100 JAHRE NOVEMBERREVOLUTION

November 1918 - BASF Ludwigshafen

Erzählung von Wilma Ruth Albrecht

01/2019

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I

Wenzel war in Ludwigshafen zu spät angekommen. Er wusste es nur noch nicht.

Sogleich am 9. November unternahm es die örtliche SPD einen Soldatenrat zu bilden, um die Unabhängigen auszuschließen. Als ein Tag später die Eisenbahner streikten, setzte sich Gustav Kopf als erfahrener SPD-Stadtrat auch an die Spitze des Arbeiter- und Soldatenrates mit dem Ziel, dessen Tätigkeit in stadtparlamentarische Bahnen zu lenken, und sich selbst hauptsächlich um die Lebensmittelkontrolle und -versorgung der Bevölkerung zu kümmern.

„Mensch, guckt ´mal, wer da angeradelt kommt“, rief der schiefbeinige Fritz Bäumler, in dessen Gesicht mit seinen tiefliegenden Augen ein breiter Schnurbart prangte, den vier Arbeitern im Blaumann mit der Aufschrift „Arbeiterordnungsdienst“ auf der Binde am rechten Oberarm zu, die das Werktor Nummer 13 des Oppauer Werkes der Anilin bewachten. Sie trugen alle ein Gewehr, dessen Lauf sich über den Rücken spannte, während sich über der Brust sein Lederriemen mit dem der Patronenboxen kreuzte, auf dem Kopf eine Schirmmütze und an den Beinen hohe Soldatenstiefel.

„Das ist ja der Wenzel, unser Genosse Wenzel!“ stellte Ernst Florenz , ein junger Mann mit offenem, wegen seines fein geschwungenen Mundes leicht arrogant wirkenden Gesichtsausdruckes, fest, als der so bezeichnete vor ihm stoppte und vom Fahrrad sprang. „Das wird aber Zeit, dass Du Dich auch endlich einmal blicken lässt“, fügte er grinsend hinzu, „lässt uns die ganze Betriebsbesetzung alleine machen, dazu mit dem reaktionären Pack herumschlagen...“

„Ja, ich hab´s schon gehört, der Schäft ist wie vom Erdboden verschwunden und der Arbeiterrat sitzt nicht nur in seinem Direktorenzimmer sondern hat die ganze Chefetage in Beschlag genommen.“ Mit einem „Gut gemacht!“ schlug er anerkennend in die Hände der Fünf. „Aber es wird doch noch produziert?“ fragte er sogleich besorgt. „Was meinst Du denn? Wir sind doch Arbeiter; auch ein sozialisierter Betrieb muss produzieren, allerdings jetzt nicht mehr unter dieser Hatz und auch mit anderem Ton“, erklärte Fritz Bäumler stolz.

„Schön Genossen, dann passt ´mal weiter gut auf, dass niemand unser Betriebseigentum klaut und lasst keinen Unbekannten ins Werk. Ich gehe zum Arbeiterrat hinauf, um zu fragen, ob die mich gebrauchen können.“ Damit bestieg er sein Fahrrad und fuhr auf ein zweistöckiges, rotbraunes Backsteingebäude zu, über dessen Eingangstür ein rotes Transparent mit der Aufschrift „Arbeiterverwaltungsrat“ gehängt war.

Als Wenzel in das Vorzimmer des ehemaligen Direktors eintrat, das ihm aus manchen unangenehmen Besuchen vorausgegangener Jahre bekannt war, glaubte er seinen Augen nicht zu trauen. Mehrere Schreibtische waren hinzugekommen, auf dem einen stand eine kleine Druckmaschine, die mit Handkurbel bedient werden musste, auf dem anderen lagen Stapel von Zeitungen, örtliche wie „General-Anzeiger“, „Pfälzische Rundschau“ und „Pfälzer Post“, aber auch der „Vorwärts“ und sogar die „Rote Fahne“, auf einem dritten lagen Ordner aufgeklappt herum, an einem weiteren klapperte eine Sekretärin in eine Schreibmaschine und am Telefontisch versuchte eine junge Frau Telefonverbindungen zu stöpseln; es wurde geraucht und durcheinander geredet.

