Bernard Schmid  berichtet aus Frankreich

Aus eins mach zwei
Die Abspaltung vom französischen Front National (FN) formiert sich

01/2018

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In ungewohnter Umgebung präsentierten sich prominente rechtsextreme Kader in der Woche vor Weihnachten 2017 der französischen Öffentlichkeit. Am Rande des weitläufigen Geländes der marché aux puces, des weltberühmten Pariser Flohmarkts, welcher in Wirklichkeit auf dem Territorium der nördlich an Paris angrenzenden Vorstadt Saint-Ouen liegt, trat Florian Philippot vor der versammelten Presse auf. Genau dort wird künftig das Hauptquartier seiner frisch gegründeten Partei Les Patriotes liegen, welche im kommenden Februar ihren ersten Kongress abhalten wird.

Saint-Ouen, das zu den ärmeren Kommunen des Landes mit relativ hohem Einwanderungsanteil zählt, bildet nicht nur eine ungewöhnliche Umgebung dafür. Auch der übrige Kontext darf als pittoresk gelten. Eingerichtet wurde die neue Parteizentrale in einer vormaligen Privatwohnung, welche einer der schillerndsten Gestalten des Pariser Kommunalgeschehens gehört, nämlich Marcel Campion. Letzterer wird mitunter als „König der forains“ bezeichnet; unter diese Bezeichnung fallen Jahrmarkt- und Schaubudenbesitzer, Schausteller, Karussellbetreiber und ähnliche Gewerbetreibende. Die Gruppe um Marcel Campion, die überwiegend aus französischen Sinti besteht, hat seit einigen Monaten verstärkten Ärger mit der Pariser Stadtverwaltung, die dem Mann die Genehmigung für einen Rummelplatz und einen Weihnachtsmarkt im Zentrum von Paris entzogen hat. Vorgeworfen werden ihm unter anderem Steuerhinterziehung in nicht geringfügigem Ausmaß, Verstöße gegen Ausschreibungsrichtlinien und Handgreiflichkeiten im Umgang mit der Polizei. Im Pariser Rathaus unter Anne Hidalgo hat man spätestens seit Sommer 2017 gestrichen die Nase voll von ihm.

Prompt entdeckte Marcel Campion, den man als eine Art freundlichen Mafiosi ohne Schusswaffen im Hintergrund bezeichnen könnte, sich eine Ader als vermeintlicher Sozialrevolutionär. Bei den ersten Demonstrationen gegen die „Reform“ des Arbeitsrechts unter Präsident Emmanuel Macron, im September, liefen er und seine Leute unvermittelt vorneweg und führten dabei Wagen mit Zirkusaufbauten mit. Die Protestbewegung gegen die, inzwischen durchgewunkene, arbeitgeberfreundliche Arbeitsmarktreform scheiterte und verlief im Laufe des Herbsts 2017 im Sande. Florian Philippot, damals noch Vizevorsitzender des Front National (FN), den er einige Tage später – am 21. September 17 – dann verließ, erblickte darin jedoch eine wundervolle Gelegenheit zur Selbstinszenierung als scheinbarer Sozialprotestler. Erstmals nahm der rechtsextreme Politiker damals an einer Gewerkschaftsdemonstration teil: Er fuhr auf dem Wagen von Marcel Campion und seinen Leuten mit.

Am Tag des Herbstanfangs 2017 trat Philippot aus seiner bisherigen Partei aus, nachdem er in deren Führungsinstanzen zunehmend an den Rand gedrängt worden war. Der 36jährige war bis zum Ausgang der für den Front National negativ verlaufenen Präsidentschaftswahlen im April und Mai des abgelaufenen Jahres faktisch eine Art Sonderberater von Marine Le Pen gewesen. Er war maßgeblich verantwortlich dafür, die damalige politisch-ideologische Linie der rechtsextremen Partei zu definieren. Dabei ist Philippot eher ein nach rechts radikalisierter, ehemaliger nationalistischer Sozialdemokraten, als dass er originär faschistischen Traditionssträngen entstammen würde – wie weite Teile des FN.

