Über den Widerspruch
von Philippe Sollers

01/2016

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Vorbemerkung der Übersetzer

Dieser Aufsatz wurde in der 45. Nummer der fran­zösischen Zeitschrift Tel quel, im Frühjahr 1971, zum erstenmal veröffentlicht. Er steht in engem Zusammenhang mit dem Aufsatz von Philippe Sol­lers «Lenine et le materialisme philosophique», der in Nr. 43 von Tel quel erschien, ohne jedoch eine un­mittelbare Fortsetzung der vorhergehenden Arbeit darzustellen. Dies rechtfertigt eine gesonderte Ver­öffentlichung des folgenden Artikels. Die Überset­zung folgt der in Tel quel abgedruckten Fassung; Eine geringfügige Änderung an einer Stelle (die Korrektur der Übersetzung eines chinesischen Wor­tes) geht auf den Wunsch von Philippe Sollers zu­rück. Wir versuchten, Eigenheiten der Diktion von Sollers (zumal Wortspiele) wo irgend möglich im Deutschen nachzuahmen, da sie nicht allein für Sol­lers' Stil, sondern für die «strukturalistische» Dar­stellungsform charakteristisch sind. Wo jedoch das Verständnis des ohnehin nicht einfache Argumentationsgang des Textes durch die Übernahme sprach­licher Eigentümlichkeiten erschwert worden wäre, zogen wir eine gegenüber Sollers' Stil diskursivere Formulierung in der Übersetzung vor. Aus tech­nischen Gründen kann hier nur eine längere chine­sische Passage wiedergegeben werden; auf die Re­produktion von einzelnen chinesischen Schriftzei­chen, die Sollers an mehreren Stellen in seinen Auf­satz einfügte, mußten wir verzichten. Kenner des Chinesischen müßten auf das französische Original des Aufsatzes zurückgreifen. Der Redaktion der Zeitschrift Tel quel danken wir für die Genehmi­gung zum Abdruck dieser Übersetzung.

I

Mao Tse-tung (1) verfaßte seine Schrift Über den Widerspruch im Jahre 1937, also zwei Jahre nach dem «Langen Marsch» und kurz nach Auslösung des neu­en chinesisch-japanischen Krieges: Es erübrigt sich, die strategische Bedeutung eines solchen Zeitpunkts zu betonen. Von nun an sollte die Revolution, in einer unaufhaltsamen Bewegung, unter dem Man­tel des Krieges, nach und nach das gesamte chinesi­sche Territorium erfassen. Wie die Schrift Über die Praxis bezeichnet auch Über den Widerspruch den entscheidenden Wendepunkt dieses Prozesses: als theoretische Basis seiner Verbreiterung wie als Ar­tikulierung seines komplexen und neuartigen Cha­rakters, der in der Geschichte kein Vorbild hat. Heute bilden diese beiden Texte zusammen mit den Schriften Über die richtige Behandlung der Wider­sprüche im Volk (1957) und Woher kommen die richtigen Ideen der Menschen? (1963) den berühm­ten Komplex der sogenannten «Vier philosophi­schen Abhandlungen». Unserer Behauptung zufol­ge stellen sie im Vergleich zur dichten Reihe der Texte von Marx, Engels und Lenin einen beacht­lichen und völlig originellen «Sprung nach vorn» in der Theorie des dialektischen Materialismus dar. Dies ist so zu verstehen: In gleicher Weise wie Le­nin eine Fülle neuer Denkprozesse entdeckt und ex­pliziert, die zwar bei Marx und Engels «vorhan­den sind», jedoch ohne ihn zweifellos unauffindbar wären, so schält auch Mao Tse-tung bei Lenin einen bis dahin unsichtbaren «Kern» heraus und entwik-kelt auf völlig neuartige Weise die Folgerungen aus diesem Kern. Widerspruch: die Reihe, die um die­ses Konzept herum zur Ausbildung gelangt, wird im weiteren zum Brennpunkt der marxistisch-leni­nistischen Theorie. Man muß sehen, daß die Zen­trierung um diesen Brennpunkt einen historischen (an den weltweiten Klassenkampf gebundenen) und zugleich theoretischen Grund hat: die Aufdek-kung dessen, worin die Theorie der fundamentalen Einsicht in die Entwicklung und zunehmende Kom­plexität der historischen Bewegung entspricht. Wie bei Lenin ist die aufklärerische Tat Mao Tse-tungs dieser Zunahme an realer Komplexität angemessen: Lenin vermochte unmittelbar, noch während des 1. Weltkrieges, den aufsteigenden Imperialismus und seine kritische Kehrseite zu benennen; Mao Tse-tung entwarf, sofort nachdem der 2. Weltkrieg fak­tisch begonnen hatte, das theoretische und prakti­sche Bild des zerfallenden Imperialismus. Lenin tat dies, indem er Kautskys falsche These vom «Ultra­imperialismus» auseinandernahm, d. h. die Unfä­higkeit, die internationale Ausdehnung des Finanz­kapitals als Novum zu begreifen, - also jenen «grundfalschen Gedanken, der Wasser auf die Müh­le der Apologeten des Imperialismus leitet, daß die Herrschaft des Finanzkapitals die Ungleichmäßig-keiten und die Widersprüche innerhalb der Welt­wirtschaft abschwäche, während sie in Wirklichkeit diese verstärkt»(2). Mao Tse-tung tat dies, indem er Uber den Widerspruch schrieb, eine Kritik der dogmanschen und empiristischen Irrtümer, und indem er, ausgehend vom Volks- und Antikolonialkrieg, die Folgen einer Verkümmerung der Dialektik vor­aussah, die eine neue Vielfalt mechanistischer und metaphysischer Materialismen auf dem Gebiet des Marxismus selber hervortreibt, d. h. letztlich jenen Idealismus, den der Ökonomismus darstellt. Die Kritik an dem sowjetischen Philosophen Deborin -der Theorie und Praxis, Philosophie und Politik trennte - gibt Anlaß zu einer grundsätzlich ver­änderten Darlegung der materialistischen Dialektik und ihres Angelpunktes: des Widerspruchs. Was Lenin, angeregt durch seine Praxis und durch die Texte von Marx und Engels, in seiner erneuten Ar­beit über Hegel (und damit über die Gesamtheit der westlichen Philosophie) gewinnt, das schmelzt Mao Tse-tung gewissermaßen um, indem er von ei­nem anderen Typus revolutionärer Versuche und zugleich von einer völlig unterschiedlichen «kultu­rellen» Grundlage ausgehend, seinerseits auf neue Weise über Lenin arbeitet. China ist in der Tat nicht, was Hegel glaubte, davon halten zu müssen; da es auf der historischen Bühne als blinder Fleck auftritt (zumindest hinsichtlich seiner Verkennung durch den Westen), müssen wir - um den Verdunk-lungseffekt zu vermeiden, den das Trugbild der Übersetzung bewirkt - uns auf eine Reihe neuer Fragestellungen einlassen. Wir werden versuchen, deren Notwendigkeit im folgenden aufzuzeigen. Es kann nicht unsere Absicht sein, die Verirrung (mitsamt ihrer Belastung und ihren Rückständen) zu analysieren, die der stalinistische Dogmatismus bedeutete, seine Anerkennung und gleichzeitige Ver­kennung (reconnaissance-meconnaissance) der chi­nesischen Revolution, die sich allem Widerstand zum Trotz im Rahmen der Dritten Internationale vollziehen konnte. Es ist eine Tatsache, daß der Text Mao Tse-tungs, obwohl er auf Stalin Bezug nimmt - allerdings wird Stalin nie für sich allein oder wörtlich herangezogen, sondern stets im Zu­sammenhang mit Lenin, dessen Text ausführlich zi­tiert wird - sich in erster Linie als Neubelebung der Leninschen Konzeption von Dialektik darstellt. Wir setzen zum anderen Lenins grundlegende Schriften Zur Frage der Dialektik und Hefte zur Dialektik als bekannt voraus. Wir sind uns darüber im klaren, wie gewagt eine solche Annahme ist: die Lektüre Lenins - dies ist übrigens einer der Punk­te unserer Argumentation - beginnt gerade und ist durch den Zwang der Geschichte, der ihre weit­gespannte Kraft verstärkt, gerade erst wieder mög­lich geworden. Die Außerkraftsetzung des Dogma­tismus läßt trotz ihrer absehbaren revisionistischen und liquidatorischen Auswirkungen - die nichts als ein Dogmatismus mit umgekehrtem Vorzeichen sind -, folgende Möglichkeit durchscheinen: Eine Betonung der Wandlungsfähigkeit und zugleich der Entschiedenheit des Leninschen Eingriffs. Verfiele man dabei allerdings in jene Art von Rück­wärtsbesinnung, wie die bürgerliche Ideologie sie heute in den kapitalistischen Ländern betreibt, so drohte ein ideologischer Fallstrick: im günstigen Klima einer Kritik des «Stalinismus» würde dann dessen antipodischer Schatten Trotzki zu neuem Leben erweckt. Deshalb muß nachdrücklich auf die philosophische Tragweite des hier entstehenden Problems hingewiesen werden: der Stalinsche Dog­matismus bestand wesentlich in einer Austrocknung der Philosophie, da er insbesondere den Wider­spruch dadurch erstarren ließ, daß er ihn als unab­änderliches Prinzip hinstellte; der Trotzkische So­ziologismus seinerseits hat dagegen den spezifischen Ort philosophischer Betätigung sozusagen «über­schwemmt», indem er überall Widerspruch ver­sprühte. In sehr unterschiedlichem Grad sind Stalin und Trotzki Symptome einer Regression der mate­rialistischen Dialektik: in ihnen ist, was man die Fähigkeit zur Theorie nennen kann, zutiefst ver­kehrt, erstarrt oder aufs äußerste erlahmt - und zwar in einer von nun an historisch endgültig fixier­ten wechselwirkenden Gegensätzlichkeit. Über den Widerspruch dagegen beweist, in welch hohem Maße Lenin eine umfassende historische Wirkung hervorzurufen beginnt. Bleiben wir je­doch bei Trotzki, der bekanntlich gerade durch die für ihn typische theoretische Lücke noch immer auf politischer und ideologischer Ebene (in gauchisti-scher Phraseologie, die sich schnell den Mantel eines surrealistisch wirkenden Idealismus umtut) einen reaktionären Einfluß ausübt: hier braucht man nur seine Blindheit angesichts der chinesischen Revolu­tion hervorzuheben. Mit Recht wurde von ihm ge­sagt: «Trotzki hat Mao und die chinesische Partei ausdrücklich verurteilt, weil sie sich nach 1927 in die agrarischen Teile Chinas zurückgezogen hatten, und er hat vorausgesagt, daß die Bewegung ganz einfach zu einer Bauernbewegung entarten würde; man könnte kein deutlicheres Beispiel für Trotzkis Soziologismus anführen. So sah sein Urteil über das entscheidendste politische Ereignis seiner Epoche aus. Das zeigt deutlich seine beständige Tendenz, politische Institutionen unmittelbar zu sozialen Kräften umzudeuten. Und das zeigt weiterhin die entscheidenden Irrtümer, die diese theoretische Fehleinschätzung hervorbringt.» Und weiter heißt es: «Trotzkis Mißbilligung der chinesischen Revolu­tion kontrastiert auf sehr bezeichnende Weise mit der übertriebenen Bedeutung, die er belanglosen amerikanischen Intellektuellen und den kleinen politischen Gruppen, die sie repräsentierten, bei­maß. Der Soziologismus, der ihn zur Unterschät­zung der chinesischen KP verleitete, in der er nur eine Angelegenheit von Bauern sah, hat ihn auch zu der Annahme verleitet, die amerikanische Arbei­terklasse sei, als Proletariat des am weitesten fort­geschrittenen kapitalistischen Landes, eine bestim­mende historische Kraft der 30er Jahre. Deshalb waren in seinen Augen die ideologischen Streitfra­gen über dieses Thema von überragender Bedeu­tung.»(3) Auf die ideologische, beispielsweise die ästhetische Ebene übertragen, führt diese Blindheit während und nach dem 2. Weltkrieg und in einem zweiten Aufguß auch noch heute zu jenem «ameri­kanischen» Ausmaß des surrealistischen Phänomens - das man künftig im Hinblick auf jene weitere objektive Regression zu analysieren hat, die «Shda-nowismus» heißt. In dieser Doppelung funktioniert nichts anderes als der Dualismus von Irrationalis­mus und verkümmertem Rationalismus, und es gilt, sich dieses mechanisch wiederkehrenden Paars zu entledigen, will man nicht weiterhin Vertreter einer anachronistischen Geschichtsauffassung bleiben. Es ist verblüffend zu sehen, wie wenig China für die große Mehrheit der westlichen Intellektuellen selbst zu dem Zeitpunkt existent war, als es die Schwelle der Geschichte überschritt. Abgesehen von Ezra Pound, der das chinesische Phänomen von sei­ner «Kehrseite» und von einem faschistischen Standort aus wahrnimmt, und abgesehen natürlich von Brecht, der sich dieser neuen Realität klarsich­tig und beständig näherte (ganz zu schweigen von Eisenstein), wird man kaum auch nur die geringste Vorahnung oder Widerspiegelung dieses histori­schen Ereignisses bei denen antreffen, die immerhin die Verantwortung einer ideologischen Avantgarde trugen. (Hierbei muß man zweifellos den Druck berücksichtigen, den der Faschismus wie die Not­wendigkeit, ihn zu bekämpfen, zu einer Zeit ausüb­ten, als die Rollen in einem geschlossenen Kreis aus Dogmatismus und Idealismus verteilt waren.) Die­ses Resultat (Anm. d. Übers.: Die unzulängliche Vertrautheit mit der chinesichen Entwicklung) war zweifellos unvermeidlich, wenn auch überraschend, und nichts spricht dafür, daß wir - ungeachtet des Fortschritts einer wissenschaftlichen Erforschung der Ideologien - bis zum heutigen Tag weiterge­kommen wären. Dieses Resultat liefert eine der Er­klärungen für die in Gestalt eines anarchisch-exoti­schen «Gauchismus» auftretende, volontaristische Umsetzung der chinesischen Realität, die, wie jede andere, und vielleicht sogar stärker als jede andere Realität, vielfältig abgestuft ist. Zwischen der «Wiederkehr» des Irrationalismus und des utopi­schen Sozialismus zum einen und den Problemen zum anderen, auf die eine Aktivierung des Marxis­mus-Leninismus notwendig stößt, scheint eine enge Beziehung zu bestehen. Eine Ausnahme, die freilich inmitten dieses Schweigens um so bemerkenswerter ist, bildet die beiläufige Bemerkung Georges Batail-les von 1946 in der Rezension eines Buches über den chinesischen Krieg: «Von jetzt an ist China weiter von uns entfernt, aber gleichzeitig ist es für uns Vor­bote des Sturms. Verblendet, wer davon nicht unter­richtet ist.» «Die Probleme Chinas, wie sie z. B. das im Krieg befindliche kommunistische Yenan heute vor unseren Augen ausbreitet, übersteigen in der Tat den beschränkten Horizont der gewohnten sentimentalen Plaudereien, aus denen uns selbst un­sere schlimmsten Katastrophen bislang nicht her­ausreißen konnten.» Doch sollte auch Batailles Be­merkung ohne Folgen bleiben: so groß war damals der Schatten der geschichtlichen Sperre, die der scheinbaren Unverwundbarkeit des Imperialismus angepaßt war. Lediglich durch eine Ausschürfung des Marxismus und der materialistischen Dialektik wäre es möglich geworden, hier klarer zu sehen. Es scheint, daß Brecht damals mit seiner Verfolgung der «Großen Methode» allein stand: «Die Große Methode begreift man am besten, wenn man sie als eine Lehre über Massenvorgänge auffaßt. Sie läßt die Dinge nie einzeln, sondern sieht sie in einer Masse sowohl ähnlicher oder verwandter als auch andersgearteter Dinge und außerdem löst sie sie sel­ber in Massen auf. In der Großen Methode ist die Ruhe nur ein Grenzfall des Streits.»(4) Wiederum das Problem der Lenin-Lektüre, das mit der Ver­drängung und Entstellung Hegels und der - ange­sichts der drängenden Notwendigkeit des politischen Kampfes - unzulänglichen intensiven Vertrautheit mit den Texten von Marx und Engels zusammen­hängt. Hier haben wir das sehr schwer begreifliche Problem vor uns, daß, wie Marx sagt, die Ge­schichte immer durch ihre schlechte Seite fortschrei­tet (5).

