche, jedoch nicht an einem Sieg über sie. Sie können sich nur solange auf den Rückhalt des Proletariats verlassen, wie der Kampf fortdauert. Sollte er enden, so würde der Verbündete am Tag des Untergangs der Kirche zum Feind. Selbst in Zeiten größter revolutionärer Kraft kam die Bourgeoisie nicht lange ohne die Kirche aus.

Anders gesagt sah er die Laïcité eher als Zugeständnis an die Linke denn als alternative ideologische Strategie an. Lafargue hatte eine schärfere Auffassung der Angelegenheit. Er war Atheist sowie Materialist und strikt gegen kirchlichen Einfluss; seine erste Handlung nach der Wahl ins Parlament war die – erfolglose – Einbringung einer Resolution zur Trennung von Kirche und Staat. Er war jedoch auch misstrauisch gegenüber denen, die großen Wert auf Kirchenfeindlichkeit legten. Im Programm der Parti Ouvrier von 1883, geschrieben von Lafargue und Jules Guesde, gibt es eine geringschätzige Erwähnung bürgerlicher Freigeister, welche „die Einstellung staatlicher Mittel an Kirchen sowie die Trennung von Kirche und Staat“ forderten. Sie wiesen darauf hin, dass es in den USA eine solche Trennung gäbe (sodass Religionsgemeinschaften „eine Privatwirtschaft wie Lebensmittelhändler oder Schweinemetzger“ seien), was jedoch „nicht verhindert, dass die Lepra der Religion mehr an der großen amerikanischen Republik nagt als jede andere Macht der Welt“.

1886 veröffentlichte Lafargue eine Satire mit dem Titel La Religion du Capital („Die Religion des Kapitals“). Er malte sich eine Konferenz in London mit ökonomischen und politischen Vertretern des europäischen Kapitalismus aus – Clemenceau, Rothschild, Gladstone, Herbert Spencer, von Moltke und so weiter. Unter den Teilnehmern waren Ferry und Paul Bert, der als Bildungsminister einer von Ferrys wichtigsten Verbündeten bei der Einführung der Laïcité gewesen war. Ihr Anliegen war es, das Überleben des Kapitalismus zu sichern. Und dafür brauchte es irgendeine Religion. In der Satire erklärt Bert, dass er, während er selbst nicht gläubig sei, eine Religion für die Arbeiterklasse befürworte. „Die Arbeiter müssen glauben, dass die Armut das Gold ist, mit dem man den Himmel erwirbt… Ich bin ein äußerst religiöser Mann… wenn es um andere geht.“

Das Problem war, dass das Christentum seine Glaubwürdigkeit verloren hatte. In einer Passage Voltairscher Farce stellt Bert fest, es sei nicht mehr möglich, Menschen davon zu überzeugen, dass „eine Taube mit einer Jungfrau geschlafen hat und aus dieser Verbindung, verdammt durch Moral und Physiologie, ein Lamm geboren wurde“. Die Abgeordneten kamen überein, dass eine neue Religion erforderlich sei, welche auf der Anbetung des Kapitals sowie einem Katechismus fußen sollte, welcher den Arbeitern die Verpflichtung zur Arbeit auferlegte. Hier scheint Lafargue satirisch die Rolle der Laïcité zu kommentieren – einer Doktrin, welche die Rolle übernehmen sollte, der die überholten christlichen Lehren nicht mehr länger gewachsen waren.

Ab und an wird behauptet, die Laïcité hätte die Traditionen der Pariser Kommune fortgeführt. Es ist wohl richtig dass die Kommune zwischen Religion und Bildung getrennt hatte. Maurice Dommanget jedoch legte dar, dass die Kommunarden den Begriff Laïcité nicht oft verwendet hätten, da sie sich selbst eher als Materialisten denn als neutral gegenüber der Religionsfrage einordneten. Darüber hinaus sah sich die Kommune, wie Kristin Ross in ihrer hervorragenden aktuellen Studie belegt, nicht als Staat an, sondern verfolgte lokale Selbstbestimmung innerhalb eines internationalen Rahmens. Ganz bestimmt sah sie die Bildung nicht als Vorbereitung für den Militärdienst an. Die Kommune vertrat eine vollkommen andere internationalistische Tradition als diejenige, welche die Anhänger der Laïcité entwickelt hatten.