Im Zentrum standen dabei soziale Demagogie – in Parolen klingt Philippot oft vermeintlich antikapitalistisch, obwohl sein Ansatz in Wahrheit auf einem nationalstaatlichen Keynesianismus beruht, welcher wirtschaftlichen Aufschwung durch Protektionismus sowie Lohnerhöhungen verspricht – und die Forderung nach einem EU-Austritt. Letzterer sei unabdingbar, um das wirtschafts- und sozialpolitische Projekt durchsetzen zu können, aber auch, um „wieder Herr über unsere Grenzsicherung zu werden“.

Gleichzeitig basierte die „Philippot-Linie“ also in gewisser Weise auf der Vorstellung, die Forderung nach einem Austritt aus der Euro-Währung und aus der Europäischen Union bilde den Schlüssel zu allen anderen programmatischen Vorstellungen. Philippot wurde als Heranwachsender durch das französische Referendum über den Maastricht-Vertrag im September 1992 geprägt (es ging mit 51 zu 49 Prozent knapp zugunsten der Unterzeichnung des EU-Vertrages aus), das er als knapp Elfjähriger miterlebte. So arbeiten es jedenfalls seine Biographinnen, die Politikjournalistinnen Astrid de Villaines und Marie Labat, in ihrem Buch „Philippot Ier – Le nouveau visage du Front national“ (erschienen im März 2017) heraus. Zwischen der Abstimmung von 1992 und jener in Frankreich vom Mai 2005 über den, daraufhin gescheiterten, EU-Verfassungsvertrag – Philippot war nun 23 – formte er sich ein Weltbild, in welchem die Trennlinie zwischen „EU-Befürwortern und Globalisten“ einerseits und „Patrioten“ andererseits die entscheidende politische Scheidelinie darstellt. Linke wie rechte, unterschiedlich motivierte Nein-Stimmen gilt es in seinen Augen stets zu bündeln, um auf diese Weise Mehrheiten zu organisieren.

Doch viele Stimmen in der Partei zeigten sich darüber in den letzten zwei Jahren beunruhigt, zumal die Konservativen seit 2015 eine Kampagne gegen die „unverantwortlichen, linkslastigen Positionen“ des FN in der Wirtschaftspolitik fuhren, die auch in Teilen der Partei selbst verfing. Philippot wurde innerparteilich heftig angegriffen und wegen angeblichen „Linksdralls“, jedoch immer wieder auch aufgrund seiner Homosexualität angegriffen.

Nach dem Scheitern der Präsidentschaftskandidatur Marine Le Pens, und ihrer bis heute in der Öffentlichkeit nachwirkenden Blamage beim TV-Duell mit ihrem damaligen Gegenkandidaten Emmanuel Macron vom 03. Mai 2017, ist die mit dem Namen Philippots verbundene Linie innerparteilich verstärkt unter Druck geraten. Seitdem kommt es beim FN zu ziemlich starken Verschiebungen.

Die Idee vom EU- und Euro-Austritt wird zunehmend als unverantwortliche Parole, die einer konservativen und mittelständischen Wählerschaft Furcht einflöße, betrachtet. Aber auch die soziale Demagogie, die das Auftreten des FN seit den 1990er Jahren prägte - weil die Partei damals davon ausging, nach dem Ende des sowjetischen Blocks verschwänden Marxismus und Klassenkampf und überließen die „soziale Frage“ der nationalistischen Rechten -, wird immer stärker in Frage gestellt. Die Parteilinie sei „linkslastig“, blockiere und verhindere die Annäherung an konservative Rechte als „natürliche“ Verbündete und halte Wirtschaftskreise dauerhaft auf Abstand. Hinzu kommt, dass zwar die Wählerschaft des FN sich zum Teil aus Angehörigen der sozialen Unterklassen zusammen, aus Lohnabhängigen und Erwerbslosen, jedoch die Mitgliedschaft sich umgekehrt wesentlich stärker aus den Mittelklassen und den so genannten Eliten rekrutiert. An diesen Bruchstellen sind nicht erst seit den jüngsten Wahlen, sondern bereits seit dem ebenfalls als Niederlage betrachteten Abschneiden des FN bei deN Regionalparlamentswahlen im Dezember 2015 die Widersprüche innerparteilich voll aufgebrochen.