Widerspruch: Lenin wiederholt immer wieder in seiner Schrift Der Imperialismus als höchste Stufe des Kapitalismus: Der Marxismus darf nicht dem «kleinbürgerlichen und zutiefst reaktionären Wunsch nach Entschärfung der Gegensätze» nach­geben, er darf kein «auf Treu und Glauben errich­teter Marxismus, keine Inaussichtstellung von Mar­xismus, kein Marxismus für morgen, sondern für heute werden, keine kleinbürgerliche und opportuni­stische Theorie - und nicht allein eine Theorie - der Abschwächung der Gegensätze.» «Die Fragen, ob eine Änderung der Grundlagen des Imperialismus durch Reformen möglich sei, ob man vorwärts ge­hen solle, zur weiteren Verschärfung und Vertie­fung der durch ihn erzeugten Widersprüche, oder rückwärts, zu deren Abstumpfung, das sind Kern­fragen der Kritik des Imperialismus.»(6) Es ist un­möglich, sagt Lenin weiter, den Imperialismus zu kritisieren, ohne gleichzeitig den Opportunismus zu kritisieren: Die Trennungslinie zwischen Marxis­mus und Nicht-Marxismus verläuft scharf entlang dieser Beachtung der Verschärfung der Widersprü­che, einer Verschärfung, die in ihrer dialektischen Mannigfaltigkeit und spezifischen Ausprägung ver­standen werden muß, wenn man nicht in die ein­seitige stalinistische These zurückfallen will, die die bekannte administrative Unterdrückung ausgelöst hat. Hieraus erhellt - um noch einmal darauf zu­rückzukommen - die Bedeutung der Richtigen Lö­sung der Widersprüche im Volk (7) und der korrek­ten Einschätzung der Beziehung von Antagonismus zu Nicht-Antagonismus. Hier tritt nun der «Sze­nenwechsel» ein, den Über den Widerspruch vor dem Hintergrund der proletarischen Revolution in China bewirkt.

