Der Westen
Europas, der aufklärerischen Tradition stärker
verharrt und recht eigentlich Schauplatz der
bürgerlichen Emanzipationswegung sowie ihrer
höchsten Entwicklung, blieb seiner Theorie der
Historie in weit geringerem Maße der
statisch-affirmativen geschichtsphilosophischen
Tradition des deutschsprachigen Raumes
verhaftet. Schon früh beginnen Natur- und
Geisteswissenschaften von beiden Seiten mit dem
Brückenbau, wenn sie nicht gar nur den nie
abgebrochenen Verkehr auf der einen bestehenden
Brücke intensivieren. (1) Von der Erfahrung,
von der empirisch-induktivistischen
Gesetzesbildung her kommt Taine zur Aufhebung
jeglicher Trennung von geistiger und realer
Erfahrung. Soziale Kategorien (Tugend und
Laster) sind ihm ebenso Produkte wie die
Verbindungen der Chemie. Sie haben Ursachen,
diese Ursachen sind einer Analyse zugänglich.
Mit der Erkenntnis vermitteln sie dem
erkennenden Subjekt eine prognostische
Lebenshilfe. Bei Taine wie im übrigen auch bei
Buckle und in Comtes "Gesellschaftsphysik" wird
auf den Dualismus wissenschaftlicher Erkenntnis
verzichtet. Die verbleibende Differenz
reduziert sich auf Varianten der Methodik.
Die Zwecke der
Menschen und ihre Ergebnisse, das menschliche
Verhalten zur Natur und in der Sozialität
erscheinen in der Geschichtsbetrachtung. Das
Allgemeine ist das den Menschen Fruchtbare,
seine methodisch richtige Abstraktion
konstituiert die Berechtigung historischer
Forschung. Freilich verläuft dieser Prozeß der
Forschung vornehmlich unter dem Anspruch, von
den wirklichen Erfahrungen Wie von den
wirklichen Gegenständen auszugehen. Als solche
greift sie noch fast
durchgängig zu psychologisierenden oder
sensualistisch-objektivistischen
Erklärungsschemata, jedoch auch nach
materialistischen für den materiellen und
reellen Lebensprozeß. Es ist eine Erscheinung,
die aus der Logik der zweckhaften
Geschichtsforschung selbst resultiert, daß mit
der Konstatierung von divergierenden
Ergebnissen und divergierender Zwecke diese zum
Gegenstand der Selbstreflektion wird.
Zweckrationale Forschung, die jeweils die
passenden Werte hypostasieren kann. Die
Diskussion der verschiedenen Zwecke aber
erfordert eine Klärung der dem Begriff
wesentlichen Komponenten. Die analytische
Geschichtsbetrachtung muß sich daher der
Interesse-Ziel-Relation versichern, wenn sie
ihren gesetzesmäßigen und damit prognostischen
Charakter nicht aufgeben will.
Zur zentralen
Frage wird daher die Frage nach der
zuverlässigen Erfassung der Variablen
"forschendes Subjekt", d.h. nach der
Objektivität von Aussagen.
Mannheims
"Wissenssoziologie" mit ihrer Formel
"Relationismus, nicht Relativismus" und vor
allem der Beitrag Poppers zur Erkenntnistheorie
und zur Methodologie haben hier den Begriff der
Intersub-jektivität greifbar gemacht, indem sie
die objektivierbare Vergleichbarkeit und
Nachprüfbarkeit aufgrund strenger methodischer
Regeln sicherzustellen suchten.
Poppers strenge
Logik der Forschung etabliert für den
naturwissenschaftlichen Forschungsprozeß eine
notwendige selektive und abstrahierende
Methode. Die Bestimmungen eines Gesetzes werden
dabei zunehmend reduziert, damit aber auch
zunehmend beherrschbar. Poppers Kriterium für
die Richtigkeit von Sätzen ist, daß ein
All-Satz (eine Universalie) nicht durch einen
Es-gibt-Satz, der diesen negiert, aufgehoben
wird. Die empirisch-faßbare Existenz des
negierten All-Satzes bedeutet die
Falsifizierung des All-Satzes. Die All-Sätze,
die mit dem notwendigen Anspruch auf
Reduzierung der Bestimmungen auftreten, sind
entgegengesetzt den spezifischen Sätzen, die
jeweils die konkreten Randbedingungen für die
unversellen Sätze bestimmen. Sie erklären
kausal, aber sie beweisen nicht. Die Erklärung
aber, die Formulierung von Es-gibt-Sätzen ist
gerade das Geschäft der Historie, deren
Interesse dem verifizierenden der
Naturwissenschaften konträr ist. Das Problem
der Selektion von Daten ist in der historischen
Betrachtung vom Interesse des Betrachters
abhängig, in den Naturwissenschaften aber von
der ihnen immanenten Logik. Eine historische
Hypothese mag richtig oder falsch sein, die
Entscheidung darüber ist nicht möglich, da eine
solche Aussage nicht auf All-Sätze reduzierbar
ist. Es kommt somit darauf an, zur relativen
Objektivierung die konkreten Randbedingungen so
gut wie möglich zu erfassen.
Freilich
gebraucht auch der Historiker bei der Erklärung
Universalien. Diese jedoch sind so trivial,
sind Bestandteil der Kommunikation in der
Umgangssprache, daß ihr Gebrauch nicht einem
Interesse zugeordnet werden kann.
Wozu betreibt
nach Popper der Mensch dann Geschichte? Die
Erklärung zieht er aus seinem strikten
Dualismus von Fakt und Dezision, von
Wissenschaft und Philosophie, den sein rigides
Unterscheidungs-kriterium bewirkt. Diese
Trennung ist nicht gleichbedeutend dem
herkömmlichen Gegensatz von Wissenschaft und
Politik, sondern sie versucht gerade, diese in
einem System zu vermitteln. Die Logik der
Forschung, aufgebaut nach streng logischer
Verifizierbarkeit, verlangt nach Popper den
permanenten Falsifizierungsversuch, um die
Wahrheit zu bewahren.