Andere, vergleichbare rechtsextreme Parteien in Europa machen es vor. So hat die FPÖ bei den österreichischen Nationalratswahlen vom Oktober 2017 und vor ihrem jüngst erfolgten Regierungseintritt bereits die soziale Demagogie, die sie sich ebenfalls seit den neunziger Jahren verstärkt zu eigen gemacht hat, zum Großteil abgelegt. Dies hing unter anderem auch damit zusammen, dass die Parteispitze nicht denselben Fehler wiederholen wollte wie in den Jahren ab 2000, als die damals ebenfalls mitregierende FPÖ viele der durch ihre soziale Demagogie erweckten Wählererwartungen enttäuschte und in den nachfolgenden Wahlen schnell abrutschte. Ihr Wahlprogramm von 2017 war bereits durch ein geringes Ausmaß an sozialen Versprechungen geprägt, und das nunmehrige Regierungsprogramm ist auf extreme Weise kapitalfreundlich, im Gegensatz zu seinen Auswirkungen auf die Lohnabhängigen. So erlaubt es, die Arbeitszeit, unter Ausnutzung der maximalen Spielräume des EU-Rechts, bis auf zwölf Stunden tÄglich sowie sechzig Stunden pro Woche auszudehnen.

Einen ähnlichen Wandel, jedoch nicht derart deutlich markiert, scheint auch der FN zu vollziehen. Unternehmerinteressen finden in seinem Diskurs wieder verstärkt Geltung, wie zuletzt in der wirtschaftsliberalen Periode der französischen Partei in den 1980er Jahren. Am sichtbarsten ist die Veränderung beim Thema Europapolitik. So sprach Marine Le Pen erstmals in einer Rede am 1. Oktober 17 in Poitiers explizit davon, Ziel ihrer Partei sei nunmehr nicht länger der EU-Austritt, sondern, „die EU von innen heraus zu reformieren“. Anlässlich eines Fernsehauftritts am 19. Oktober 17, bei dem sie erstmals nur geringen Publikumserfolg hatte – die Zuschauerzahl lag unter zwei Millionen -, zeigte die FN-Chefin sich dann mehr als vage zum Thema Haltung zur EU. Diese nicht ganz unwichtige Frage wischte sie damals mit der Bemerkung „Man wird sehen!“ zur Seite. Auf den Tag einen Monat später schlug sie ferner am 19.11.17 Laurent Wauquiez, dem damaligen Anwärter auf den Vorsitz des konservativen Partei Les Républicains (LR), welche er seit seiner Wahl zum Chef am 10. Dezember 17 nun anführt, erstmals ein Bündnis vor. Und im französischen Parlament lobte die parteilose, jedoch für den FN gewählte Abgeordnete Emmanuel Ménard die EU-Fahne – ihre zwölf Sterne symbolisierten den Bezug auf das christliche Abendland -, nachdem der Linksnationalist Jean-Luc Mélenchon im Oktober 17 die Entfernung der europäischen Flagge aus den Räumen der Nationalversammlung beantragt hatte.

