Weltwirtschaft
Wachsende Unsicherheit

von  Markus Lehner

01/2016

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6 Jahre nach dem weltwirtschaftlichen Einbruch von 2009 zeichnen sich die Konturen der Periode nach diesem Ereignis deutlicher ab - sowie die Tendenzen zu neuerlichen zugespitzten Krisen. Anders als 1929 führte die Finanzmarktkrise, die 2008 ihren Höhepunkt hatte, diesmal nicht zu einer Periode der „großen Depression“.

Zwischen 1929 und 1935 brach die Produktion in den Industrieländern um ein Viertel ein und die Arbeitslosigkeit stieg im selben Maß, so dass erst der Zweite Weltkrieg den Kapitalismus wiederbelebt hatte. 2009 fand zwar der stärkste Einbruch seit dem Zweiten Weltkrieg statt - um durchschnittlich 5% - und die Industrieproduktion erreichte erst 2014 wieder das Vorkrisenniveau. Aber es blieb bei der „Großen Rezession“ - der Sturz in die Depression wurde vermieden, insbesondere die großen Vermögen wuchsen (anders als nach 1929) ab 2010 nach einer kurzen Delle im selben, wenn nicht gar in schnellerem Tempo als zuvor.

Unterschied zu 1929

Der wesentliche Unterschied zu 1929 ist offenbar die Reaktion der führenden Subjekte des Kapitals, die diesmal nicht „die Krise ihr Werk verrichten“ ließen, wie die Super-Liberalen der frühen 1930er, sondern v.a. ein Ziel verfolgten: Rettung der großen Vermögen. Letzteres erschien zunächst v.a. als „Bankenrettung“. Tatsächlich ging es nicht so sehr um konkrete Institutionen, als vielmehr um die Sicherheit der großen privaten Kapitale, die ihre Investitionen zu verlieren drohten.

Dies wurde noch einmal in der Griechenlandkrise deutlich. Die Übernahme von Schulden und Wertpapieren aller Art durch Zentralbanken und Staatsfonds, schließlich die schier unbegrenzte Versorgung mit Liquidität („quantitative easing“ (QE) in USA, „Abenomics“ in Japan, „Super-EZB-Mario“ in der Eurozone), haben die Anleger, die ihre Billionen wieder in „sichere“ Investitionen transferieren konnten, gerettet. Zudem konnte China von der Schwächeperiode der bisherigen Weltdominatoren profitieren und auf vielen Gebieten als starke Exportmacht expandieren. Von diesem Aufschwung wiederum profitieren eine Reihe anderer „Schwellenländer“. QE und der China-Boom (beides kombiniert mit großen Konjunkturprogrammen in den USA und China) konnten die Weltwirtschaft 2010 vor dem Fall in die Depression retten und eine Stabilisierung der Konjunktur bis 2011 einleiten.

Doch diese Stabilisierung - oder das Vermeiden des Falls in die Depression - hat weder die Krisenursachen beseitigt, noch zu einer neuen „Aufschwungperiode“ geführt.

Ursache der Krise

Denn die Ursache der Krise ist nicht v.a. in den Finanzmarktblasen zu suchen. Diese sind selbst nur Resultat der langfristigen Verwertungsprobleme des Kapitals. Seit den 1970ern ist ein von Jahrzehnt zu Jahrzehnt fallendes Niveau der Profitraten in den wert-produzierenden Wirtschaftssektoren feststellbar. Ausgeglichen wird dies in der kapitalistischen Logik durch zunehmende Akkumulation von Kapital. In den reichen Industrienationen stieg der Anteil von Kapitalanlagen inzwischen auf das 5- bis 6-fache des Bruttoinlandsprodukts (BIP). Damit können auch bei fallenden Kapitalrenditen (von um die 10% in den 70ern auf um die 5% derzeit) die immer größer werdenden höchsten Vermögen auch weiter, absolut betrachtet, wachsen. Und wenn produktive Anlagen immer unprofitabler werden, so werden eben Extra-Profite gemacht, indem ein Teil der Vermögen in riskanteren Finanzmarktgeschäften angelegt wird. Dies ist das Muster einer Akkumulation, die immer mehr der reinen Reichtumsvermehrung an der Spitze der Vermögenspyramide dient, zugleich aber von einer stagnativen Tendenz in Bezug auf Real-Investitionen, Produktivität und Wachstum der produktiven Sektoren gekennzeichnet ist.

Die Kapitalakkumulation in den alten imperialistischen Ländern (USA, Deutschland, Japan …) seit der Stabilisierung 2011 ist von einer Verstärkung dieses stagnativen Akkumulationsmodells geprägt. In den USA fiel der Anteil der Nettoinvestitionen am eingesetzten Gesamtkapital seit Ende der 90er Jahre um zwei Drittel, in Deutschland um ein Drittel, jeweils mit Verstärkung nach 2009. Das Produktivitätswachstum in den USA ging von einem Durchschnittsniveau von 2,3% auf 0,5% seit der Krise zurück. Neben der Erhöhung der Ausbeutungsrate durch Ausdehnung prekärer Arbeitsverhältnisse wurden die Gewinne v.a. durch Einsparungen bei den „Vorleistungen“ (z.B. Rohstoffe, Zwischenprodukte, Energie) erzielt.