Es handelt sich hier um einen schwierigen Text. Wir müssen uns von vornherein seiner besonderen Dun­kelheit bewußt sein: In diesen Seiten kommt auf wi­derborstige, gegenläufige, monumentale Art die ganze Dimension der chinesischen Sprache und Schrift auf uns zu, und damit sowohl eine gewalti­ge unbekannte Vergangenheit als auch ein Symbol­gebrauch, den wir, allein schon aufgrund unserer Sprache, insgesamt abzuwehren suchen. Gewiß gibt es Übersetzungen: aber diese Überset­zungen gehen sozusagen zu rasch vor, sie akkumu­lieren und begradigen, sie schläfern den Text in ei­ner Allgemeinheit ein, die ihm gewiß ohnehin schon eigen ist, die er jedoch auf eine andere Weise, in ei­nem anderen Bedeutungsumfang als dem der trok-kenen Aneinanderreihung von Begriffen hervortre­ten läßt. Ist es bereits kompliziert, Lenin, mit sei­nen vielseitigen Analysen, den Brüchen und Sprün­gen seiner immanenten dialektischen Bewegung, wirklich zu lesen, so ist es noch wesentlich schwieri­ger, in das Wesen der Schreibweise Mao Tse-tungs einzudringen. Dieser Hinweis kann nur naive und metaphysische Gemüter überraschen, die in der Scheinklarheit des Stereotyps und in der Illusion absoluter Idealität dahinleben. Wenn es wahr ist -und der Marxismus nötigt zur Anerkennung dieser Wahrheit -, daß Theorie und Sprache der Ideolo­gie eine materielle Realität besitzen, die von einer gegebenen bedeutungssetzenden Praxis bestimmt wird, dann dürfen wir weniger als je diese Wahr­heit vergessen, die immer wieder zugleich eine neu zu gewinnende Wahrheit ist. Von Anfang an müs­sen wir daher gerade unserer eigenen spontan sich einstellenden Ideologie mißtrauen, die beständig unseren Glauben an eine reine Lautsprache (lan-gue seulement vocale) hervorkehrt, welche ohne Rückstände die reine Entwicklung der Idee (Anm. d. Ubers.: bei Sollers groß geschrieben: lTdee) tra­gen und übermitteln soll. Da nun die Idee bei He­gel sich kristallisierte und bei Marx aufgelöst wur­de, um die mannigfaltige Bewegung der Praxis her­vortreten zu lassen, kann man behaupten, daß der Irrweg, dem sie den Namen verleiht (Anm. d. Übers.: der Idealismus), genau die Form ist, die dem Chinesischen äußerlich und fremd ist, das da­her von Grund auf und genau an der Stelle von der Geschichte betroffen wird, wo Marx in die Theorie einbricht. Dieser «Weg nach Osten» des Marxismus, der uns eine noch schwer vorstellbare Rückwirkung in Aussicht stellt, vollzieht sich in jedem Fall durch die Krise, die unsere Aneignungsweise von Bedeu­tung (signification) erschüttert. Das Chinesische ge­braucht, wie wir wissen, weniger «Begriffe» im strengen Sinn, als vielmehr das, was man unter Be­rücksichtigung der Besonderheiten seiner Schrift am ehesten «Kategoriogramme» nennen könnte, deren Wirkungsweise enger zusammenhängt mit der im folgenden genauer bestimmten unbewußten Ökonomie. So heißt etwa die Überschrift des Mao-Textes Über den Widerspruch mao dün lün, was «Wurfspieß-Schild-Abkommen» heißt. Das Schrift­zeichen «Abkommen» setzt sich seinerseits zusam­men aus «Wort» - in seinem Innern erkennt man das Bild des Mundes - und aus «(Bambus-) Rost», «Verbindung», «Reihe». Die «Kategoriogramme» verweisen in der Tat nicht auf «Begriffe», sondern häufig auf graphische Verdichtungen kurzer drama­tischer oder mythischer Sequenzen; z. B. (im Falle von «Widerspruch») auf folgenden raschen Szenen­ablauf: Ein Mann hält mit der einen Hand den Wurfspieß, der alle Schilde durchbohrt, mit der an­deren den Schild, den kein Wurfspieß durchbohren kann. Weitere Beispiele: In dem mit «Gesetz» zu übertragenden Schriftzeichen, fä ze entdeckt man die zugrundeliegende Reihe der Bilder «Wasser», «Gehen», «Geld», «Messer»; in «grundlegend» die Elemente «Geld», «Güter», «Plattform» und «Baumstumpf»; in «Materialismus» (wei wü zhü yi) den negativen Ausdruck «es gibt nichts außer Dingen»; in «dialektisch» (biän zheng fa) die Ele­mente «argumentieren», «beweisen», «Mittel»; in «objektiv» (dui xiäng) «gegenüber» und «Bild» (es ist zu beachten, daß dieses Schriftzeichen auch als gängige Metapher für den Sexualpartner dienen kann); in «sich selbst» (zi shen) «selbst» und «Körper»; in «sich widersetzen» (dui käng) «Au­ge in Auge» und «die Hiebe parieren» (im Innern dieses letzten Schriftzeichens bemerkt man das Zei­chen für «Hand»); in «Bourgeoisie» (zi chän jie ji) die Elemente «Geld», «Güter», «Plattform» und «Stufen» (diese beiden letzten Zeichen bedeuten «Leitersprossen» und «gesellschaftliche Klasse»); «Proletariat» wird unmittelbar durch Voranstel­lung des Verbs wü, das heißt: «nicht haben», vor die genannte Sequenz gebildet. In «hauptsäch­lich» (zhü yäo) findet man «Herr» und «Bedeu­tung», und in dem Zeichen für «unterschiedlich» «nicht» und «selbst». Schließlich die beiden haupt­sächlichen Verneinungspartikel im Chinesischen: bü, das für alle Verben außer «haben» und glei­chermaßen für die Adjektive und Adverbien verwandt wird, geht aus dem Schriftbild hervor, das an einen Riß in dem Knochen erinnert, der im antiken Wahrsageritual dem Feuer ausgesetzt wur­de (und wo die Antwort «ja» oder «nein» lautete); mei dagegen wird ausschließlich mit dem Verb «ha­ben» benutzt und besitzt «im Wasser verschwinden» als erste Bedeutung, welche sich wiederum, in der Zusammensetzung dieses Zeichens, auf die Elemen­te «Wasser», «Gegenstand» und «verschwinden» verteilt.

All dies soll den konkreten Bereich, in dem wir uns bewegen, und zugleich die Auswertung des Textes kennzeichnen, dessen latente, vertikale Aussage zu­sammen mit seiner manifesten Aussage in einer doppelskaligen Schrift (ecriture ä double registre) simultan zur Darstellung gelangt. Was Widerspruch (Wurfspieß-Schild) angeht, so ist es wichtig, fest zuhalten, daß hier die Verschmelzung des logisch sich Ausschließenden einen Durchstich bezeichnet, der von der einen Seite so unaufhaltsam wie von der anderen unmöglich ist. X durchdringt das ge­samte y, y wird von keinem x durchdrungen. Mit der einen Hand und mit der anderen Hand. Die Mikrosequenz «Widerspruch» ist also die szenische Ausfüllung eines leeren, gespaltenen Konzepts, wo Zwei Eins umfaßt, das wiederum in Zwei unter­teilt ist: zugleich und insgesamt das Eine und das Andere, wie das Eine ohne das Andere. So wird also der erste Satz des Textes, der eine Leninsche Formel aufgreift: «Das Gesetz des Widerspruchs, der den Dingen innewohnt, oder das Gesetz der Einheit der Gegensätze» (365)(8), auch sichtbar zu dem «Gesetz des universalen Widerspruchs oder Gesetz der zwei, die eins sind». Mit anderen Wor­ten: er formuliert die «Wahrheit» von dem Kampf und der Einheit der Gegensätze, von ihrem Kon­flikt und - wie Lenin die Einheit und Identität zu nennen vorschlägt - von ihrer Untrennbarkeit. Man kann sagen, daß das Chinesische im Ausdruck des Widerspruchs die wesentlichen Merkmale der materialistischen Dialektik unmittelbar enthält: Bewegung, Unwiderruflichkeit des Kampfes, Ein­heit, Identität, Verwandlung der Gegensätze in­einander, Antagonismus und Nicht-Antagonismus, Fortschritt. Diese Formentsprechung (adequation formelle), die selber wieder durch eine ganze ge­sellschaftsgeschichtliche Vergangenheit vorbereitet wurde, verweist nicht nur auf das Problem der «asiatischen Produktionsweise» (das keineswegs zufällig gerade von der linearisierenden Teleologie des Dogmatismus blockiert wurde), sondern auch auf die frühe Entfaltung der Dialektik im chinesi­schen Denken. Um mit Ion Banu zu sprechen: «Im ältesten chinesischen Denken läßt sich eine Art <So-zialisation>, eine Art Humanisierung und Politisie­rung der gesamten Natur beobachten. In der Folge dehnt sich diese keimhafte dialektische Perspektive aus und wird ein Attribut des ontologischen Den­kens. Die Idee des Widerspruchs, der Entzweiung des Einen, diese <Grundlage> der Dialektik (Lenin) erweist sich als sehr lebendig. Während sie in der griechischen Philosophie in deutlicherer Form erst über ein Jahrhundert nach deren Anfängen, d. h. andeutungsweise bei Heraklit, in Erscheinung tritt, entsteht sie in China mit der Philosophie selbst.» Und weiter: «Die chinesischen Denker sind sich der Dialektik früher bewußt geworden, da sie durch ih­re Einsicht in den Antagonismus der gesellschaftli­chen Entwicklung auf sie gestoßen wurden.» Selbst für die traditionelle chinesische Philosophie ist die Politik daher nicht - wie meist für uns - ein ab­geschlossenes Gebiet, das z. B. gegenüber der «Kul­tur» abgedichtet sein soll. Für die sehr früh ent­wickelte Dialektik lassen sich unzählige Beispiele finden, wie folgendes bei Tschoang-Tseu: «Alles Sein ist ein Anderes, alles Sein ist Selbst. Diese Wahrheit läßt sich nicht vom Anderen her begrei­fen, sondern vom Selbst. So heißt es also: Das An­dere geht aus sich selbst hervor, aber das Selbst hängt ebenfalls von dem Anderen ab. Es wird die Lehre vom Leben aufgestellt; aber in Wirklichkeit ist das Leben sogleich der Tod, und der Tod auch das Leben. Das Mögliche ist unmöglich, und das Unmögliche auch möglich. Einer Bejahung beipflich­ten, heißt einer Verneinung beipflichten: einer Ver­neinung beipflichten, heißt einer Bejahung beipflich­ten.» Oder, wie es bei Huei-neng heißt: «Wenn euch jemand über das Gesetz befragt, so seien eure Worte stets entgegengesetzt. Bedient euch der Ge­gensätze, die zwischen den Dingen existieren sowie der Wechselbeziehung zwischen Gehen und Kom­men. Letzten Endes werden die beiden widerstrei­tenden Realitäten sich stets ausschließen.» Diese Hinweise sind so berechtigt, wenn nicht berechtig­ter als die Lassalles Buch entnommene Äußerung Philons über Heraklit, die Lenin am Anfang seines kurzen und genialen Essays Zur Frage der Dialek­tik wiedergibt. Mao Tse-tung nimmt diesen Text Lenins zum Ausgangspunkt seiner Darstellung des Widerspruchs und hebt dessen entscheidende Mo­mente hervor, nämlich jene, die zur «Erkenntnis al­ler Entwicklungsprozesse der Welt in ihrer <Eigen-bewegung>» hinführen sollen. Eine Vergegenwärti­gung, Vertiefung und Erweiterung also, die der neuen historischen und theoretischen Szene, die sich nach der zweiten großen proletarischen Revo­lution auftat, angemessen ist, und von der man zu­dem begreifen muß, warum es heißen kann, daß sie zweimal stattfinden mußte: einmal in der Basis und ein anderes Mal - getrennt davon - in der gesam­ten Ausdehnung des Überbaus.

