FROSH
Der Beitrag des Positivismus zur Erkenntnistheorie
Leseauszug aus: Geschichtswissenschaft in Studium und Praxis

01/2019

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Der Westen Europas, der aufklärerischen Tradition stärker verharrt und recht eigentlich Schauplatz der bürgerlichen Emanzipationswegung sowie ihrer höchsten Entwicklung, blieb seiner Theorie der Historie in weit geringerem Maße der statisch-affirmativen geschichtsphilosophischen Tradition des deutschsprachigen Raumes verhaftet. Schon früh beginnen Natur- und Geisteswissenschaften von beiden Seiten mit dem Brückenbau, wenn sie nicht gar nur den nie abgebrochenen Verkehr auf der einen bestehenden Brücke intensivieren. (1) Von der Erfahrung, von der empirisch-induktivistischen Gesetzesbildung her kommt Taine zur Aufhebung jeglicher Trennung von geistiger und realer Erfahrung. Soziale Kategorien (Tugend und Laster) sind ihm ebenso Produkte wie die Verbindungen der Chemie. Sie haben Ursachen, diese Ursachen sind einer Analyse zugänglich. Mit der Erkenntnis vermitteln sie dem erkennenden Subjekt eine prognostische Lebenshilfe. Bei Taine wie im übrigen auch bei Buckle und in Comtes "Gesellschaftsphysik" wird auf den Dualismus wissenschaftlicher Erkenntnis verzichtet. Die verbleibende Differenz reduziert sich auf Varianten der Methodik.

Die Zwecke der Menschen und ihre Ergebnisse, das menschliche Verhalten zur Natur und in der Sozialität erscheinen in der Geschichtsbetrachtung. Das Allgemeine ist das den Menschen Fruchtbare, seine methodisch richtige Abstraktion konstituiert die Berechtigung historischer Forschung. Freilich verläuft dieser Prozeß der Forschung vornehmlich unter dem Anspruch, von den wirklichen Erfahrungen Wie von den wirklichen Gegenständen auszugehen. Als solche greift sie noch fast durchgängig zu psychologisierenden oder sensualistisch-objektivistischen Erklärungsschemata, jedoch auch nach materialistischen für den materiellen und reellen Lebensprozeß. Es ist eine Erscheinung, die aus der Logik der zweckhaften Geschichtsforschung selbst resultiert, daß mit der Konstatierung von divergierenden Ergebnissen und divergierender Zwecke diese zum Gegenstand der Selbstreflektion wird. Zweckrationale Forschung, die jeweils die passenden Werte hypostasieren kann. Die Diskussion der verschiedenen Zwecke aber erfordert eine Klärung der dem Begriff wesentlichen Komponenten. Die analytische Geschichtsbetrachtung muß sich daher der Interesse-Ziel-Relation versichern, wenn sie ihren gesetzesmäßigen und damit prognostischen Charakter nicht aufgeben will.

Zur zentralen Frage wird daher die Frage nach der zuverlässigen Erfassung der Variablen "forschendes Subjekt", d.h. nach der Objektivität von Aussagen.

Mannheims "Wissenssoziologie" mit ihrer Formel "Relationismus, nicht Relativismus" und vor allem der Beitrag Poppers zur Erkenntnistheorie und zur Methodologie haben hier den Begriff der Intersub-jektivität greifbar gemacht, indem sie die objektivierbare Vergleichbarkeit und Nachprüfbarkeit aufgrund strenger methodischer Regeln sicherzustellen suchten.

Poppers strenge Logik der Forschung etabliert für den naturwissenschaftlichen Forschungsprozeß eine notwendige selektive und abstrahierende Methode. Die Bestimmungen eines Gesetzes werden dabei zunehmend reduziert, damit aber auch zunehmend beherrschbar. Poppers Kriterium für die Richtigkeit von Sätzen ist, daß ein All-Satz (eine Universalie) nicht durch einen Es-gibt-Satz, der diesen negiert, aufgehoben wird. Die empirisch-faßbare Existenz des negierten All-Satzes bedeutet die Falsifizierung des All-Satzes. Die All-Sätze, die mit dem notwendigen Anspruch auf Reduzierung der Bestimmungen auftreten, sind entgegengesetzt den spezifischen Sätzen, die jeweils die konkreten Randbedingungen für die unversellen Sätze bestimmen. Sie erklären kausal, aber sie beweisen nicht. Die Erklärung aber, die Formulierung von Es-gibt-Sätzen ist gerade das Geschäft der Historie, deren Interesse dem verifizierenden der Naturwissenschaften konträr ist. Das Problem der Selektion von Daten ist in der historischen Betrachtung vom Interesse des Betrachters abhängig, in den Naturwissenschaften aber von der ihnen immanenten Logik. Eine historische Hypothese mag richtig oder falsch sein, die Entscheidung darüber ist nicht möglich, da eine solche Aussage nicht auf All-Sätze reduzierbar ist. Es kommt somit darauf an, zur relativen Objektivierung die konkreten Randbedingungen so gut wie möglich zu erfassen.

Freilich gebraucht auch der Historiker bei der Erklärung Universalien. Diese jedoch sind so trivial, sind Bestandteil der Kommunikation in der Umgangssprache, daß ihr Gebrauch nicht einem Interesse zugeordnet werden kann.

