100 JAHRE NOVEMBERREVOLUTION

Wahlen und Zusammentritt der Nationalversammlung

01/2019

trend
onlinezeitung

Am 19. Januar 1919, wenige Tage nach der blutigen Niederschlagung des Berliner Proletariats und der Ermordung von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg, fanden die „freien" Wahlen zur verfassunggebenden Nationalversammlung statt. Über der Reichshauptstadt und anderen großen Städten lag die Friedhofsruhe des weißgardistischen Schreckenregiments. Alle Macht, alle Waffen, alle Massenbeeinflussungsmittel befanden sich in den Händen der offenen und versteckten Feinde der Revolution. Den Reaktionären aller Schattierungen - jahrelangen Parteigängern der Militärdiktatur und Kriegsverlängerern, Militaristen und Arbeitermördern - gewährte der neue angeblich „freie Volksstaat" volle „demokratische" Rechte, während die Vorkämpfer gegen Krieg, Militarismus und Ausbeutung - die Kommunisten - verfemt und verfolgt wurden. Im Ruhrgebiet, in Bremen und an anderen Orten, wo die Kämpfe gegen die vorschreitende Gegenrevolution noch im Gange waren, setzte die Regierung zur „Sicherung" der Wahlen monarchistische Offiziere und konterrevolutionäre Terrorgarden ein.

An den Wahlen, bei denen alle Männer und Frauen vom 20. Lebensjahr an stimmberechtigt waren, beteiligten sich die USPD, die SPD und die im November/Dezember 1918 neu formierten bürgerlichen Parteien. Unter dem Druck der antimilitaristisch und demokratisch gestimmten Schichten der Mittel- und Kleinbourgeoisie, der Bauern, Handwerker und Halbproletarier hatten sich diese Parteien, die sich jetzt durchweg als „demokratische" oder als „Volks"parteien bezeichneten, zu den Errungenschaften der Novemberrevolution bekennen müssen. Selbst die Konservativen, die noch während der letzten Kriegsmonate stur gegen die preußische Wahlrechtsreform aufgetreten waren, befürworteten jetzt das allgemeine Wahlrecht und erklärten sich zur „Mitarbeit" in der Republik bereit.

Obwohl sich die umgebildeten bürgerlichen Parteien auf unterschiedliche Kräfte - vom demokratischen Bürgertum bis zu den monarchistischen Junkern - stützten und deren Interessen in scharfem Kampf gegeneinander vertraten, stimmten ihre Wahlaufrufe in vielen wesentlichen Punkten überein. Konservative, Klerikale und Liberale traten sofort wieder mit dem Anspruch auf, Sachwalter der Nation zu sein, setzten sich entschieden für die Erhaltung des Privateigentums und für die Konstituierung des neuen Staates durch die Nationalversammlung, d. h. für die Festigung der bourgeoisen Klassenherrschaft, ein. Unter dem Deckmantel der Ablehnung jeglicher „Klassendiktatur" wandten sie sich gegen die von den revolutionären Kräften geforderten gesellschaftlichen Umgestaltungen und riefen zum Kampf gegen den Bolschewismus auf. Eingefleischte Antidemokraten und gemäßigte Liberale bedienten sich „allgemein-demokratischer" Phrasen und forderten „gleiches Recht für alle", das faktisch dazu diente, der Konterrevolution unumschränkte Handlungsfreiheit einzuräumen. Alle Parteien des Bürgertums traten mit demagogischen Versprechungen auf sozialpolitischem Gebiet auf. Selbst die junkerlich-schwerindustriellen Politiker forderten „Schutz und Recht" für die Landarbeiter und erklärten sich gegen die „Auswüchse eines international gerichteten Großkapitalismus". Sie schreckten nicht davor zurück, unverbindlich von der gegebenenfalls notwendigen „Überführung der Privatwirtschaft in die gemeinwirtschaftliche Betriebsform" zu sprechen, d. h. Maßnahmen zu verkünden, die von breiten Volkskreisen als „Sozialisierung" aufgefaßt wurden. Alle Parteien der Bourgeoisie - auch'die, die eben noch als wüste Annexionisten aufgetreten waren -stellten den Frieden als segensreiches Ziel hin und forderten die Erneuerung des diplomatischen Dienstes, dessen diskreditierte Außenpolitik sie selbst z. T. noch vor kurzem unterstützt hatten.