Die einzige konsequente Analyse der materialisti­schen Dialektik, wie sie von Mao Tse-tung ausge­arbeitet worden ist, hat zweifellos Louis Althusser in seinen Abhandlungen Widerspruch und Überde-terminierung und Über die materialistische Dialek­tik (in Pour Marx, 1965) vorgelegt. Althusser geht davon aus, daß es notwendig ist, die Problematik der materialistischen Dialektik aus ihrem gequälten und verknöcherten «Hegelianismus» hervorzutrei­ben, der im Grunde kaum etwas anderes als ein schematisches wiederholtes Umschreiben Hegels ist. Es war notwendig, den Bereich der Stereotype zu verlassen, und sei es nur, um damit die komplexe Strukturierung eines neuen Zugangs zur Dialektik aufzuzeigen. Gewiß könnte man folgende Bemer­kung befremdlich finden: «Die 1937 von Mao Tse-tung verfaßte Broschüre <Über den Widerspruch> enthält eine Reihe von Analysen, in denen die mar­xistische Auffassung des Widerspruchs unter einem der Hegelschen Anschauung fremden Aspekt er­scheint. Man würde vergebens bei Hegel die wesent­lichen Begriffe dieses Textes suchen: Hauptwider­spruch und sekundärer Widerspruch; hauptsächliche Seite und sekundäre Seite des Widerspruchs; anta­gonistische und nichtantagonistische Widersprüche; Gesetz der Ungleichmäßigkeit der Entwicklung der Widersprüche. Maos Text, der im Kampf gegen den Dogmatismus in der chinesischen Partei entstanden ist, bleibt im allgemeinen beschreibend, in gewisser Hinsicht jedoch auch abstrakt. Beschreibend: seine Begriffe entsprechen konkreten Erfahrungen. Zum Teil abstrakt: diese neuen und fruchtbaren Be­griffe sind eher als Besonderheiten der Dialektik im allgemeinen dargestellt denn als notwendige Im­plikationen der marxistischen Auffassung der Ge­sellschaft und der Geschichte.»(9) Uns jedoch scheint kein Text in höherem Maße Theorie (im Gegensatz zur bloßen Beschreibung) mit Konkretion zu ver­binden, und somit dem notwendigen Anspruch des Marxismus-Leninismus zu genügen. Althusser zielt allerdings nicht speziell darauf ab, das Bewegungs­gesetz des Textes von Mao Tse-tung zu beleuchten. Es geht ihm vielmehr darum, einen unumgängli­chen ersten Schritt aus einer bestimmten, nicht-le­ninistischen Deutung Hegels heraus zu tun, von ei­ner «ursprünglichen organischen Totalität», die sich in einem «einzigen inneren Prinzip» widerspiegelt, loszukommen. Es geht ihm darum, mit der einlini-gen Auffassung des Widerspruchs dadurch Schluß zu machen, daß er den Begriff der Überdetermi­nierung, auf eine für ihn typische Weise, aus dem Bereich der Freudschen Theorie einführt. Althusser zeigt im Grunde, wie der Ökonomismus insofern die Stelle der Hegeischen Idee einnimmt, als er unter entgegengesetztem Vorzeichen sich ihrer ununter­brochenen Bewegung anpaßt, und wie daraufhin eine «Reduzierung der Dialektik der Geschichte auf die Dialektik der aufeinanderfolgenden Produkti­onsweisen, d. h. im Grenzfall auf eine Dialektik der verschiedenen Produktionstechniken"(10) statt­findet. Der Ökonomismus fällt auf eine mechani­sche Rollenzuweisung an die verschiedenen Instan­zen zurück und läßt somit eine idealistische Über­bauvorstellung fortbestehen. Das ist ein merkwür­diger Widerspruch, weil so die Ökonomie zur er­sten Instanz wird, während sie in Wirklichkeit «in letzter Instanz» dialektisch bestimmt wird, also nicht einzige Determinante ist, sondern die Basis eines komplexen Prozesses darstellt, auf die die Auswirkungen aller anderen Instanzen einwirken. Die Determination verliert damit ihre Mehrschich­tigkeit; und gerade darauf legt Engels in dem be­rühmten Brief an Joseph Bloch Wert: «Nach materialistischer Geschichtsauffassung ist das in letzter Instanz bestimmende Moment in der Ge­schichte die Produktion und Reproduktion des wirklichen Lebens. Mehr hat weder Marx noch ich je behauptet. Wenn nun jemand das dahin ver­dreht, das ökonomische Moment sei das einzig be­stimmende, so verwandelt er jenen Satz in eine nichtssagende, abstrakte, absurde Phrase.»(11) Aus diesem Grunde war es zweifellos wichtig, eine ein­fache und wörtliche Interpretation der «Umstül­pung» der Hegelschen Dialektik energisch anzufech­ten, obwohl es hier, in einem anderen Sinne als je­nem, den der Ökonomismus ihm zuschreibt, sich tatsächlich um eine Umstülpung handelt. Nun wirft aber die Frage des «Widerspruchs» in der Tat so­gleich in seiner ganzen Tragweite das Problem des Überbaus und in besonderem Maße das der Ideolo­gie auf. Althusser schreibt: «Der <Widerspruch> ist von der Struktur des ganzen sozialen Körpers un­trennbar, in dem er sich auswirkt, untrennbar von seinen formellen 'Existenzbedingungen und den In­stanzen, die er regiert; er ist also selbst, in seinem Kern, durch sie berührt, in einer einzigen und glei­chen Bewegung determinierend aber auch determi­niert, und zwar determiniert durch die verschiede­nen Ebenen und die verschiedenen Instanzen der Gesellschaftsformation, die er belebt: wir können ihn in seinem Prinzip überdeterminiert nennen.»(12) Weiterhin heißt es bei Althusser: «Die Überdeter-minierung wird unvermeidlich und denkbar, sobald man die wirkliche, zum großen Teil spezifische und autonome, also nicht auf eine reine Erscheinung re­duzierbare Existenz der Formen des Uberbaus und der nationalen und internationalen Lage erkennt.»1' Schließlich unterstreicht Althusser den «vor al­lem in der Existenz und der Natur des Überbaus begründeten Charakter der Überdeterminierung des Marxschen Widerspruchs». «Der Überbau ist nicht die bloße Erscheinung der Struktur, er ist auch deren Daseinsbedingung.» Hier entfaltet sich die ganze Frage nach der Wirkung des Überbaus, der Rückwirkung, deren Unterpfand sie innerhalb ei­nes immer schon vorgegebenen komplexen Ganzen und in «einer sich dominant artikulierenden Struk­tur» ist. Althusser kann also schreiben, daß «die in letzter Instanz durch die Ökonomie erfolgende De­termination in der realen Geschichte sich gerade in den eminent bedeutungsvollen Verwandlungen zwischen Ökonomie, Politik und Theorie aus­wirkt».

Die Überdeterminierung wird also als «die Wider­spiegelung der Daseinsbedingungen des Wider­spruchs innerhalb ihrer selbst» definiert, als Aus­druck ihrer ursprünglichen «Ungleichheit». Althusser vervollständigt den theoretischen Appa­rat, der ihm erlaubt, den in der Marxschen Dialek­tik wirkenden Widerspruch darzustellen, durch die Einführung zweier weiterer Freudscher Begriffe: Verschiebung und Verdichtung. Überdeterminie­rung, Verschiebung und Verdichtung gehören zur ersten Freudschen Topik und finden sich in der Traumdeutung ausführlich begründet. Überdeter­minierung, oder mehrfache (und ungleiche) Deter­minierung bedeutet, daß die Erkennbarkeit des Ele­ments in einer Struktur von seiner gleichzeitigen Zugehörigkeit zu mehreren anderen Strukturen ab­hängt. Das ist die Bedingung für die Auslegung des Symptoms und des Traumes als einer Gesamtheit von «mehrfach dargestellten Syndromen», mit an­deren Worten: eines unbewußten Vorganges inner­halb und durch die mannigfaltig aufgegliederte Vorstellung, die von sich selber abgelöst ist: eine neue Phase der «Darstellbarkeit». Freud schreibt insbesondere: «Höchst auffällig ist das Verhalten des Traumes gegen die Kategorie von Gegensatz und Widerspruch. Dieser wird schlechtweg vernach­lässigt, das <Nein> scheint für den Traum nicht zu existieren. Gegensätze werden mit besonderer Vor­liebe zu einer Einheit zusammengezogen oder in ei­nem dargestellt. Der Traum nimmt sich ja auch die Freiheit, ein beliebiges Element durch seinen Wunschgegensatz darzustellen, so daß man zu­nächst von keinem eines Gegenteils fähigen Ele­ment weiß, ob es in dem Traumgedanken positiv oder negativ enthalten ist.»(14)«Ein hysterisches Symptom entsteht nur dort, wo zwei gegensätzli­che Wunscherfüllungen, jede aus der Quelle eines anderen psychischen Systems, in einem Ausdruck zusammentreffen können.»(15) «Nicht nur die Ele­mente des Traums sind durch die Traumgedanken mehrfach determiniert, sondern die einzelnen Traumgedanken sind auch im Traum durch mehre­re Elemente vertreten ... Die Traumelemente wer­den aus der ganzen Masse der Traumgedanken ge­bildet, und jedes von ihnen erscheint in bezug auf die Traumgedanken mehrfach determiniert.»'6 (Hervorhebungen vom Verfasser) Historisch und theoretisch gesehen, ist aufschlußreich, daß Althus­ser nur im «Durchgang» durch Verweise auf Freud eine objektive Schwierigkeit der Wirkungsweise der materialistischen Dialektik bewußtmachen kann. Das beweist, daß diese Schwierigkeit nicht in der Sprache eines sich erst aufhellenden Bewußtseins beschrieben werden kann, nicht mit überkommener Meisterschaft, in die die idealistische Dialektik sich unaufhörlich einschleicht, ausgeführt werden kann. Die Darstellung der materialistischen Dialektik im­pliziert eine materialistische Praxis der Darstellung und des «doppelten Zeichensystems» (double in-scription), das allein die Errichtung der Dialektik auf dem neuen Boden des Materialismus verbürgt. Daher darf man unserer Meinung nach den Nähr­boden der Hegeischen Dialektik nicht «ausschlie­ßen» oder «verbannen»; er muß vielmehr integriert werden, d. h. in einer genau bestimmten Topologie des dialektischen Materialismus seinen abgesteckten Platz erhalten. An die Stelle der einfachen ur­sprünglichen Einheit, die eine idealistische Interpre­tation Hegels tradiert und wiederholt, tritt das, was man eine komplexe Basis-Dualität (dualite complexe de base) nennen kann, die Einheit und Teilung umfaßt. Dies soll nicht bedeuten, daß die materialistische Dialektik - selbst wenn sie diese «Verbildlichung» (scene) nicht entbehren kann -einfach auf die Darstellung eines Strukturapparats zu reduzieren ist. Überdeterminierung, Verdichtung und Verschiebung gehören, ebenso wie Abnahme und Zunahme, wie Wiederholung noch einer Auf­fassung an, die Entwicklung unterstellt, und lassen das, was Lenin die Quelle der Selbstbewegung nennt (die Teilung), solange im Dunkeln, als sie sich ihrer mehrfachen Existenzbedingungen versi­chern müssen, d.h. solange man notwendigerweise den Umfang dieser Bedingungen ausmachen muß, ehe man zu ihrer Quelle vordringt. In diesem Sinne kann man sogar behaupten, daß die Freudschen Entwürfe in der Traumdeutung nur die verschlüs­selte Ankündigung des späteren Freudschen Dualis­mus (im Gegensatz zu dem «Monismus» Jungs) sind, der den Todestrieb freilegt. Die Traumdeu­tung ist hier gewissermaßen die «Kontaktnahme» mit dem Widerspruch, der eine Abstufung der un­bewußten Bestrebungen verlangt. Wohl ist der Wi­derspruch der «Motor» aller Entwicklung, jedoch -und das ist der entscheidende Punkt - ein «Motor» (eins teilt sich in zwei, und nicht: zwei fließen in eins zusammen), der als solcher nur in Erscheinung tritt, wenn er, in einem Prozeß, dessen eigene «be­dingungslose, absolute» Bedingung (um mit Lenin zu sprechen) der Kampf ist, unendlich umgestaltet wird. Es gibt Ungleichheit, Überdeterminiertheit, usw. nur deshalb, weil es Kampf gibt, und zwar ver­schiedenartiger Kampf auf allen Ebenen. Die Wirk­lichkeit ist kein substantieller und geschlossener Be­zirk, in dem «Identität der Gegensätze herrscht», sondern die von dem Kampf der Gegensätze her­vorgebrachte (historische, natürliche, gesellschaftli­che, begriffliche) Offenheit. Was die Abgeschlossen­heit des idealistischen Bewußtseins angeht, so wer­den wir also sagen, daß die subjektive Erkenntnis dieses Kampfes über die der Auswirkungen des To­destriebs verläuft, daß jedoch in der Realität die­sen Kampf der objektive Charakter des Klassen­kampfes in erster Linie bestimmt. So taugen also die Ungleichheit, die Überdeterminierung, usw. für eine abstrakte Beschreibung des Funktionsablaufs der Sphäre der Identität als Differenz, wo der Wi­derspruch seine Wirkung ausübt, da diese Konzep­te die «Verflachung» oder die Begradigung des mar­xistischen Widerspruchs verhindern. Sie reichen freilich nicht aus, um vollständig jenem Prozeß des Widerspruchs Rechnung zu tragen, welcher von Le­nin definiert und von Mao Tse-tung in beträchtli­chem Maße - und nicht allein auf dem Gebiet der Theorie - entwickelt worden ist.