Im gleichen Augenblick öffnete sich die Tür zum Direktorenzimmer und Gustav Kopf, nicht nur SPD-Stadtrat sondern auch der örtliche Sekretär des Fabrikarbeiterverbandes, Wenzel persönlich bekannt aber nicht eng verbunden, zeigte sich und fragte die junge Frau: „Was ist jetzt Else, hast Du endlich die Verbindung nach Berlin hergestellt?“ Als er Wenzel erblickte, meinte er nur: „Ach, der Wenzel ist auch wieder da. Wie bist Du denn hier hereingekommen? Du gehörst doch nicht mehr zur Fabrik. Bist Du nicht letzten Januar entlassen worden?“

Als Wenzel merkte, dass diese Äußerung überhaupt nicht ironisch freundlich sondern bitter ernst gemeint war, stieß er grob Gustav in das Direktorenzimmer, in dem sich noch zwei weitere ihm bekannte Personen befanden: ein Betriebsobmann, der sich erst kürzlich der USPD angeschlossen hatte - was Wenzel nicht wissen konnte - , und einer, der dem SPD-Ortsverband angehörte. Alle Männer trugen dunkle, wenn auch etwas verschlissene Anzüge und hatten sich helle Krawattenschals umgebunden.

„Aha, ihr also bildet den sozialistischen Arbeiterrat“, stellte Wenzel fest. „Was macht ihr hier denn so?“

„Das musst doch Du Dich fragen lassen, Wenzel!“ polterte Kopf zurück.“ Worauf dieser schroff in den Raum fragte: „Seid Ihr überhaupt gewählt?“ „Wir sind als alte Gewerkschaftler und Sozialdemokraten die Vertreter der Arbeiterschaft, auch die des Teilbetriebes Oppau. Seitdem Direktor Schäft verschwunden ist, halten wir hier die Ordnung aufrecht und sehen zu, dass alles seinen richtigen Lauf nimmt, wie es sich gehört. Dazu können wir Dich nun gar nicht gebrauchen“, erklärte der Sozialdemokrat Karl Angler beflissen und Kopf ergänzte: „Außerdem arbeitest Du nicht mehr im Betrieb, hast also überhaupt nichts zu melden“.

„Oh, das lässt sich leicht ändern. Als erstes rückst Du“, er nickte dem Obmann zu, „´mal die Einstellungspapiere dort aus dem Rollschrank heraus!“ „Jetzt zu Dir, Kopf!“ Er schob ihn mit kräftigen Griff zum Chefsessel, schlug unerwartet mit flacher Hand in dessen Kniekehlen, so dass dieser in den Sessel plumpste. „Du, Kopf, füllst jetzt meine Papiere aus und zwar genau so, wie ich´s Dir diktiere!“ wies er ihn an.

Die Drei widersetzten sich nicht. Vielmehr dachte jeder auf seine Weise: ´Der kommt von der Front, weiß man, wie brutal der sonst noch wird? Vielleicht zieht er gleich noch eine Pistole und ballert hier herum?´

Fünf Minuten später gab es wieder den BASF-Mitarbeiter Max Wenzel, geboren 1891 in Frankenthal, unverheiratet, von Beruf Werkzeugmacher, wohnhaft in Ludwigshafen-Friesenheim, eingestellt am 10. November 1918, dreifach dokumentiert und unterschrieben sowie mit dem offiziellen Stempel versehen.

„Das war nur der erste Schritt“, erklärte Max Wenzel bestimmt. „Jetzt, da ich wieder Betriebsmitglied bin, verlange ich, dass noch diese Woche eine Teilbetriebsversammlung einberufen wird, um einen richtigen Arbeiterrat zu wählen. Denn gewählt hat man Euch bestimmt nicht oder etwa doch?“ fragte er in die Runde.