Auf dem rechten Flügel der Reaktion stand die Deutschnationale Volkspartei (DNVP), die aus den alten Deutschkonservativen, den Freikonservativen (Reichspartei) und einigen Splittergruppen (Christlichsoziale, Völkische) hervorgegangen war. Sie vertrat die Interessen der taktisch weniger wendigen Monopole, der Großagrarier und Großbauern. Eine bedeutende Rolle in dieser Partei spielte neben Oskar Hergt und Kuno Graf v. Westarp auch Alfred Hugenberg, ein führender Alldeutscher, der bis 1919 Generaldirektor des Krupp-Konzerns und seit 1916 Besitzer eines der größten deutschen Zeitungsverlage (Scherl) war. Das Programm der DNVP, das erst 1920 angenommen wurde, bestätigte die revanchistische, monarchistisch-militaristische und antidemokratische Linie der extremsten Reaktion und enthielt offen faschistische Tendenzen.

Als Interessenvertretung des sich „liberal" gebärdenden Großbürgertums (vor allem gewisser Teile der Schwerindustrie und der Finanzoligarchie sowie des höheren Beamtentums) hatte sich aus der Mehrheit der alten Nationalliberalen Partei unter Führung Gustav Stresemanns die Deutsche Volkspartei (DVP) gebildet. Stresemann hielt es unter „normalen" Bedingungen für wirksamer, die Arbeiterbewegung nicht offen zu bekämpfen, sondern sie planmäßig zu spalten und von innen heraus zu zersetzen. Da es unmöglich war, die unter den Massen verhaßte Hohenzollern-Monarchie in absehbarer Zeit wiederzuerrichten, arbeitete die DVP auf die Bildung einer schwarz-weiß-roten Republik(175) hin, die sie eines Tages in ein „Volkskaisertum" umzuwandeln hoffte. In ihrem Ende 1919 angenommenen Programm verbrämte die DVP die reaktionäre Zielsetzung ihrer Politik mit Phrasen über die „sittliche Überwindung aller Gegensätze zwischen ... Unternehmern und Mitarbeiter", über die erstrebenswerte „gesunde Mischung von Groß-, Mittel- und Kleinbesitz" und forderte die Wiedererringung der „früheren Weltgeltung" Deutschlands, die Erhaltung der „Manneszucht und Kameradschaft" als „Grundpfeiler" des „deutschen Volksheeres" u. ä. m.

Der kleinere Teil der Nationalliberalen hatte sich mit der früheren Fortschrittspartei, die aus den ehemaligen Freisinnigen und den süddeutschen Demokraten hervorgegangen war, zur Deutschen Demokratischen Partei (DDP) zusammengeschlossen. In den Führungsgremien dieser betont republikanischen Partei, der Walther Rathenau, Wilhelm Külz(176), Erich Koch u. a. angehörten, saßen Monopolherren (vor allem aus der Gruppe Elektrochemie), und Bankiers, Geschäftsleute, Angestellte und Intellektuelle. Der Partei standen mehrere große bürgerliche Presseorgane („Frankfurter Zeitung", „Berliner Tageblatt", „Vossische Zeitung") nahe, die ihr jedoch den anfangs erworbenen Masseneinfluß auf die Dauer nicht zu erhalten vermochten. Im Mittelpunkt des im Dezember 1919 beschlossenen Programms der DDP stand die Sicherung des Privateigentums. „Die Vergesellschaftung der Produktionsmittel im Sinne allgemeiner Verstaatlichung", hieß es dort, „wäre tödliche Bürokratisierung der Wirtschaft." Gleichzeitig versprach die Partei demagogisch, „soziales Unrecht in der Verteilung des Besitzes und des Einkommens" zu beseitigen.

Während der Revolution nahm auch die katholische Zentrumspartei (allerdings nur vorübergehend) den Namen einer Christlichen Volkspartei an. Das Zentrum umfaßte die mit dem politischen Klerikalismus verbundenen Monopolkapitalisten, Mittel- und Kleinbürger und übte großen Einfluß auf die katholischen Bauern sowie auf die sich um die christlichen Gewerkschaften gruppierenden Arbeiter aus. Die Linie der Partei wurde von Politikern wie Erzberger, Karl Trimborn, Joseph Wirth(177), Wilhelm Marx u. a. bestimmt, die in einer Reihe von Einzelfragen unterschiedliche Positionen bezogen. Auf die Erhaltung seiner heterogenen Massenbasis bedacht, machte das Zentrum in seinem Aufruf vom November 1918 und seinen programmatischen Leitsätzen vom Dezember desselben Jahres alle möglichen unklaren Versprechungen („gerechte Gesetzgebung", „Zusammenschluß von Bürgertum und Bauernschaft" u. ä.), vermied es jedoch, zu den umstrittenen Fragen der Staatsreform, der Gestaltung des Heeres u. dgl. Stellung zu nehmen. Unzweideutig waren lediglich- die antikommunistischen Forderungen der klerikalen Partei: Verhinderung „russischer Zustände", Verwirklichung der Beschlüsse der Nationalversammlung durch „Truppen Freiwilliger" usw. Vom alten Zentrum hatte sich während der Revolutionstage eine partikularistische Bayrische Volkspartei abgespalten, die mit dem Schlagwort „Berlin darf nicht Deutschland werden!" versuchte, den in Süddeutschland verwurzelten Haß gegen das reaktionäre Preußentum für die Schürung konterrevolutionärer Stimmungen zu mißbrauchen.