Wozu betreibt nach Popper der Mensch dann Geschichte? Die Erklärung zieht er aus seinem strikten Dualismus von Fakt und Dezision, von Wissenschaft und Philosophie, den sein rigides Unterscheidungs-kriterium bewirkt. Diese Trennung ist nicht gleichbedeutend dem herkömmlichen Gegensatz von Wissenschaft und Politik, sondern sie versucht gerade, diese in einem System zu vermitteln. Die Logik der Forschung, aufgebaut nach streng logischer Verifizierbarkeit, verlangt nach Popper den permanenten Falsifizierungsversuch, um die Wahrheit zu bewahren.

Im Widerspruch mit diesem "offenen" Prinzip stehen natürlich alle dezisionistischen Ansätze, die er historische nennt. Naturwissenschaft und Gesellschaftswissenschaft sind auf der Suche nach Regeln für cannot-Aussagen mit dem Sinn, unser Leben weise einzurichten, nicht aber zu prognostizieren. Popper hält dies aus dem oben genannten Grund für unmöglich. Dennoch sind Sozialwissenschaften unabdingbar. Ihr Geschäft ist es, die nichtintendierten Folgen der intendierten Handlungen der Menschen aufzuspüren und sie zu Anweisungen für die Praxis des Alltags zu beherzigen. Der Sinn ist nicht dem Gegenstand immanent, sondern er wird ihm vom Betrachter aus dessen Interesse heraus appliziert. Fortschritt bedeutet nicht wachsende Naturbeherrschung, so sagt Popper - und dies geht nicht nur gegen Marxisten - sondern die ständig erneuerte und verbesserte Kritik der eigenen Reflexion, die Kritik unserer Irrtümer. Die Kategorien dieser Kritik entspringen aber, da Popper es nicht anders explizieren will, einer hypostasierten Autonomie des Menschen oder einer Willkür, die ihre eigene Bedingtheit verleugnet. An diesem Punkt nämlich muß Popper, der sich hier emphatisch zu den Gedanken der Aufklärung im Kantschen Sinne bekennt und einen rationalistischen Glauben an die Möglichkeit vernünftiger Diskussion festhält - seine Ideale sind die Friedensidee; der freiheitlich demokratische Pluralismus, die Selbstbefreiung durch vermehrtes Wissen, wobei er dies alles in den Ländern Westeuropas und in den USA optimal verwirklicht sieht - seine Logik abbrechen und zum idealistischen Apriori der "an sich edlen Ideen" zurückfallen.

Auf dem Höhepunkt der rationalistischen bürgerlichen Aufklärung wird der höchste und rigoroseste Stand des Irrationalismus und Empirismus erreicht. Die radikale Aufklärung wendet sich in ihr Gegenteil: "Was als Triumph subjektiver Rationalität erscheint, die Unterwerfung alles Seienden unter den logischen Formalismus, wird mit der gehorsamen Unterordnung der Vernunft unters unmittelbar Vor-findliche erkauft.(2) Bürgerliche Geschichtswissenschaft kommt hier zuguterletzt unvermutet auf ihren Begriff.

Es kann jedoch nicht bestritten werden, daß Poppers erkenntnistheoretische Logik erheblich dazu beitragen kann, eine überkommene, unreflektiert in den Tag hineinlebende Geschichtswissenschaft des An-archonismus zu überführen. Neben ihrer philosophischen Krise und zugleich als ihr Inhalt faßbar erscheint die Ignoranz gegenüber analytischen Kategorien, die einer Objektivierung zugänglich sind. So wurde bisher nichts unternommen, um durch eine Standardisierung der Methoden einen höheren Grad von Intersubjektivität zu gewährleisten, um die Festlegung von Kodifizierungsregeln zugunsten einer Invarianz der Beobachtung durch verschiedene Beobachter zu ermöglichen, um eine Rezeption von Beobachtungsmethoden der Kommuni -kationswissenschaften einzuleiten.

Gerade das Letztere erscheint von höchster Bedeutung, da der qualitative Inhaltsanalytiker - und nichts anderes ist der Historiker -an dem impliziten und expliziten Inhalt der zwiefachen Kommunikationsbeziehung von historischer und interhistorischer Kommunikation seinen Untersuchungsgegenstand vorfindet. Anders ausgedrückt heißt das, daß in der Arbeit des Historikers Objektebene und die Ebene gesellschaftlicher bzw. individueller Subjekte in ihrer Beziehung auf das Objekt verbunden und explizit thematisiert werden müssen. Freilich ist das Verhältnis der Ebenen niemals konstant. So kann es durchaus Fälle geben, in denen die Objektebene kaum modifiziert werden muß, vor allem im methodischen Bereich. Dies ist jedoch die Ausnahme und nicht - wie heute noch - die Regel. Logische Beweisregeln und hermeneutisch-analytische Kommunikationstheorie werden also künftig notwendig in Diskussion genommen werden müssen, will Historie den Namen einer Wissenschaft noch verdienen und nicht zu unverbindlicher Lektüre und bramarbasierender Fabuliererei verkommen.

Fußnoten

1) Machiavelli, Vico, Voltaire behaupten neben zahlreichen anderen Philosophen den Zweckcharakter von historischer Betrachtung, sie konstruieren die Geschichte als Anleitung zum Handeln, damit als einen Ablauf nach Regeln, deren Kenntnis dem Menschen oder auch dem Herrschenden die Disponibilität der Zukunft verspricht.

2) Horkheimer/ Adorno, Dialektik, p. 39

Quelle: FRankfurter Organisation Sozialistischer Historiker, Geschichtswissenschaft in Studium und Praxis, erw. Ausgabe, (HG) Peter Körner und Matthias Heyn, Gießen 1973, S. 118-122 / TREND OCR-Scan