Acht Thesen zu „Flüchtlingskrise“ und „Willkommenskultur“

von
Arian Schiffer-Nasserie

01/2016

trend
onlinezeitung

1.

Menschen verlassen ihre Heimat aufgrund von materieller Existenznot, Umweltzerstörung und Krieg. Das ist ganz und gar kein neues Phänomen. „Flüchtlingskrise“ in diesem brutalen Sinn herrscht vielmehr seit über 60 Jahren und gehört zur ökonomischen und politischen Verfassung der herrschenden Weltordnung offenbar systematisch dazu. Davon jedenfalls gehen die maßgeblichen Staaten ganz selbstverständlich aus, wenn sie – bereits kurz nach dem 2. Weltkrieg – in Form der Genfer Flüchtlingskonvention und dem UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR – den künftigen zwischenstaatlichen Umgang mit dem menschlichen Elend ihrer internationalen Konkurrenz verabreden. Und daran hat sich 25 Jahre nach dem Kalten Krieg und dem Sieg über das realsozialistische „Reich des Bösen“ nichts verbessert – im Gegenteil!

2.

Dass viele der Flüchtenden versuchen, Europa und besonders die wenigen erfolgreichen Staaten Deutschland, Frankreich, England und Schweden zu erreichen, ist ebenfalls seit Jahren so. Die Regierungen der Bundesrepublik begegneten der unerwünschten Zuwanderung seit den 1990er Jahren vor allem mit einem migrations- und asylpolitischen Maßnahmenbündel aus Abschreckung, Abwehr und Abschottung. Und sie setzten ihre flüchtlingspolitischen Ansprüche europaweit so kompromisslos durch, dass das Staatenbündnis seitdem auch den Beinamen „Festung“ trägt. Insbesondere mit der so genannten Dublin-Verordnung verpflichtet die BRD die Länder an der Süd- und Ostgrenze der EU auf die Registrierung, Internierung und Rücknahme jener Flüchtenden, die dort zuerst das Hoheitsgebiet des Bündnisses betreten. Die beabsichtigte Folge: Deutschland wälzt erstens die humanitären Kosten seiner weltweiten Erfolge auf die europäischen „Partner“ ab, umgibt sich zweitens mit „sicheren Drittstaaten“ innerhalb und außerhalb der EU und stiftet so drittens bei diesen „Transitländern“ das ureigene Interesse an einer möglichst effektiven Grenzsicherung gegen Flüchtende, die ja ursprünglich nicht zu ihnen, sondern nach Nord- oder Westeuropa wollten. Die unvermeidliche Konsequenz sind über 30.000 Tote und hoffnungslos überfüllte Aufnahmelager an den EU-Außengrenzen in den letzten 20 Jahren. Das alles war und ist nach Auffassung deutscher Führungskräfte in Politik und Presse keine Flüchtlingskrise. Vielmehr gilt bis zum Spätsommer 2015 in der Bundesregierung die Sprachregelung, dass die Situation der Flüchtenden zwar bedauerlich, die Ursachen aber entweder bei „kriminellen Schleuserbanden“, welche die Menschen „mit falschen Versprechen aufs Meer locken“, oder aber in „Misswirtschaft, Korruption, Terror und Despotie“ der Herkunftsländer zu suchen seien – jedenfalls nichts mit der westlichen Weltordnung, dem Weltmarkt und der deutschen Rolle darin zu tun haben. Außerdem gebe es „nun mal“ europäische Regelungen beim Umgang mit den Flüchtenden (Dublin) und daran habe sich jedes Land zu halten. Deutschland könne jedenfalls beim besten Willen nicht „für das Elend der gesamten Welt“ die Verantwortung tragen. Das alles war und ist nach Auffassung der Bundesregierung keine Flüchtlingskrise – die gibt es bekanntlich erst seit dem Spätsommer 2015. In diesem Jahr zeichnet sich nämlich immer stärker ab, dass die Flüchtenden es trotz aller Abwehrmaßnahmen in immer größerer Zahl schaffen, die EU lebend zu erreichen. Und nicht nur das: Sie kommen nach Zentraleuropa und wollen vorzugsweise nach Deutschland. Seitdem (!) spricht die Bundesregierung von einer Flüchtlingskrise und hat die Zahl von 800.000 bis eine Million zu erwartenden Flüchtlingen für dieses Jahr in die Welt gesetzt. Die aktuell ausgerufene „Flüchtlingskrise“ ist also nicht mit dem Leid der Flüchtenden zu verwechseln – in ihr geht es nicht um die Probleme der Flüchtenden, sondern um die Problemeder BRD mit den Flüchtenden.

3.

Dass die Opfer der ökonomischen Weltmarkterfolge Deutschlands und der westlichen Weltordnung durch die EU-Außenstaaten und das Dublin-Verfahren bisher zuverlässig von der Mitte Europas (Deutschland, Frankreich) ferngehalten wurden bzw. schnell zurückgeschickt werden konnten, funktioniert offenbar nicht mehr. In diesem Sinne ist die bisherige Flüchtlingspolitik aus Sicht der deutschen Regierung „gescheitert“ (Angela Merkel). Aber warum? Zunächst einmal sind die vielen Flüchtenden weltweit Ausdruck der politischen und ökonomischen......

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Editorischer Hinweis

Den Text erhielten wir vom Autor für diese Ausgabe zur Zweitveröffentlichung. Erstveröffentlicht wurde er bei: Überblick - Vierteljahrs-Zeitschrift des IDA-NRW, Nr.4. / Dezember 2015