Die Tat Althussers ist deshalb nicht weniger inno­vatorisch hinsichtlich der Auflösung einer idealisti­schen Konzeption des Widerspruchs. So ist es kein Zufall, daß er sich - angesichts der Untergliede­rung, die er vorschlug - unmittelbar mit dem nicht-marxistischen Reflex des Monismus konfrontiert sah. Der «Monismus» ist, wie man weiß, das Alibi aller konfusionistischen Synthesen in der Theorie. Als Mao Tse-tung den Unterschied zwischen dem antagonistischen und dem nicht-antagonistischen Widerspruch herausarbeitet, stützt er sich bezeich­nenderweise auf den Text Lenins zu dem Artikel von Bucharin: Die Ökonomik der Transformations­periode (1920). Bucharin schrieb darin, daß «der Kapitalismus ein widersprüchliches antagonistisches System ist... Folglich ist die Struktur des Kapita­lismus ein monistischer Antagonismus oder ein anta­gonistischer Monismus». Worauf Lenin erwidert:

«Grundfalsch. Antagonismus und Widerspruch sind durchaus nicht dasselber. Der erstere verschwindet, der zweite bleibt im Sozialismus.» (vgl. 405) Diese Anmerkung zeugt von einem völlig anderen Ver­ständnis des im Kampf und durch den Kampf sich vollziehenden Widerspruchsprozesses, und die Zu­ordnung ihrer Unterteilungen kommt von einer ganz anderen Dialektik und von einer ganz ande­ren Politik her. Lenin schrieb nach 191 j: «Die Ein­heit (Koinzidenz, Identität, Handlungsgleichheit) der Gegensätze ist bedingt, zeitgebunden, vorüber­gehend, relativ. Der Kampf der einander ausschlie­ßenden Gegensätze ist ein absoluter, genau so wie die Entwicklung und die Bewegung absolut sind.» Diese Definition fordert unmittelbar die folgende Präzisierung (gegen den Subjektivismus): «Was die objektive Dialektik angeht, so gibt es innerhalb des Relativen das Absolute.»

Wir können nunmehr in den Sinn der Schrift Über den Widerspruch eindringen.

1) Mao Tse-tung legt zunächst das ganze Gewicht seiner Einführung in die Texte Lenins auf die Dia­lektik (also auf Lenins spezifische Umwertung der Anschauungen Hegels). «Im eigentlichen Sinne ist die Dialektik die Erforschung des Widerspruchs im Wesen der Gegenstände selbst ...» (365) Dies ist die Bezeichnung für das Wesen oder auch den Kern der Dialektik.

2) Aufzählung der Schlüsselthemen, die die Neuar­tigkeit der vorgenommenen Darstellung zeigen:

a) die zwei Arten der Weltanschauung
b) die Allgemeinheit des Widerspruchs
c) die Besonderheit des Widerspruchs
d) der Hauptwiderspruch und die hauptsächliche Seite des Widerspruchs
e) Identität und Kampf der gegensätzlichen Seiten des Widerspruchs
f) der Platz des Antagonismus in den Widersprü­chen.

Zu a: Die zwei Arten der Weltanschauung: Meta­physik und Dialektik. Erklärung für die Unver­meidbarkeit der metaphysischen Weltanschauung (mitsamt ihrer materialistischen Seite) aus der sehr lange andauernden Unzulänglichkeit der Entwick­lung der Produktivkräfte, für das Auftreten des dialektischen Materialismus, der durch das Proleta­riat, durch den «Sprung» der Produktivkräfte, des Klassenkampfes und der Wissenschaft «hervorge­bracht» wurde. Betonung der Tatsache, daß die Me­taphysik in der Folgezeit seitens der Bourgeoisie die Form eines «vulgären Evolutionismus» annahm; mit anderen Worten: sie bedeutet Isolierung der Formen und Kategorien der Erscheinungen, Einsei­tigkeit der Betrachtungsweise, Interpretation der Veränderung als bloße «Zunahme oder Abnahme beziehungsweise Ortsveränderung» (366). Unfä­higkeit, die Verwandlung in ein anderes, von ihm unterschiedenes Ding zu erkennen: ihr Beharren auf einer außerhalb der Dinge liegenden Kausali­tät. Nun aber «liegt die Grundursache der Entwick­lung der Dinge und Erscheinungen nicht außerhalb, sondern innerhalb derselben; sie liegt in der inneren Widersprüchlichkeit der Dinge und der Erscheinun­gen selbst» (vgl. 367). Hier erfolgt eine erste Un­terscheidung:

Inneres Ursachenverhältnis: Widersprüchlichkeit (Grundursache), Zusammenhang und Wechselwir­kung eines Dinges mit anderen Dingen (sekundäre Ursachen). Also Heterogenisierung des Ursachen­verhältnisses: IU = GU X SU. Die äußere Ursache allein erlaubt nicht, die unendliche qualitative Man­nigfaltigkeit der Dinge zu erklären; das gleiche gilt für die Gesellschaft selbst, die jeglicher Idealismus als «oberhalb» der Natur hinstellt, während der dialektische Materialismus die Identität der Natur-und der Gesellschaftsgesetze begründet, wobei der Unterschied zwischen ihnen ein Unterschied von zeitlichen Bedingungen ist (innere Widersprüche der Gesellschaft: Produktionsverhältnisse/Produk­tivkräfte, Altes/Neues, Klassenkampf). Eine neue Unterscheidung: äußere Ursachen als Bedingungen, innere Ursachen als deren Grundlage. «Die äußeren Ursachen wirken vermittels der inneren.» (369) Ei­ne doppelte Kausalität und keine einfache Kausali­tät mehr. In diesem ersten Abschnitt: Rückblick auf die Vorgeschichte der Dialektik, zumal in China, die ihrem «spontanen, primitiven» Charakter nach noch nicht die Gestalt einer «abgeschlossenen Theo­rie» annehmen konnte, (keine «umfassende Inter­pretation der Welt» geben konnte). Hinweis auf Hegel, dann auf die durch Marx erzielte «Verallge­meinerung».

Zu b: Die Allgemeinheit des Widerspruchs: Die All­gemeinheit, sagt Mao, ist «in weitestem Maße» (vgl. 371) von den Marxisten anerkannt worden, nicht aber die Besonderheit des Widerspruchs: die Dogmatiker ignorieren sie. «Sie verstehen nicht, daß in den Widersprüchen die Allgemeinheit in der Besonderheit existiert.» (vgl. 371) Abfolge der Beweisführung: a) Allgemeinheit des Widerspruchs; b) seine Besonderheit; c) Rückkehr zum Problem seiner Allgemeinheit. «Ohne Widersprüche gäbe es kein Weltall.» (371) Definition der Allgemeinheit als doppelte Bedeutungsstruktur«Widersprüche existieren im Entwicklungsprozeß aller Dinge und aller Phänomene» und «Im Entwicklungsprozeß je­des Dings, jedes Phänomens existiert die Bewegung der Widersprüche von Anfang bis Ende» (vgl. 371)