„Was erlaubst Du Dir, uns so herum zu kommandieren“, empörte sich Kopf lautstark, „wir sind seit Jahren die legitimierten Interessenvertreter der arbeitenden Bevölkerung hier vor Ort, sei es als Gewerkschafter oder Sozialisten. Ich persönlich habe seit 10 Jahren den Fabrikarbeiterverband aufgebaut, genau wie Karl Tausende organisiert und dafür gesorgt, dass die Gelben bei den Arbeiterausschüssen nichts zu sagen haben. Wir haben für unsere Überzeugung gelitten und sogar im Gefängnis gesessen. Jetzt kommt so ein junger Schnösel wie Du, der kaum trocken hinter den Ohren ist, und will uns erklären, was Arbeiterpolitik ist. Das wird ja immer schöner. Wir lassen uns das Erreichte nicht kaputt machen. Wir wollen kein bolschewistisches Chaos wie im rückständigen Russland, wir wollen auch keine kommunistische Anarchie. Wir sorgen für Ruhe, Ordnung und Disziplin und dafür, dass die revolutionären Veränderungen in demokratische Bahnen gelenkt werden.

„Halt´s Maul, Kopf. Ihr habt doch die Arbeiter in den Vaterländischen Hilfsdienst gepresst, habt geholfen, dass ihre Arbeitskraft ordentlich ausgequetscht wird und dass in den Fabriken Friedhofsruhe herrscht, damit diszipliniert Völker auf einander losgehetzt werden und auf den Schlachtfeldern elend und qualvoll verrecken – nur um die Profite steigern und hoch halten zu können! Das war doch Eure Ordnung und Disziplin, Du daheimgebliebener Hosenscheißer und Sesselfurzer...“

Max redete sich so in Rage, dass er gar nicht bemerkte, wie ungerecht diese Beschimpfung den Obmann der USPD traf. Erst als er dessen bestürztes Gesicht sah, nickte er ihm zu mit den Worten: „Du, Genosse, bist damit natürlich nicht gemeint“, denn er brauchte mindestens noch einen Verbündeten für seine weiteren Pläne.

„So, und nun an die Arbeit!“ bestimmte er wie selbstverständlich dem Gremium angehörend. „Noch diese Woche wird eine Betriebsversammlung einberufen, damit ein richtiger Arbeiterrat gewählt wird, demokratisch gewählt von unten und nicht von oben selbstherrlich von bezahlten Funktionären eingesetzt. Du hältst es doch so mit der Demokratie, Genosse Kopf! Nicht wahr?“ Der knurrte etwas Unverständliches vor sich hin. „So und nun unsere Forderungen: Sozialisierung des Betriebes, Absetzung der Betriebsdirektoren, Einführung des Achtstundentages, halbstündige Mittagspause und Halbtagsarbeit am Samstag mit Monatsbeginn, Verlängerung der Urlaubstage auf siebzehn Arbeitstage, Wahl der Meister...“

Zum Schluss drohte er noch ironisch: „Ihr werdet mich erst los, wenn ich den Aufruf gedruckt in Packen vor mir liegen sehe und einige mitnehmen kann. Wenn es auch noch Stunden dauert, ja, vor mir aus die ganze Nacht d´raufgeht.“

Nach einigem Nachfragen stimmte der Obmann dem Vorschlag von Wenzel zu, so dass auch die beiden anderen sich gezwungen sahen, klein beizugeben.

Tatsächlich verließ Max Wenzel wenige Minuten nach neunzehn Uhr nicht gerade euphorisch aber doch sichtlich zufrieden das Direktionsgebäude mit drei Packen Flugblätter und stapelte sie auf seinen Gepäckträger, um den Aufruf zumindest schon einem Teil der Belegschaft, der Spätschicht, bekannt zu machen.

II

Etwa zur gleichen Zeit ging in der örtlichen MSPD-Zentrale ein Anruf aus Berlin ein, in dem mitgeteilt wurde, dass sich die im Zirkus Busch am gleichen Tags abgehaltene Vollversammlung der Berliner Arbeiter- und Soldatenräte mehrheitlich auf die Seite der politischen Vorstellungen der SPD geschlagen hatte.