Philippot an der Spitze seiner neuen Partei nutzt dies aus, um dem FN lautstark in der Öffentlichkeit Verrat und „das Aufgeben sämtlicher Leitideen“ vorzuwerfen. Zwar versucht der Chef von Les Patriotes, selbst Absolvent der Elitehochschule ENA, ansonsten auch als sachlich argumentierende, konstruktive Alternative zu einem polternden, konzeptlosen und primitiven FN zu erscheinen. Gleichzeitig klagt er ihn jedoch auch an, sich vor allem in Sachen EU-Politik einem „antinationalen Mittelblock“ anzuschließen. An der Regierungsbeteiligung der FPÖ in Wien kann Philippot ebenfalls nichts Gutes finden, er erklärte dazu Mitte Dezember 17 bei einem TV-Auftritt, diese werde „nichts ändern“. Und die FPÖ habe ferner die Akzeptanz der EU geschluckt und sich dadurch politisch unnötig gemacht.

Seine frühere Partei, der Front National, bleibt dagegen der österreichischen Formation unter Heinz-Christian Strache verbunden. Allerdings mutmaßt etwa Le Monde, die FPÖ könnte die gemeinsame Europaparlamentsfraktion „Europa der Nationen und der Freiheiten“ im neuen Jahr verlassen, was ein notwendiges Zugeständnis an bürgerliche Kräfte im Namen der Regierungsfähigkeit darstelle. Philippot und die beiden anderen früheren FN-Europaparlamentarier, die wie er seiner neuen Partei angehören, sitzen hingegen heute in einer gemeinsamen Fraktion mit dem britischen EU-Skeptiker Nigel Farage (UKIP).

Les Patriotes beanspruchen nunmehr offiziell, 5.500 bis 6.000 Mitglieder aufzuweisen, nachdem ihre Parteigründung offiziell im November erfolgte. Beim FN spricht man davon, es handele sich um maximal 500. Die Partei von Marine Le Pen gibt ihre Mitgliederzahl offiziell mit 80 bis 90.000 an, die Realität dürfte laut vorliegenden statistischen Materialen – dazu zählt die Mitgliederbeteiligung bei innerparteilichen Abstammungen – nahe bei 50.000 liegen.

Die neue Konkurrenz unter Philippot, mit welcher sich auch die vormals betonte „sozialpatriotische“ Ausrichtung der Partei zum Teil abgespalten hat, ist allerdings nicht das einzige Problem. In der letzten Novemberwoche 2017 kündigte ihre bisherige Hausbank, die Société Générale, der rechtsextremen Partei alle Konten. Inzwischen hat die französische Zentralbank der Geschäftsbank Recht gegeben, dass sie nicht diskriminierend gehandelt habe, wie der FN ihr vorwirft. Die Hintergründe sind der Öffentlichkeit nicht vollständig bekannt, doch es dürfte um Vorwürfe der Geldwäsche im Zusammenhang mit einer untransparenten Finanzierung des FN aus russischen Quellen gehen. Seit dem 12. Dezember 17 läuft zudem ein Anklageverfahren gegen die Partei als juristische Person im Zusammenhang mit dem Vorwurf, Fraktionsgelder aus dem Europaparlament in Millionenhöhe zweckentfremdet zu haben, indem das daraus bezahlte Personal in Wirklichkeit rein inländische Funktionärsaufgaben erledigte. Praktischerweise wurde die Arbeitszeit der betreffenden rund dreißig Mitarbeiter in der Parteizentrale in Nanterre dort systematisch erfasst und die entsprechenden Angaben wurden gespeichert, so dass die ermittelnde Justiz sie dort beschlagnahmen konnte. Orientierungs- und Strategiefragen sind also derzeit nicht das einzige Problem, mit dem Marine Le Pen sich herumzuplagen hat.

Editorischer Hinweis
Wir erhielten den Artikel vom Autor für diese Ausgabe, sie wurde
  (in erheblich gekürzter Fassung) erstveröffentlicht  in der Berliner Wochenzeitung ‚Jungle World’, Rubrik Antifa, am Donnerstag den 04. Januar 18