Mit die schärfste Kritik an der Laïcité kam aus den anarchistischen und syndikalistischen Strömungen – die anarchistische Position ließ sich zusammenfassen als „weder Kirche noch Staat“. Für Sébastien Faure war die christliche Schule „gestaltet von der Kirche und für sie“, während die „école laïque“ „vom Staat und für ihn gestaltet wurde“. Er setzte dem die Vorstellung der „Schule der Zukunft… gestaltet für das Kind“ entgegen. André Lorulot fand rauere Worte und nannte staatliche Schullehrer „intellektuelle Bullen der Kapitalistenklasse“. Es gab diverse Versuche von Anarchisten, libertäre Schulen ins Leben zu rufen, die sowohl von Kirche als auch Staat unabhängig sein sollten; ein derartiges Unterfangen wurde von Émile Zola und anderen Autoren unterstützt, doch am Ende kam es aus Mangel an Ressourcen nicht zustande.

Wie Marx und Engels hatten auch die Anarchisten eine geringe Meinung von Ferry und sahen ihn ganz bestimmt nicht als Helden der Linken. Émile Pougets Zeitschrift Le Père Peinard verband radikale Meinungen mit äußerst direkter und oft vulgärer Gemeinsprache. Pouget hatte, gelinde gesagt, eine aggressiv feindliche Einstellung zu Ferry: „Wenn es ein Schwein gibt, das mich anwidert, dann ist es Ferry. Was für ein dreckiges Vieh er ist, der größte Hundsfott in Frankreich… Ich fände es zu schön, wenn ihm jemand den Hals umdreht, man könnte ihn mit weniger Bedauern umbringen als man ein Insekt zerdrückt.“ Pouget hatte eine interessante Ansicht dazu, ob es Priestern überhaupt gestattet sein sollte, als Lehrer zu arbeiten. Er sprach sich gegen eine vollständige Sperre aus, äußerte jedoch dass Priester zum Schutz der Schüler und zum Beweis ihres Bekenntnisses zum Zölibat kastriert werden sollten.

Einige andere anarchistische Schriften traten gegen die Laïcité ein. Die Streitschrift L’École: Antichambre de caserne et de sacristie („Die Schule: Vorzimmer von Kaserne und Sakristei“) – veröffentlicht ohne Autorenangabe, jedoch vermutlich verfasst von Émile Janvion, einem der Begründer der französischen Gewerkschaft CGT sowie angeblichem Initiator der ersten „libertären Schule“ Frankreichs – zitierte Bakunin und Stirner beifällig in der Argumentation, dass die Laïcité lediglich ein alternatives Dogma zu dem der Kirche darstellte. Er griff auch die Äußerung des republikanischen Politikers Léon Gambetta „Klerikalismus ist der Feind“ auf und beantwortete sie mit „Religionen (ob von Staat oder Kirche) sind der Feind“. Er kam zu dem Schluss: „Unsere Kirchenfeinde haben einen Priestergeist. Unsere Atheisten sind fromme Menschen.“

Janvion legte besonders Augenmerk darauf, wie säkulare Schulen nationalistische Tendenzen förderten. Kinder würden „indoktriniert mit blindem, schwachsinnigem Hass gegen Menschen, die am anderen Ufer von Fluss Soundso leben, mit Vernarrtheit in ihre eigene Rasse zum Verhängnis aller anderen“. Er erwähnte die Praxis säkularer Schullehrer, bestimmte Sätze an die Tafel zu schreiben, die dann im Lauf des Schultags von den Schülern immer wieder im Chor aufgesagt wurden. Typische Beispiele hierfür waren: „Ein guter Franzose muss wissen, wie er für die Fahne zu sterben hat“, „Du existierst nur für die Heimat, du lebst allein für sie“, oder „Ein guter kleiner Franzose hat sich darauf vorbereiten, ein guter Soldat zu werden“. Janvion verwies auch auf einen Band zur „sittlichen und staatsbürgerlichen Erziehung“, der erläuterte: „Militärdienst ist die Lehre für den Krieg. Er ist notwendig, um eine beständige Armee zu bilden, die uns gegen Verbrecher im Inneren und Feinde im Ausland verteidigen kann.“ Der Ausdruck „Verbrecher im Inneren“ bezieht sich klar auf die Rolle der Armee als Streikbrecher vor 1914.