Widerspruch: Grundlage der einfachen Formen der Bewegung und um so deutlicher ihrer komplexen Formen. Vergegenwärtigung der Engelsschen Aussa­ge: «Die Bewegung selbst ist ein Widerspruch.» (371) Gültigkeit dieser Allgemeinheit sowohl für die Natur als auch für das Denken: «Die Wider­spiegelung der objektiven Widersprüche im subjek­tiven Denken bildet die widersprüchliche Bewegung der Begriffe.» (372) Hier stellt sich das fundamen­tale Problem von Anfang und Ende: Wird der Wi­derspruch nicht als von Anfang an existent aufge­faßt, so wendet man sich (mit Bucharin) einer Auf­fassung zu, derzufolge es z. B. zwischen den Klas­sen keine Widersprüche, sondern nur Unterschiede gibt. Nun aber «ist in jedem Unterschied schon ein Widerspruch enthalten, und der Unterschied selbst ist eben ein Widerspruch» (vgl. 373). Wenn man leugnet, daß der Widerspruch vom Beginn eines je­den Prozesses an existiert, übersieht man die innere Kausalität und die Pluralität der Prozesse selbst; man bremst den Widerspruch in den Unterschieden, wenn man möglicherweise mit Hegel von der An­nahme ausgeht, daß die Identität ein Unterschied, nicht aber daß der Unterschied ein Widerspruch sei; mit anderen Worten: wenn man den Wider­spruch in den Unterschied einbezieht, wird es un­möglich, die objektive Existenz verschiedener Arten von Widersprüchen zu behaupten. «Der Wider­spruch ist allgemein, absolut; er existiert in allen Entwicklungsprozessen der Dinge und der Erschei­nungen und durchdringt (Hervorhebung vom Verf.) jeden Prozeß von Anfang bis Ende.» (vgl. 374)

Die Unterscheidung der Widersprüche erlaubt, die komplexe Verflechtung der Prozesse zu verstehen - mitsamt dem Übergang einer alten zu einer neu­en Einheit und zu ihren «neuen Gegensätzen». Sie erlaubt, das Neue in bezug auf das Alte zu denken. «Der neue Prozeß enthält wiederum neue Wider­sprüche und beginnt nunmehr seine eigene Entwick­lungsgeschichte der Widersprüche.» (374) Es gibt al­so eine Vielfalt von «Anfängen» und «Enden» in gegenseitiger Wechselwirkung. Dies sind wiederum genauso viele «Zellen», die auf mannigfaltige, un­gleiche und durch die Bewegung der Widersprüche gekennzeichnete Art funktionieren. Folglich: All­gemeinheit des Widerspruchs - Besonderheit des Widerspruchs - Hauptwiderspruch — hauptsäch­liche Seite des Widerspruchs - sekundärer Wider­spruch - antagonistische Widersprüche — nicht­antagonistische Widersprüche = deren Gesamtheit bestimmt einen Prozeß, der sich verwandelt in ei­nem anderen Prozeß fortsetzt.

Zu c: Die Besonderheit des Widerspruchs: es geht darum, wie Mao schreibt, jede Bewegungsform der Materie in ihrer eigentlichen Besonderheit (in ihrer qualitativen Unterschiedlichkeit) zu betrachten. «Je­de Bewegungsform enthält ihre eigenen besonderen Widersprüche. Diese besonderen Widersprüche bil­den das besondere Wesen eines Dinges, das dieses von anderen Dingen unterscheidet. Hierin besteht die innere Ursache oder, wie man es auch nennen kann, die Grundlage der unendlichen Vielfalt der Dinge in der Welt.» (375) So verhält es sich in der Natur, der Gesellschaft und im Denken: diese Posi­tion erlaubt die Abgrenzung der verschiedenen Wis­senschaften voneinander. «Daher bildet ein be­stimmter Widerspruch, der nur der Sphäre einer be­stimmten Erscheinung eigentümlich ist, das For­schungsobjekt einer bestimmten Wissenschaft.» (376) Ohne Untersuchung des Besonderen im Wi­derspruch (ein Irrtum des Dogmatismus) ist es un­möglich, die Gebiete der wissenschaftlichen For­schung zu bestimmen. Hier: Bestimmung der Bewe­gung der Erkenntnis als einer Bewegung, die not­wendig vom Besonderen ausgeht, ehe sie zur Allge­meinheit des Widerspruchs gelangt, und die dann «weitergehen und jene konkreten Dinge studieren muß, die noch nicht gründlich erforscht sind oder zum erstenmal in Erscheinung treten» (377) (Her­vorhebung vom Verf.). Dies ist die praktische Kreisbewegung Erkenntnis-Praxis, oder auch Be­sonderes-Allgemeines-Besonderes, welche die mar­xistisch-leninistische Erkenntnistheorie definiert und die vom (metaphysischen) Dogmatismus nicht verstanden wird.

Die Erkenntnis des besonderen Widerspruchs würde selbst abstrakt werden, wenn sie nicht an das Studium der einzelnen Etappen des «langen Entwicklungsweg(s) jeder Bewegungsform der Ma­terie» (377) geknüpft wäre. Lenin betonte schon in seiner Schrift Zur Frage der Dialektik, anläßlich seiner Kritik an Plechanow, die Zunahme der Vielfalt der Aspekte in der multilateralen Erkennt­nis der Dialektik (d. h. die «Unendlichkeit der Nuancen» «in einem philosophischen System, das sich von jeder einzelnen Nuance aus zu einem Gan­zen ausprägt»: die radiographische Integration der «Zyklen» in die Philosophie, ein Inhalt, wie Lenin unterstreicht, von «gewaltigem Reichtum», «ver­glichen mit dem metaphysischen Materialismus», des­sen hauptsächliches Unglück die Unfähigkeit ist, die Dialektik auf die Bildertheorie [bei Sollers deutsch; gemeint wohl «Abbildtheorie», denn Sollers über­setzt: theorie du reflet] anzuwenden, auf den Vor­gang und auf die Entwicklung der Erkenntnis: die Notwendigkeit einer vielgegliederten Komplexwer-dung der vom objektiven Widerspruch selbst durch­zogenen Widerspiegelung). Mao Tse-tung bestimmt im Anschluß daran eine differenzierte Schichtung der Methoden der Analyse und des praktischen Eingriffs: «Qualitativ verschiedene Widersprüche können nur mit qualitativ verschiedenen Methoden gelöst werden.» (377)

Der in den Unterschied eingeschlossene Widerspruch verhinderte, daß man den Widerspruch selbst als Träger verschiedener Widersprüche definierte: je­doch kann man nur von verschiedenen Widersprü­chen aus den Widerspruch definieren. So verstehen die Dogmatiker nicht, daß die «Bedingungen, unter denen die verschiedenen Revolutionen vor sich ge­hen, nicht jeweils die gleichen sind» (vgl. 378); «sie wenden überall willkürlich dieselbe Schablone an, die sie für unabänderlich halten, was nur dazu füh­ren kann, daß die Revolution Rückschläge erleidet oder daß eine aussichtsreiche Sache zu Schanden ge­macht wird.» (378) Hier kommt also die Unter­scheidung zwischen den beiden Seiten eines jeden Widerspruchs auf: «Beide Seiten eines jeden Wider­spruchs verstehen heißt verstehen, welche spezifi­sche Position jede Seite einnimmt, heißt verstehen, in welchen konkreten Formen die beiden Seiten voneinander abhängen und zueinander im Gegen­satz stehen und mit welchen konkreten Methoden sie während ihrer wechselseitigen Abhängigkeit und Gegensätzlichkeit und nach dem Bruch des Abhän­gigkeitsverhältnisses miteinander kämpfen.» (378) Eine Entfaltung also der Leninschen Formel: «die konkrete Analyse einer konkreten Situation» (385). Eine besonders wichtige Konsequenz: Die Verken­nung der Ungleichheit der beiden Seiten des beson­deren Widerspruchs macht es unmöglich, den «ideo­logischen Kampf» zu entwickeln; in der Abstrak­tion der mechanisch vorgestellten Basis verflacht der Überbau. Dies ist die «Einseitigkeit», eine Variante des Subjektivismus innerhalb des Dogmatismus. Hier nun wird die Beziehung zwischen dem Grund­widerspruch und dem «Wesen» des Entwicklungs­prozesses behandelt: obwohl sich der Charakter des einzelnen Dinges innerhalb ein und desselben Pro­zesses nicht ändert, nimmt der Grundwiderspruch in den einzelnen Entwicklungsetappen des Prozes­ses immer schärfere Formen an. Was die durch den Grundwiderspruch bedingten Widersprüche angeht, so entwickeln sie sich unterschiedlich, es «verschär­fen sich die einen, während andere zeitweilig oder teilweise gelöst oder gemildert werden und wieder andere, neue Widersprüche entstehen. Daher tritt ja der Prozeß etappenweise in Erscheinung.» (381) Der Marxismus selbst ist als Theorie dieser Entwick­lung in diesen etappenweise auftretenden Prozeß einbegriffen: daher ist der Leninismus der Marxis­mus der Epoche des Imperialismus. Heute stehen wir am Beginn des Niedergangs des Imperialis­mus.

Wir können die Schichtung des besonderen Wider­spruchs in unauflöslicher Verbindung mit der All­gemeinheit des Widerspruchs so resümieren, wie es auf außerordentlich sorgfältige und elegante Weise im Text Mao Tse-tungs geschieht:

a) Widerspruch in jeder Bewegungsform der Mate­rie (W1);
b)
Widerspruch in jedem Entwicklungsprozeß einer jeden Bewegungsform (W2);
c)
beide Seiten eines jeden Widerspruchs in jegli­chem Entwicklungsprozeß (W3);
d) Widerspruch in den verschiedenen Etappen eines Entwicklungsprozesses (W4);
e
) beide Seiten des Widerspruchs in jeder einzelnen Etappe (W5).

Die Berücksichtigung von W1, W2, W3, W4, W5 wird eine korrekte Analyse des Entwicklungspro­zesses des Widerspruchs ermöglichen, vorausgesetzt, daß W3 und W4 in der Analyse und folglich auch in der Praxis zu W3a und W3b sowie zu W5a und W5b in der erforderlichen Weise verdoppelt wer­den.

Hier die Stellung des Zusammenhangs: «Infolge der außerordentlichen Vielfalt der Dinge und der Unbegrenztheit ihrer Entwicklung verwandelt sich das, was in einem bestimmten Fall das Allgemeine ist, in einem anderen bestimmten Fall in das Beson­dere. Umgekehrt: was in einem bestimmten Fall das Besondere ist, wird in einem anderen bestimm­ten Fall zum Allgemeinen.» (386) Es ist dies die Einheit des Allgemeinen und des Besonderen, das Allgemeine im Besonderen. «Der Widerspruch ist allgemein, absolut. Dennoch existiert dieses Allge­meine nur im Besonderen.» An dieser Stelle kön­nen wir die genaue Bedeutung der «Überdetermi-nierung» der materialistischen Dialektik ausma­chen.