Im Widerspruch
mit diesem "offenen" Prinzip stehen natürlich
alle dezisionistischen Ansätze, die er
historische nennt. Naturwissenschaft und
Gesellschaftswissenschaft sind auf der Suche
nach Regeln für cannot-Aussagen mit dem Sinn,
unser Leben weise einzurichten, nicht aber zu
prognostizieren. Popper hält dies aus dem oben
genannten Grund für unmöglich. Dennoch sind
Sozialwissenschaften unabdingbar. Ihr Geschäft
ist es, die nichtintendierten Folgen der
intendierten Handlungen der Menschen
aufzuspüren und sie zu Anweisungen für die
Praxis des Alltags zu beherzigen. Der Sinn ist
nicht dem Gegenstand immanent, sondern er wird
ihm vom Betrachter aus dessen Interesse heraus
appliziert. Fortschritt bedeutet nicht
wachsende Naturbeherrschung, so sagt Popper -
und dies geht nicht nur gegen Marxisten -
sondern die ständig erneuerte und verbesserte
Kritik der eigenen Reflexion, die Kritik
unserer Irrtümer. Die Kategorien dieser Kritik
entspringen aber, da Popper es nicht anders
explizieren will, einer hypostasierten
Autonomie des Menschen oder einer Willkür, die
ihre eigene Bedingtheit verleugnet. An diesem
Punkt nämlich muß Popper, der sich hier
emphatisch zu den Gedanken der Aufklärung im
Kantschen Sinne bekennt und einen
rationalistischen Glauben an die Möglichkeit
vernünftiger Diskussion festhält - seine Ideale
sind die Friedensidee; der freiheitlich
demokratische Pluralismus, die Selbstbefreiung
durch vermehrtes Wissen, wobei er dies alles in
den Ländern Westeuropas und in den USA optimal
verwirklicht sieht - seine Logik abbrechen und
zum idealistischen Apriori der "an sich edlen
Ideen" zurückfallen.
Auf dem Höhepunkt
der rationalistischen bürgerlichen Aufklärung
wird der höchste und rigoroseste Stand des
Irrationalismus und Empirismus erreicht. Die
radikale Aufklärung wendet sich in ihr
Gegenteil: "Was als Triumph subjektiver
Rationalität erscheint, die Unterwerfung alles
Seienden unter den logischen Formalismus, wird
mit der gehorsamen Unterordnung der Vernunft
unters unmittelbar Vor-findliche erkauft.(2)
Bürgerliche Geschichtswissenschaft kommt hier
zuguterletzt unvermutet auf ihren Begriff.
Es kann jedoch
nicht bestritten werden, daß Poppers
erkenntnistheoretische Logik erheblich dazu
beitragen kann, eine überkommene, unreflektiert
in den Tag hineinlebende Geschichtswissenschaft
des An-archonismus zu überführen. Neben ihrer
philosophischen Krise und zugleich als ihr
Inhalt faßbar erscheint die Ignoranz gegenüber
analytischen Kategorien, die einer
Objektivierung zugänglich sind. So wurde bisher
nichts unternommen, um durch eine
Standardisierung der Methoden einen höheren
Grad von Intersubjektivität zu gewährleisten,
um die Festlegung von Kodifizierungsregeln
zugunsten einer Invarianz der Beobachtung durch
verschiedene Beobachter zu ermöglichen, um eine
Rezeption von Beobachtungsmethoden der Kommuni
-kationswissenschaften einzuleiten.
Gerade das
Letztere erscheint von höchster Bedeutung, da
der qualitative Inhaltsanalytiker - und nichts
anderes ist der Historiker -an dem impliziten
und expliziten Inhalt der zwiefachen
Kommunikationsbeziehung von historischer und
interhistorischer Kommunikation seinen
Untersuchungsgegenstand vorfindet. Anders
ausgedrückt heißt das, daß in der Arbeit des
Historikers Objektebene und die Ebene
gesellschaftlicher bzw. individueller Subjekte
in ihrer Beziehung auf das Objekt verbunden und
explizit thematisiert werden müssen. Freilich
ist das Verhältnis der Ebenen niemals konstant.
So kann es durchaus Fälle geben, in denen die
Objektebene kaum modifiziert werden muß, vor
allem im methodischen Bereich. Dies ist jedoch
die Ausnahme und nicht - wie heute noch - die
Regel. Logische Beweisregeln und
hermeneutisch-analytische Kommunikationstheorie
werden also künftig notwendig in Diskussion
genommen werden müssen, will Historie den Namen
einer Wissenschaft noch verdienen und nicht zu
unverbindlicher Lektüre und bramarbasierender
Fabuliererei verkommen.
Fußnoten
1) Machiavelli,
Vico, Voltaire behaupten neben zahlreichen
anderen Philosophen den Zweckcharakter von
historischer Betrachtung, sie konstruieren die
Geschichte als Anleitung zum Handeln, damit als
einen Ablauf nach Regeln, deren Kenntnis dem
Menschen oder auch dem Herrschenden die
Disponibilität der Zukunft verspricht.
2) Horkheimer/
Adorno, Dialektik, p. 39
Quelle: FRankfurter Organisation
Sozialistischer Historiker,
Geschichtswissenschaft in Studium und Praxis,
erw. Ausgabe, (HG) Peter Körner und Matthias
Heyn, Gießen 1973, S. 118-122 / TREND OCR-Scan |