Antonin Franchets kleiner Band Le Bon Dieu laïque („Der gute säkulare Gott“) konzentrierte sich auf die Bücher, welche in säkularen Schulen zum Einsatz kamen. Ein beliebtes Werk von Charles Dupuy, ehemaliger Bildungsminister, stellte Schülern die Frage: „Wie sollen wir unsere Liebe zur Heimat zeigen? – Durch Achtung ihrer Gesetze, selbst wenn sie uns Umstände machen, und durch die Verteidigung ihrer Länder und ihrer Unabhängigkeit gegen den Fremden, selbst zum Preis unseres eigenen Blutes.“ Schulbücher gaben den Schülern auch vor, was sie von Frankreich zu halten hatten: „Ich liebe es, wie ich Vater und Mutter liebe. Um meine Liebe unter Beweis zu stellen, werde ich von nun an ein artiges und fleißiges Kind sein, damit ich, wenn ich erwachsen bin, ein guter Bürger und ein guter Soldat werde.“

Internationalistische Ideale waren verpönt:

Du magst wohl um dich von nichtsnutzigen und selbstsüchtigen Menschen hören, es hätte keinen Wert, Bürger seines eigenen Landes zu sein, und dass man ein Bürger der Welt sein sollte, was man Kosmopolit nennt; dass die Heimat überall dort liegt, wo man sich wohlfühlt; dass Heimat nur ein Wort ist, ein abstrakter Begriff, der positive und praktische Geister nicht täuschen sollte.

Sogar Bücher zur Vermittlung moralischer Grundsätze enthielten nichts dergleichen:

Ich weiß, dass man seine Heimat lieben kann, ohne gleichzeitig andere Völker zu hassen und ihren Untergang zu wünschen. Für Soldaten gibt es jedoch Fälle, in welchen es notwendig ist, hassen zu können, den missgünstigen, gnadenlosen Feind hassen zu können, der uns nach der missbräuchlichen Anwendung von Gewalt, mit der er uns unserer Brüder in Elsass-Lothringen beraubt hat, stetig nach einer neuen Möglichkeit sucht, uns den tödlichen Hieb zu versetzen.

Solange der Hass auf den Bezwinger unserer Heimat am Leben ist, kann der Besiegte nicht vergeben oder vergessen.

Also, hasst die Ungerechtigkeit der Vergangenheit, die Ungerechtigkeit die noch immer droht. Ja – um die eine zu rächen und die Folgen der anderen abzuwehren, ist Hass eine Macht, Franzosen, ist Hass eine Pflicht!

In einem Schulbuch von Émile Lavisse mit dem treffenden Titel Tu seras soldat („Du wirst ein Soldat sein“) ermutigt der Verfasser seine jugendlichen Leser, eine Zukunft als Spione ins Auge zu fassen. Zwar wartet er nicht mit einem Lebenswandel à la James Bond auf, allerdings vermittelt er den Schulkindern unmissverständlich, dass der Zweck die Mittel heiligt, und dass Lügen und Verheimlichung vollends legitim seien:

Der Spion, der seinem Land in Friedenszeiten dient, ist ein schlauer, tapferer und mutiger Mann, der in ein fremdes Land zieht, um dessen Verteidigung und Kriegsvorbereitung zu studieren und sie seiner Heimat offenzulegen.

Zu diesem Zwecke sind alle Mittel rechtens. Er verbirgt seine Nationalität und nimmt einen falschen Namen an; er spricht die Sprache des Landes und verschleiert seine Aufgabe durch die Arbeit in verschiedenen Berufen.

Die anarchistischen Kritiker der Laïcité sind selbst anfällig für Kritik – Pouget und Janvion im Besonderen waren Antisemiten. Dennoch sind ihre Beobachtungen hilfreich dafür, die Laïcité in einen Kontext zu setzen und zu verdeutlichen, dass sie als Konzept nicht ausschließlich progressiv war, wie so oft behauptet wird. Den Gegenstimmen zum Trotz erreichte die Laïcité im Großen und Ganzen ihr Ziel, eine völkische Identität gestützt von militärischer Macht zu festigen. So schreibt der Historiker Eugen Weber: „Im August 1914 war es wenig überraschend, zu hören, dass ein junger Bauer aus dem Var und seine Freunde ‚fröhlich’ (wie er seinen Eltern schrieb) an die Front zu ziehen und ‚unser Land Frankreich zu verteidigen’.“

Einen kleinen Bruch gab es 1912, als die Gewerkschaft der Grundschullehrer für die Unterstützung des sou du soldat, eines antimilitaristischen Fonds, votierte. Dies sorgte für eine gewisse Panik – der ehemalige Kriegsminister Adolphe Messimy erklärte, zweifelsohne ehrlicherweise, dass, auch wenn er ein Unterstützer der Laïcité sei, das Verhalten der Lehrergewerkschaft inakzeptabel wäre. Kurzzeitig erschien es so, als würden sich die Vertreter des Staates gegen ihn wenden. Doch nur 5 Prozent aller Lehrer waren gewerkschaftliche organisiert, und am Ende verlief die Oppositionsbekundung im Sande.