Zu d: Der Hauptwiderspruch und die hauptsächli­che Seite des Widerspruchs: «Die Existenz und die Entwicklung des Hauptwiderspruchs bestimmen oder beeinflussen die Existenz und die Entwicklung der anderen Widersprüche.» (vgl. 388) (Beispiel für den Hauptwiderspruch in der kapitalistischen Ge­sellschaft: Bourgeoisie/Proletariat.) Hier gelangen wir zu den entscheidenden Sätzen über die Un-gleichmäßigkeit der Entwicklung:

a) «Man darf nicht auf die gleiche Weise an alle in einem Prozeß vorhandenen Widersprüche her­angehen.» (390)
b)
«Die Seiten eines jeden Widerspruchs entwickeln sich ungleichmäßig.» (390)

Schlußfolgerung: «Die grundlegende Situation ist die ungleichmäßige Entwicklung.» (vgl. 391) So er­hält man also folgende Gliederung: Hauptwider­spruch (WA) - Nebenwiderspruch (WB) - Haupt­seite des Hauptwiderspruchs (AWA), Nebenseite des Hauptwiderspruchs (BWA), Hauptseite des Neben Widerspruchs (AWB), Nebenseite des Neben­widerspruchs (BWB), wobei die dominierende Rolle von dem Hauptaspekt des (Haupt-)Wider-spruchs ausgeübt wird.

Diese Aufteilung ist, wie Mao schreibt, nicht un­veränderlich. «Wenn in einem bestimmten Entwick­lungsprozeß oder in einer bestimmten Entwick­lungsetappe eines Widerspruchs dessen hauptsäch­liche Seite A ist und seine sekundäre B, so vertau­schen die beiden Seiten in einer anderen Entwick­lungsetappe oder in einem anderen Entwicklungs­prozeß ihre Stellung zueinander, was durch den Grad der Vermehrung bzw. Verminderung der Kräfte der beiden widerstreitenden Seiten des Wi­derspruchs im Verlauf der Entwicklung des Dinges bestimmt ist.» (391) Daraus wird ersichtlich, daß Ersetzung und Verschmelzung, Verschiebung und Verdichtung hier nicht genügen, um die Komplexi­tät und die Verkehrung des Prozesses sowie der Verschachtelung von Entfaltung und Verkettung der Prozesse untereinander, ihres sozusagen monu­mentalen Funktionsprinzips zu definieren. «Sobald das Neue die Oberhand über das Alte er­hält, wandelt sich das alte Ding qualitativ in das neue Ding um.» (391) Die hauptsächliche Seite des Widerspruchs bestimmt die Qualität (den qualitati­ven Sprung) in ihrer geregelten Veränderbarkeit. Mao faßt also die Formulierung dieses komplexen Vorganges in die folgenden vier zusammenhängen­den Kategorien: «Das Neue ersetzt das Alte» / «das Neue löst das Alte ab» / «das Alte wird vom Neuen verdrängt» / «das Neue wächst aus dem Alten her­aus» (393). An dieser Stelle erfolgt die durch die voraufgegangenen Analysen lange vorbereitete, zentrale Argumentation der Abhandlung Über den Widerspruch: die Kritik des mechanistischen Mate­rialismus und seines Zwillingsirrtums, des von Alt-husser so genannten «Idealismus des Bewußtseins», die beide die Umgestaltung der Widersprüche ver­kennen. So schleicht sich die Metaphysik wieder in's Gebiet des Materialismus und des Marxismus ein - aus Unkenntnis des Leninismus, Vereinseiti­gung der Kausalität und der Nichtbeachtung der Rückwirkung innerhalb des Widerspruchs selbst.

«Manche Leute denken, es gäbe Widersprüche, auf die das nicht zuträfe. Wenn zum Beispiel in dem Widerspruch zwischen Produktivkräften und Pro­duktionsverhältnissen die hauptsächliche Seite die Produktivkräfte sind, in dem Widerspruch zwischen Theorie und Praxis - die Praxis, in dem Wider­spruch zwischen der ökonomischen Basis und dem Überbau - die ökonomische Basis, so fände hier angeblich kein Platzwechsel zwischen den beiden Seiten des Widerspruchs statt. Diese Auffassung ist kennzeichnend für den mechanischen Materialis­mus und nicht für den dialektischen Materialismus. Selbstverständlich spielen die Produktivkräfie, die Praxis und die ökonomische Basis im allgemeinen die hauptsächliche, entscheidende Rolle, und wer das leugnet, ist kein Materialist. Man muß jedoch auch anerkennen, daß unter bestimmten Bedingun­gen die Produktionsverhältnisse, die Theorie und der Überbau an die Reihe kommen können, die ent­scheidende, die Hauptrolle zu spielen. Wenn sich ohne eine Änderung der Produktionsverhältnisse die Produktivkräfte nicht weiter entwickeln kön­nen, dann spielt die Änderung der Produktionsver­hältnisse die hauptsächliche, entscheidende Rolle. Wenn Lenins Wort <Ohne revolutionäre Theorie kann es auch keine revolutionäre Bewegung geben> unmittelbare Aktualität erlangt, dann spielt die Schaffung und Verbreitung der revolutionären Theorie die hauptsächliche, die entscheidende Rolle. Wenn irgendeine Aufgabe zu lösen ist (gleichgül­tig welche), diesbezüglich aber noch kein politischer Kurs, keine Methode, kein Plan, keine Richtlinie vorhanden ist, dann wird die Ausarbeitung des ent­sprechenden politischen Kurses, der Methode, des Planes oder der Richtlinie zum Hauptsächlichen, Entscheidenden. Wenn der Überbau (Politik, Kul­tur usw.) die Entwicklung der ökonomischen Basis behindert, dann werden politische und kulturelle Umgestaltungen zum Hauptsächlichen, Entschei­denden. Verstoßen wir mit diesen Feststellungen gegen den Materialismus? Keineswegs, denn wir er­kennen an, daß im Gesamtverlauf der historischen Entwicklung das Geistige vom Materiellen, das ge­sellschaftliche Bewußtsein vom gesellschaftlichen Sein bestimmt wird; doch gleichzeitig erkennen wir an und müssen wir anerkennen, daß das Geistige auf das Materielle, das gesellschaftliche Bewußtsein auf das gesellschaftliche Sein, der Uberbau auf die ökonomische Basis zurückwirkt. Damit verstoßen wir nicht gegen den Materialismus, sondern wir leh­nen den mechanischen Materialismus ab und vertei­digen den dialektischen Materialismus.» (394 f.) (kursive Hervorhebung vom Verf.)

Weitere zusammenfassende Folgerung: «Es gibt nichts in der Welt, das sich in absoluter Gleichmä­ßigkeit entwickeln würde, und wir müssen die Theorie der gleichmäßigen Entwicklung oder die Gleichgewichtstheorie bekämpfen.» (395)

Zu e: Identität und Kampf der gegensätzlichen Sei­ten des Widerspruchs: Diese Darlegung folgt also auf die Ausführungen zur Allgemeinheit und zur Besonderheit des Widerspruchs. Wir betreten nun­mehr den Untersuchungsbereich Identität-Unter­schiedlichkeit, auf dem die Identität, die Einheit, die Unzertrennlichkeit und der Kampf der gegen­sätzlichen Seiten im Widerspruch bestimmt wird, deren wechselseitige Bedingtheit, Koexistenz in der Einheit und gegenseitige Veränderbarkeit. Gleich zu Anfang ist die äußerste Fülle der Bezeichnungen hervorzuheben, die Mao Tse-tung einführt, um Identität und Einheit qualitativ zu erfassen und zu nuancieren: Ubereinstimmung, gegenseitige Durch­dringung, gegenseitige Infiltration, wechselseitige Ab­hängigkeit, wechselseitige Verbundenheit, wechsel­seitige Bedingtheit, wechselseitiges Zusammenwir­ken. Im Vergleich zur äußerst knappen Aussage über den Kampf und die Veränderung der Gegen­sätze ist das Feld der Identität geradezu unendlich aufgeteilt und setzt eine Menge von Querbezügen voraus. Gewiß: «In allen Prozessen schließen die gegensätzlichen Seiten an und für sich einander aus, liegen im Kampf miteinander, stehen einander entgegen», jedoch «können sie nicht isoliert, ohne einander existieren» (396). Der einfache, dualisti­sche Prozeß besteht in einem Gegensatzpaar, der komplizierte Prozeß aus dem Widerspruch mehre­rer Gegensatzpaare. Die (widersprüchliche) Einheit teilt sich in zwei (verwandelbare Gegensätze), ob­gleich die Nicht-Identität (die Widersprüche) der Identität (der Verbindung) «voraufgeht». «Allen gegensätzlichen Seiten ist unter bestimmten Bedin­gungen eine Nicht-Identität eigentümlich, und dar­um nennt man sie Gegensätze. Gleichzeitig aber be­steht zwischen ihnen eine Identität, und darum sind sie miteinander verbunden.» (397) Zweiter Punkt: «Damit, daß die beiden Seiten des Widerspruchs wechselseitig bedingt sind, hat es nicht sein Bewenden; noch wichtiger ist die Verwandlung der Gegen­sätze ineinander.» (397) Hier unterstreicht Mao Tse-tung mit Nachdruck den Satz Lenins: «Der mensch­liche Verstand soll diese Gegensätze nicht als tote, er­starrte, sondern als lebendige, bedingte, bewegliche, sich ineinander verwandelnde auffassen.» (396) Das von ihm gewählte Beispiel ist - während alle anderen eminent politisch sind - das der Mytholo­gie, und dabei gilt es einen Augenblick zu verwei­len: die Mythen stellen in der Tat Verwandlungen dar, d. h. «Lösungen» durch Veränderungen un-verbundener (imaginärer) Gegensätze, sie sind eine Vorahnung, eine als solche zu begreifende Ankündi­gung der materialistischen Dialektik in einer histori­schen Phase, als diese noch nicht ausgebildet sein konnte. Die Mythologie und ihre Sprache ist in der Folge des Prozesses von Aneigung der Natur jener subjektive Nährboden für Verwandlungen, der durch «unzählige und komplizierte wechselseitige Verwandlungen von realen Gegensätzen» erzeugt wurde und der, wie Marx sagt, einen «ewigen Reiz» (400) bewahrt, dessen Grundlage jedoch verschwindet, sobald die von ihr dargestellten Kräfte in Wirklichkeit beherrscht werden. Die Mythologie ist eine «identitätsheischende» Vor­wegnahme und zugleich Umleitung des realen Prozesses in seiner gesamten Kompliziertheit. Dies bedeutet, daß beim Übergang von der mythischen Vorstellung zur Wissenschaftlichkeit des dialekti­schen Materialismus notwendigerweise nicht allein eine, sondern mehrere kulturelle Revolutionen sich ereignen müssen, zunehmende «Eintritte» der Mas­sen in den Überbau, Aneignung eines «Verständ­nisses» der Mythen auf der Basis einer Praxis der Symbole, die die politische Kritik, eine Integrie­rung wie Verwandlung der gesamten «mythischen» Vergangenheit der Menschheit impliziert. Wie soll­ten wir in bezug auf uns selbst, d. h. hinsicht­lich einer Situation, die völlig von der Chinas ver­schieden ist und die aus dem Unbewußten einen hi­storisch unumgänglichen Ort macht (der durch die ungleichförmige Entwicklung des Uberbaus in der kapitalistischen Produktionsweise gekennzeich­net ist), nicht an die These Freuds denken: daß näm­lich die Lehre von den Trieben unsere «Mythologie» darstellt? Wie könnte man, angesichts dessen, daß der «Marxismus-Leninismus in der Praxis unabläs­sig der Erkenntnis der Wahrheit den Weg öffnet», übersehen, daß auf der Ebene der Ideologie für ein Subjekt in unserer Kultur die Wahrheit - wie uns die Psychoanalyse lehrt - stets «Fiktionscharakter» (Lacan) hat? Warum sollte man nicht an den Aus­spruch Hegels erinnern, daß nicht die Natur Angst vor dem Leeren hat, sondern die Darstellung —; vor dem Leeren, das heißt nach Hegel: vor dem Widerspruch (als Aktivität, als absolutem Grund oder Ursache), da die «vollständige Leere» gerade als «heilig» gedacht wurde, usw.? «Vor ihr besteht nichts Heiliges ...»: so definierte Engels bekannt­lich die materialistische Dialektik, die bis in die Darstellung und die Sprache hinein auf konkrete und immer tiefergreifende Weise ihre Wirkung aus­üben muß.