Daher auch der große Druck, der von den imperialistischen Zentren auf die Zuliefer- und Rohstoff-Lieferanten ausgeht. Seit 2011 werden „Schwellenländer“ wie Brasilien heftig vom Verfall der Rohstoffpreise, insbesondere von Öl, getroffen. Dazu kommt die mit dem QE verbundene Abwertung der Leitwährungen und Spekulation gegen deren Staatsschulden und Bankensysteme. In der Folge der Krise sind es daher v.a. die ärmeren Länder, die von Inflation und Austeritätspolitik getroffen wurden. Auch die Staatsschuldenkrisen in Südeuropa sind nur eine der Euro-Konstruktion geschuldete Verschiebung der Krisenbewältigung aus den Verursacherländern in die schwächeren Glieder dieses Wirtschaftsraums.

Insgesamt ist diese ökonomische Entwicklung natürlich Hintergrund für die Verschärfung politischer Krisen im arabischen Raum, in Teilen Asiens, im Gürtel um Russland und auch wieder in Lateinamerika.

Stagnation

Diese Faktoren - stagnative Entwicklung in den Zentren, schrumpfende Investitionstätigkeit und geringe Profiterwartungen im produktiven Bereich, offene Krise an der Peripherie, wachsende politisch/militärische Risiken - führen dazu, dass die Erwartungen, die an die ungeheure Ausdehnung des Geldvolumens in Dollar, Euro und Yen gesetzt wurden, sich in keiner Weise in einem Aufschwung produktiver Investitionen umsetzen. Das Gros der gewonnen Liquidität wird wieder in Finanzanlagen geleitet. Nicht nur, dass der Shiller-Index (Verhältnis von Aktienpreisen zu langfristigen Gewinnerwartungen) heute einen so aufgeblasenen Aktienmarkt andeutet, wie er nur 1929, 1999 und 2007 bestand (also vor den größten Crashs der Geschichte). Inzwischen haben sich auch wieder munter Schattenbank-Systeme, wie vor 2008, herausgebildet - um die großen Vermögensverwaltungs-Gesellschaften und um neue Finanzprodukte v.a. im ETF-Umfeld (Exchange-Traded-Fonds sind eine neue Form von Derivaten).

In diese sowieso schon angespannte Situation platzt jetzt auch das Wanken des zweiten Pfeilers der Stabilisierung nach 2009: der chinesische Boom-Motor beginnt zu stottern. Nicht nur, dass die Wachstumsraten deutlich unter die angepeilte „Minimalmarke“ von 7% fallen. Es wird immer offensichtlicher, dass vieles am vorangegangenen Boom nicht so nachhaltig war, wie gedacht. Seit dem Aufschwung Anfang dieses Jahrtausends sind Investitionen getätigt worden, von denen sich heute 67 Billionen Yuan als „völlig ineffektiv“ herausstellen - d.h. fast 60% der Investitionen „haben nicht die Erwartungen erfüllt“. Wachstum und Produktivitätssteigerung der letzten Jahre sind wohl ziemlich überbewertet und China macht gerade eine „Korrektur-Krise“ durch, begleitet von einer Finanzmarktkrise, die v.a. das Schattenbankensystem durchrüttelt. Diese „Korrektur“ des Wachstumsmodells in China führt zu einer weiteren Verschärfung des Abwärtstrends auf dem Weltmarkt und speziell in den vom Export nach China abhängigen Schwellenländern.

Beispiel Japan

Symptomatisch für das vorherrschende stagnative Akkumulationsmodell ist schon seit einigen Jahrzehnten Japan. Von allen imperialistischen Ländern hat Japan zuletzt sowohl das größte QE-Programm als auch eine weitere Steigerung der Rekord-Staatsverschuldung zur Ankurbelung der Investitionstätigkeit umgesetzt. Wie sich mit dem derzeitigen Rutschen in die fünfte Rezession seit Beginn der Krise zeigt, sind diese kurzfristigen Interventionen offenbar ungeeignet, die grundlegenden Probleme zu lösen.

Mit den schwerwiegenden Problemen der beiden asiatischen Wirtschaftsmotoren, der stagnativen Tendenz in Europa und den USA, sowie den wachsenden Risiken durch neue Finanzmarktblasen, sind insgesamt die Indikatoren für einen neuerlichen synchronisierten Einbruch der Weltwirtschaft mit Einschluss schwerer Erschütterungen an den Finanzmärkten wieder stark angestiegen.

Die Linke und die ArbeiterInnenbewegung werden gut daran tun, nicht wieder wie das Kaninchen vor der Schlange darauf zu warten, wie das Kapital sich wohl wieder rettet. Ein nächster Kriseneinbruch wird kaum mit solchen Abschwächungsmethoden wie der laxen Geldpolitik und entsprechender Staatsintervention vonstatten gehen - diese Munition ist wohl schon verschossen. Das nächste Mal müssen wir uns wohl eher mit Problemen auseinandersetzen, mit denen unsere GenossInnen in den 1930er Jahren konfrontiert waren.

Editorischer Hinweis
Wir erhielten den Artikel von ARBEITERMACHT-INFOMAIL, Nummer 856, 23. Dezember 2015,  www.arbeitermacht.de