„Hört gut zu, Genossen“, vermeldete unter zischenden und sirrenden Nebengeräuschen eine hohe Stimme. „Wir haben die Macht im Reich. Eine sozialistische Regierung, genannt ´Rat der Volksbeauftragten´ wurde gebildet und paritätisch mit drei MSPD – Mitgliedern, unserem Ebert, Scheidemann, Barth, und drei USPD - Mitgliedern, Haase, Landsberg, Dittmann, besetzt. Unser großes Ziel, das gleiche, allgemeine, geheime, direkte Wahlrecht für alle mindestens 20 Jahre alten Männer und Frauen ist erreicht. Heute Abend noch wird der Aufruf des Rates der Volksbeauftragten „An das deutsche Volk“ gedruckt. Jetzt gilt es strengste Parteidisziplin zu zeigen und keine Sonderwege zu betreten.“

Damit hatten die beiden sozialdemokratischen Parteien, obgleich die USPD von den revolutionären Obleuten, die die Räterepublik forderten, beeinflusst war, den Weg zum bürgerlichen Parlamentarismus geebnet.

Was Max Wenzel auch nicht wusste, nicht einmal ahnte, war, dass am gleichen Tag, an dem die Betriebsversammlung der Oppauer Beschäftigen stattfinden sollte, auch eine Gesamtbelegschaftsversammlung aller Werke einberufen werden würde. Darauf hatte sich die BASF-Direktion mit den örtlichen Industriearbeiterverband geeinigt, nachdem zuvor die Chefs freiwillige Zugeständnisse gegenüber den Gewerkschaftsforderungen eingeräumt hatten, nämlich die „gelben“ Gewerkschaften aufzulösen, gewählte Arbeiterausschüsse zuzulassen und den 8-Stundentag bei vollem Lohnausgleich ab Monatsende zu gewähren. Diese Errungenschaften sollten auf der Gesamtbelegschaftsversammlung am 13. November und damit zwei Tage bevor sie verallgemeinernd im Stinnes-Legien-Abkommen getroffen wurden, verkündet werden.

Als Wenzel und seine Genossen von diesen Intrigen Wochen später erfuhren, war es ihnen auch kein Trost, dass die Arbeiter des Oppauer Teilwerkes ihn mit haushohem Stimmenanteil und andere USPD- und KPD-Mitglieder zu ihren Obmännern wählten, zudem gleichzeitig der alte verhasste Direktor Schäft wieder seinen Chefsessel einnehmen sollte und das Obmannsgremium zu einem Interessenvertretungsorgan der Arbeiter degradiert wurde.

Editorischer Hinweis

Dies ist ein Auszug aus dem ersten, 2016 erschienenen, Roman ÜBER LEBEN. Roman des kurzen Jahrhunderts. Dort verarbeitet die Autorin wirkliche Ereignisse aus der Novemberrevolution in der industriealisierten Provinz in Ludwigshafen (damals bayrische Pfalz). Ohne die breite Verankerung revolutionärer Forderungen in der Arbeiterschaft – auch und gerade im Land – sind Geschehnisse in der Hauptstadt Berlin nicht zu verstehen.

Die Autorin stellte TREND den Leseauszug ausschließlich für diese Ausgabe zur Verfügung.

Wilma Ruth Albrecht ist Sprach- und Sozialwissenschaftlerin (Dr.rer.soc., Lic.rer.reg.). Sie lebt als Autorin in Bad Münstereifel und veröffentlichte unter anderem die Bücher Harry Heine (Shaker Verlag 2007), Nachkriegsgeschichte(n) (Shaker Verlag 2008), Max Slevogt 1868-1932 (Hintergrund Verlag 2014), PFALZ & PFÄLZER. LeseBuch Pfälzer Volksaufstand 1849 (Verlag freiheitsbaum 2014) und zuletzt ihre Quadrologie ÜBER LEBEN. Roman des Kurzen Jahrhunderts (Verlag freiheitsbaum: Edition Spinoza 2016-2019). - Korrespondenzadresse dr.w.ruth.albrecht@gmx.net