Die SPD bezeichnete den neuen deutschen Staat in ihren Wahlparolen als sozialistische Republik. Die mit den Militaristen verbündeten Ebert und Noske stellten den Militarismus als überwunden hin und knüpften an die Illusionen der Mehrheit der Arbeiter an, die glaubte, daß die Nationalversammlung die Bedingungen für das Hineinwachsen in den Sozialismus schaffen würde. Die USPD, in deren Wahlaufruf es hieß, daß sie für die „möglichst schnelle Umwandlung des kapitalistischen Klassenstaates in die sozialistische Gesellschaft" eintrete, bezeichnete die Revolution zwar als unvollendet, erklärte jedoch auch, daß das bürgerliche Parlament zu einem wichtigen Faktor ihrer Weiterentwicklung werden könne.

Die 423 Mandate der Nationalversammlung verteilten sich im Ergebnis der Wahl wie folgt: SPD - 163, USPD - 22, DDP - 75, Zentrum und Bayrische Volkspartei - 91, DVP - 19, DNVP - 44 und sonstige - 9. Damit hatten die bürgerlichen Parteien eine knappe Mehrheit (56 %) errungen. Ähnlich sahen die Ergebnisse der von Dezember 1918 bis Februar 1919 durchgeführten Landtagswahlen in den Einzelstaaten aus.(178)

Die in den Revolutionswochen gesammelten Erfahrungen eines großen Teils der Werktätigen besagten, daß außerparlamentarische Aktionen das wirksamste Mittel zur Erringung und Festigung demokratischer Rechte und Freiheiten sind. So mußte die Regierung befürchten, daß das Proletariat das neue Parlament durch gewaltige Massenaktionen daran hindern könne, die Restauration der bürgerlichen Macht staatsrechtlich zu verankern. Deshalb berief sie die Nationalversammlung nicht nach der Reichshauptstadt, einem der größten Zentren der Arbeiterbewegung, sondern nach der militärisch abgeriegelten ehemaligen großherzoglichen Residenzstadt Weimar ein. In Weimar hatten seinerzeit Goethe und Schiller und viele andere große Söhne des deutschen Volkes gewirkt. So hofften die „Volksbeauftragten" und die mit ihnen solidarischen bürgerlichen Parteien, durch die Wahl des Tagungsortes der Nationalversammlung die Konstituierung der unter dem Schutz weißgardistischer Banden entstehenden Republik mit dem Nimbus der humanistischen Tradition des deutschen Volkes umgeben zu können.

Der Zusammentritt der Nationalversammlung, mit dem der schrittweise Ausbau der bürgerlichen Staatsmacht begann, fand am 6. Februar statt. Am gleichen Tage trat der auf dem Reichsrätekongreß im Dezember gewählte Zentralrat der Arbeiter- und Soldatenräte zurück und übergab seine Kompetenzen dem Parlament. Präsident der Nationalversammlung wurde der Zentrumsabgeordnete Konstantin Fehrenbach.(179) Bereits auf den ersten Sitzungen der Nationalversammlung hielten reaktionäre Abgeordnete Lobreden zu Ehren des geflohenen Kaisers und der verbrecherischen Kriegführung Ludendorffs. Am 10. Februar nahm die Nationalversammlung das Gesetz über die „vorläufige Reichsgewalt" (provisorische Verfassung) an, durch das das republikanische Regime in Deutschland bestätigt, die Einzelstaaten aber beibehalten wurden.

Am 11. Februar wählte die Versammlung den bisherigen „Volksbeauftragten" Ebert mit 227 gegen 49 Stimmen (bei mehr als 90 Stimmenthaltungen) zum Reichspräsidenten. In seiner Antrittsrede erklärte das neue Staatsoberhaupt, daß er sein Amt „über" den Parteien stehend ausüben werde. Obwohl er versicherte, die „Gedankenwelt des Sozialismus" nicht verleugnen zu wollen, trat er als rein bürgerlicher Staatsmann auf. Ein reaktionärer Diplomat berichtete, daß Ebert, als er kurz darauf sein Sekretariat aufbaute, sagte: „Ich habe hier nur Parteigenossen, die alle nichts taugen. Ich werfe sie alle hinaus und möchte ein Büro von gewissenhaften, tüchtigen und diskreten Beamten haben."(180) Zum Ministerpräsidenten wurde am 13. Februar Scheidemann berufen. Er bildete eine Regierung aus Vertretern der SPD, der Demokratischen Partei und des Zentrums(181). Der Block dieser Parteien wurde seitdem als „Weimarer Koalition" bezeichnet.