Die Identität hängt von «bestimmten Bedingun­gen» ab. Lenin sagt: «Die Einheit (Kongruenz, Identität, Wirkungsgleichheit) der Gegensätze ist bedingt, zeitweilig, vergänglich, relativ. Der Kampf der einander ausschließenden Gegensätze ist abso­lut, wie die Entwicklung, die Bewegung absolut ist.» (401) Mao Tse-tung legt in diesem Ausspruch den Akzent auf die Tatsache, daß alle Prozesse ei­nen Anfang und ein Ende haben und daß die Er­kenntnis der unterschiedlichen Widersprüche, so­dann der in den Widersprüchen enthaltenen Unter­schiede selbst zum Verständnis der Pluralität der Prozesse hinführt: «Alle Prozesse haben einen An­fang und ein Ende, sie alle verwandeln sich in ihr Gegenteil. Die Beständigkeit aller Prozesse ist rela­tiv, während ihre Veränderlichkeit, die sich in der Verwandlung eines Prozesses in einen anderen kundtut, absolut ist.» (vgl. 401) Hier entspricht die relative Ruhe quantitativen Veränderungen und nochmals nuanciert Mao Tse-tung auf höchst sub­tile Weise seine Bezeichnungen: Einheit, Geschlos­senheit, Verbundenheit, Harmonie, Gleichgewicht, Stabilität, Stagnation, Stillstand, Beständigkeit, Gleichmäßigkeit, Kondensation, Anziehung. Die offensichtliche Veränderung hingegen, deren Ursa­che der Kampf der beiden Seiten gegeneinander ist, entspricht der qualitativen Veränderung und wird nur sehr knapp definiert: Zerstörung, Übergang in einen entgegengesetzten Zustand, Veränderung der Prozesse. Der «Reichtum» der ersten Bestimmung erklärt zweifellos, daß sie durch den Dogmatismus und den Revisionismus «verabsolutiert» wird, wel­che folglich das «qualitative» Moment, d. h. den Bruch der Einheit verfehlen. «Die Dinge gehen un­ausgesetzt vom ersten in den zweiten Zustand über, wobei der Kampf der Gegensätze, der in beiden Zuständen vor sich geht, durch den zweiten Zu­stand zur Lösung des Widerspruchs führt. Deshalb sagt man, daß die Einheit der Gegensätze bedingt, zeitweilig, relativ ist, der Kampf der einander aus­schließenden Gegensätze hingegen absolut.» (402) Der Kampf der Gegensätze «durchdringt den gan­zen Prozeß von Anfang bis Ende und führt zur Verwandlung des einen Prozesses in den anderen» (402), er ist «überall im Gange» und ist zweifellos deshalb im allgemeinen so schwierig zu erkennen, während Einheit und Identität endlos eine Identi­fizierung als konvergierende Vereinheitlichung an­strebt, welche für die Grundlage gehalten wird, ob­wohl sie in Wirklichkeit nur eine Auswirkung ist. Als «Bewegungsmoment» aufgefaßt und vereint mit dem Kampf, erfaßt sie hingegen die Gesamt­heit der Bewegung: «Die Verbindung von beding­ter, relativer Identität mit unbedingtem, absolu­tem Kampf ergibt die Bewegung der Widersprüche in allen Dingen.» (402) Mit anderen Worten: «ge­rade der Identität wohnt der Kampf inne, ohne Kampf gibt es keine Identität». Und noch einmal Lenin: «Für die objektive Dialektik ist Absolutes im Relativen enthalten».

Zu f: Der Platz des Antagonismus in den Wider­sprüchen: Hierbei handelt es sich um einen Aspekt des Problems des Kampfes der Gegensätze, und zwar in einer seiner Formen (d. h. nicht der einzi­gen). Ein Beispiel: der Übergang zum offenen Ant­agonismus zwischen zwei Gesellschaftsklassen, Über­gang von einem alten zu einem neuen Widerspruch, Nicht-Antagonismus der Widersprüche in der kom­munistischen Partei (welche ja Spiegelungen der Klassenwidersprüche sind), die dann antagonistisch werden können, wenn sie nicht «korrigiert» wer­den, usw. Es muß in jedem Fall, sagt Mao Tse-tung, eine «unangebrachte Anwendung» (404) dieser For­mel vermieden werden. «Die Widersprüche und der Kampf sind allgemein, absolut, doch die Me­thoden zur Lösung der Widersprüche, das heißt die Formen des Kampfes, sind je nach dem Charakter der Widersprüche verschieden.» (404) Nichtantago­nistische Widersprüche können zu antagonistischen werden, und umgekehrt. Dabei erinnert er an die Zurechtweisung Bucharins durch Lenin: «Antago­nismus und Widerspruch sind durchaus nicht das­selbe. Das erstere verschwindet, das zweite bleibt im Sozialismus.» (405)

Schlußfolgerung: «der Kampf der Gegensätze geht ununterbrochen vor sich, sowohl während ihrer Ko­existenz als auch während ihrer wechselseitigen Verwandlung, wobei im letzteren Fall der Kampf besonders deutlich zutage tritt.» (406)

So folgt also die materialistische Dialektik folgen­dem Zyklus: Allgemeinheit des Widerspruchs, Be­sonderheit des Widerspruchs - Identität der Ge­gensätze mit Haupt- und Nebenwiderspruch und hauptsächlicher Seite des Widerspruchs - Kampf der Gegensätze - erneut Allgemeinheit des Wider­spruchs: ein Prozeß geht in einen anderen über un­ter Veränderung und Umwandlung der Begriffe, wobei der Kampf die «absolute» Instanz des Pro­zesses bildet.

Deshalb: «Nur im Kampf entwickelt sich der Mar­xismus».

 

Anmerkungen

Anmerkungsziffern in eckigen Klammern verweisen auf An­merkungen, die von den Übersetzern hinzugefügt wurden.

1 Nach einem Bericht an das G.E.T. von Tel Quel vom 27. Januar 1971. Vgl. auch Lenine et le materialisme philo-sophique (Tel Quel, 43).

[2] Lenin, Ausgewählte Werke (Dietz-Ausgabe), Bd. i, Ber­lin 1966, S. 843 f.

3 Nicolas Krasso, Le Marxisme de Trotzky.

[4] Bertolt Brecht, Gesammelte Werke (werkausgabe edition suhrkamp), Bd. 12, S. 533.

[5] Sollers bezieht sich hier auf eine Stelle bei Althusser (vgl. Für Marx, Frankfurt/Main 1968, S. 62), die ihrerseits auf «Das Elend der Philosophie» anspielt (vgl. MEW, Bd. 4, S. 140).

[6] Lenin, a. a. O., S. 858.

7 Gegen den rechten Revisionismus und den «linken» Dog­matismus, mit der Bewegung: «Einheit-Kritik-Einheit».

[8] Zitate aus «Ober den Widerspruch» werden im folgenden einfach mit der entsprechenden Seitenzahl nach der Aus­gabe Mao Tse-tung, Ausgewählte Werke, Bd. 1, Peking 1968, nachgewiesen. Bei einigen Zitaten ist es nicht gleich­gültig, daß Sollers nach der französischen Ausgabe, CEuvres choisies de Mao Tse-tung, tome I, Pekin 1966, zitiert. In diesen Fällen übersetzen wir das Zitat aus der französischen Ausgabe und geben die Seitenzahl der deut­schen Ausgabe mit dem Hinweis «vgl.» an.

[9] Louis Althusser, Für Marx, Frankfurt/Main 1968, S. 57.

[10] A. a. O., S. 7J.

[11] MEW, Bd. 37, S. 463.

[12] Louis Althusser, a. a. O., S. 6$.

[13] A. a. O., S. 81.

[14] Sigmund Freud, Die Traumdeutung, Frankfurt/Main, Hamburg 1961, S. 265.

[15] A. a. O., S. 464.

[16] A. a. O., S. 239.

[17] Hier dürfte die Frage der Mao-Übersetzung für die In­terpretation des Sollers-Aufsatzes Bedeutung gewinnen. Während die Stelle, auf die Sollers hier anspielt, in der deutschen Ausgabe einfach heißt: «Der allgemeine oder absolute Charakter des Widerspruchs ist in einem dop­pelten Sinn zu verstehen ...» (371), heißt es in der fran­zösischen Ausgabe: «L'universalit£ ou le caractere absolu de la contradiction a une double signification ...»

Editorische Hinweise

Aus dem Französischen übersetzt von Andre Stoll und Tillman Rexroth und veröffentlicht in: Ästhetik und Kommunikation, Nr. 8, Reinbek, Juni 1972, S. 72-83