Die Tradition der Kritik an der Laïcité hatte auch nach dem Ersten Weltkrieg weiter Bestand. Die Zeitschrift Clarté, die der Kommunistischen Partei zwar nahe stand, jedoch nicht vollends von ihr gesteuert wurde, berichtete von Entwicklungen im Schulwesen Russlands nach der Revolution, die eine Alternativen zur kirchlichen oder staatlichen Bildung bieten mochten. Eine Bildungskonferenz, die 1919 in Moskau stattfand, tat akademische Neutralität und Laïcité als „Bauernfängerei“ (attrape-nigaud) ab, die dazu diente, die Interessen der Bourgeoisie zu vertreten.

Die junge Kommunistische Partei Frankreichs bezog zur Laïcité deutlich anders Stellung, als es heute viele Linke tun. Hadjali Abelkader – verheiratet mit einer Französin und dadurch im Gegensatz zu den meisten Nordafrikanern Inhaber der vollumfänglichen französischen Staatsbürgerschaft – war Gründungsmitglied der Partei, schrieb regelmäßig für Le Paria (die kommunistische Zeitung für Immigranten und Arbeiter der Kolonien) und wurde 1924 beinahe ins Parlament gewählt. Lebenslang muslimischen Glaubens vertrat Abelkader die Ansicht, Kommunisten sollten eine unpolemische Position zum Islam vertreten.

Heute, wo das Konzept im Sinne der Islamophobie ausgespielt wird, ist es besonders wichtig, die Laïcité von ihrem Podest zu stoßen. Dafür ist allerdings das Verständnis vonnöten, dass die Laïcité kein edles Ideal ist, das missbraucht und verfälscht wurde – sondern dass sie als Konzept von jeher makelbehaftet ist.

Editorischer Hinweis

Der Artikel von Ian Birchall  erschien im Jacobin-Mag. Er ist Autor des Buchs „Tony Cliff: A Marxist for His Time“.

Der Text wurde von Marion Wegscheider ins Deutsche übersetzt und erschien bei "Die Freiheitsliebe", von wo wir ihn spiegelten.

Die Geschichte der Freiheitsliebe

Unser Blog wächst und wächst und immer mehr Menschen setzen sich mit unseren politischen Statements auseinander. Im Folgenden wollen wir dem Wunsch vieler LeserInnen nachkommen und die Frage beantworten, wie die Freiheitsliebe entstanden ist. Die Idee zur Gründung der Freiheitsliebe geht auf uns beiden Autoren „BlickRichtungSonne“ (schreibt leider nicht mehr für den Blog), dessen Pseudonym sich auf ein deutsches Lied zur Kurdenproblematik bezieht, und mich, Julius Jamal, zurück. Wir trafen uns damals regelmäßig auf ein kühles Getränk in Köln und redeten über allerlei Alltägliches und Tratsch, wobei wir letztlich immer wieder bei politischen Themen landeten. Ein Themengebiet, in dem wir ähnliche Ideale hatten, aktuelle Ereignisse aber verschieden analysierten und folglich verschiedene Schlüsse aus diesen zogen. In Anbetracht der anstehenden Wahlen überlegten wir uns, welche Partei uns am nächsten sei.



Auch da kamen wir beide auf verschiedene Ergebnisse, wichtiger aber: „BlickRichtungSonne“ offenbarte mir, er dürfe nicht mal auf kommunaler Ebene wählen. Wir echauffierten uns dermaßen darüber, dass sich in uns der Drang entwickelte, uns anderen Menschen mitzuteilen. Über gesellschaftliche Missstände in einer widersprüchlichen Welt. Der Frust über die Tatsache, dass einer von uns beiden Wählen durfte und der andere nicht, obwohl wir beide in Deutschland aufgewachsen waren, einen ähnlichen Lebensweg absolviert hatten, führte dazu, dass wir beiden unsere Meinung zu dieser Ungerechtigkeit weiter verbreiten wollten. Auch wollten wir somit für Jugendliche sprechen, die ebenfalls vom Wahlrecht ausgeschlossen sind.

Quelle: http://diefreiheitsliebe.de/ueber-uns/