Am 24. Februar begannen die Beratungen über die neue Verfassung, die am 28. einem Ausschuß übertragen wurden, der im Laufe der folgenden fünf Monate tagte. Durch ein vorläufiges Wehrgesetz, welches, wie ein deutschnationaler Abgeordneter frohlockend bemerkte, nicht vom „Geist von Weimar", sondern vom „Geist von Potsdam" durchdrungen war, wurde am 6. März das neue Heer, die vorläufige Reichswehr, geschaffen.

Sie wurde aus konterrevolutionären Freiwilligenverbänden aufgebaut und zum Einsatz gegen die Werktätigen gedrillt. Gleichzeitig sollte sie den Grundstock eines künftigen aggressiven Massenheeres bilden. Ihre Struktur sollte es ermöglichen, „einen Teil der Macht im neuen Staat an Heer und Offizierskorps zu bringen", um dadurch, „der Revolution zum Trotz", das - wie Groener es nannte - „beste und stärkste Element des alten Preußen-tums in das neue Deutschland" hinüberzuretten.(182) In der neuen republikanischen Armee gab es keine Sohldatenräte mehr. Die Reichswehrangehörigen waren des Wahlrechts beraubt. Die Kommandogewalt lag in den Händen ehemaliger kaiserlicher Militärs. Der Kaiser war gegangen, die Generäle waren geblieben.

Ende März verabschiedete die Nationalversammlung das Gesetz über die obersten Reichsbehörden, welches die Kontinuität der staatlichen Institutionen und Gesetze der Hohenzollern-Monarchie und der Republik festlegte, die Vollmachten des alten Reichstages auf die Nationalversammlung, die des Bundesrates auf den Staatenausschuß (den späteren Reichsrat), die des Kaisers auf den Reichspräsidenten und die des Reichskanzlers auf die Regierung übertrug. Die Konservierung des bürgerlichen Staatsapparates durch die sozialdemokratischen Führer fand damit ihren verfassungsrechtlichen Ausdruck.

Anmerkungen

175) Schwarz-weiß-rot waren die Farben des Hohenzollernreiches. Die bürgerlichen Republikaner bekannten sich zur schwarz-rot-goldenen Fahne der Revolution von 1848.

176) Rathenau zeigte sich später gewissen realpolitischen Tendenzen zugänglich, die ihn veranlaßten, den Vertrag von Rapallo (vgl. S. 186 ff.) mit Sowjetrußland ab­zuschließen. Er wurde" 1922 von Faschisten ermordet. Külz ging den Weg des bürgerlichen Demokraten konsequent zu Ende und war nach 1945 im östlichen Teil Deutschlands Führer der LDPD, die erkannt hat, daß sich das deutsche Volk nur unter der Führung der Arbeiterklasse durch den Aufbau des Sozialismus eine friedliche Zukunft erkämpfen kann.

177) Auch Wirth hatte später hervorragenden Anteil am Abschluß des Rapallover-trages. Kurz vor seinem Tode (1956) wurde er mit dem Internationalen Lenin-Friedenspreis ausgezeichnet.

178) In Sachsen, Hamburg, Bremen, Braunschweig und einigen kleineren Staaten er­hielten SPD und USPD gemeinsam die absolute Mehrheit der Stimmen und Man­date, betrieben jedoch die gleiche Politik der Zusammenarbeit mit den bürger­lichen Parteien wie in den übrigen Landesparlamenten.

179) Anfangs wurde der Sozialdemokrat Eduard David zum Präsidenten gewählt, der jedoch wenige Tage später als Minister ohne Portefeuille in die Regierung ein­trat und deshalb den Vorsitz der Nationalversammlung niederlegte.

180) Rudolf Nadolny, Mein Beitrag, Wiesbaden 1955, S. 69.

181) Die Ressorts waren folgendermaßen verteilt: Stellvertretender Ministerpräsident und Finanzen - Eugen Schiffer (DDP), Reichswehr - Noske (SPD), Inneres -Hugo Preuß (DDP), Justiz - Landsberg (SPD), Außeres - Ulrich Graf Brockdorff-Rantzau (parteilos), Wirtschaft - Wissell (SPD), Arbeit - Bauer (SPD), Er­nährung - Robert Schmidt (SPD). Erzberger (Zentrum) wurde Minister ohne Portefeuille. Außerdem erhielt das Zentrum noch zwei Ministerposten, die SPD und die DDP je einen.

182) Vgl. Wilhelm Groener, Lebenserinnerungen Göttingen 1957, S. 468f

Quelle: Wolfgang Ruge, Deutschland 1917-1933, Berlin 1978, S. 104-109 / TREND Scan