ES WAGEN …
Buchbesprechung: Peter Mertens, Wie können sie es wagen?

von
Wilma Ruth Albrecht

 

01/2019

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onlinezeitung

Ja, es gibt sie noch – die westeuropäischen Kommunisten. Und ja – sie treten wieder offen, selbstbewusst und solidarisch auf: wie die Partei der Arbeit Belgiens (ptb-pvda), die Neue Kommunistische Partei der Niederlande (NCPN), die Kommunistische Partei Luxemburgs (KPL) und die Deutsche Kommunistische Partei (DKP) in ihrer gemeinsamen Demonstration GEGEN DIE IMPERIALISTISCHEN KRIEGE am Samstag, dem 15. Februar in Aachen (Aken; Aix-la-Chapelle; Aquisgrana; Aquisgrán).[1]

Und mehr noch – ja, sie wagen es sogar wie Peter Mertens (*1969), Vorsitzender der Partei der Arbeit Belgiens, Debatten um Sozialismus als alternatives Gesellschaftsmodell zum globalen Kapitalismus anzuregen: 2011 erschien sein flämisches Buch “Hoe durven ze?” Es liegt nun auch auf Deutsch vor:

Peter Mertens, Wie können sie es wagen? Der Euro, die Krise und der große Raubzug. Mainz: Verlag André Thiele, 2013, 411 S. - Dt. Sabine Carolin Richter; ISBN 978-3-95518- 003-4; € 19.90 (D), € 20.40 (A), Stutz 24.00 (CH, ohne Preisbindung)

Der Autor beschreibt die gegenwärtige soziale Lage in Belgien (Teil 1: Belgien 9-70),
analysiert die Europapolitik (Teil 2: Europa im Morast 71-222), setzt sich mit politischen Ideologien von gestern und heute auseinander (Teil 3: Ideologien eines vergangenen Jahrhunderts 223-262), untersucht das Wiedererstarkens des Nationalismus und seine Gründe (Teil 4: Die Krise und die Rückkehr des Nationalismus 263-300) und ermutigt zu Debatten um ein sozialistisches Gesellschaftsmodell (Teil 5: Nicht weniger, sondern mehr Gesellschaftsdebatten 301-395). Dabei spricht Mertens seine Leser persönlich an, berichtet von eigenen Erfahrungen, skandalisiert anhand von Fakten das obszöne soziale Gefälle und
polemisiert gegen politische Konkurrenten. Er spricht verständlich, klar und stark.
So referiert Mertens im ersten Teil Ergebnisse der Forschungsabteilung der PdA-Belgiens, wonach fünfzig Großunternehmen in Belgien “im Durchschnitt statt des gesetzlichen Steuersatzes in Höhe von 33,99% bloß Steuern in Höhe von 1,04% entrichten”(12), darunter Exxon Mobil, Solvay, Telnet Communication Arcelor Mittals, Janssen Pharmuceutica NV und Electrabel. Diese realen Ministeuern stehen in einem absurden Verhältnis zu den Unternehmensgewinnen in Belgien, die “zwischen 2000 und 2009 von 47 auf 82 Milliarden Euro angewachsen waren” (18f.); von diesen Milliarden seien ein Drittel zusätzlich investiert, ein weiteres Drittel den Aktionären zugeflossen und das letzte Drittel “gehortet” worden.

Das Phänomen von Gewinnexplosionen industrieller Großunternehmen sei jedoch nicht auf Belgien begrenzt, sondern kennzeichne auch die Situation in den USA, die das USDepartment of Commerce / Bureau of Economic Analysis bekannt gab: demnach erhöhten sich die Unternehmensgewinne von 20 Milliarden US-Dollar 1947 auf 140 Milliarden 1979, sodann auf 570 Milliarden 1997 und auf 1.300 Milliarden 2007. Nach dem Gewinneinbruch im Zusammenhang mit der Bankenkrise stiegen sie 2011 erneut auf 1.470 Milliarden USDollar an. Mertens konstatiert: “Würde wie vor den 1980er Jahren eine Körperschaftssteuer auf Rekordgewinne erhoben, so wäre das Problem der Staatsverschuldung mehr oder weniger gelöst.”(20) Stattdessen wurden die Rekordgewinne privat vereinnahmt, so dass die Anzahl
der Millionäre weltweit stieg.

In Belgien gelten 88.000 Familien als €-Millionäre, das seien etwa zwei Prozent der
Bevölkerung. Diese sollten mit einer Millionärssteuer bedacht werden, und zwar mit 1% auf Vermögen ab eine Million Euro, 2% auf Vermögen ab zwei Millionen Euro und 3% auf Vermögen ab drei Millionen Euro. Diese Millionärssteuer sollte dem Staat jährlich 8,7 Milliarden Euro einbringen. Davon könnten drei Milliarden zur Schaffung neuer öffentlicher Arbeitsplätze verwendet werden; ein weiterer Teil sollte für Sozialeinrichtungen und vor allem für eine nachhaltige alternative Finanzierung der sozialen Sicherheit verwandt werden. Die Millionärssteuer sei neben einer effektiveren Vorgehensweise gegen Steuerhinterziehung und der Aufstockung der Unternehmerbeiträge für Sozialabgaben Baustein eines langfristigen Konzepts zur Umverteilung des künftigen Nationaleinkommens. Außerdem sei die Schaffung
eines öffentlichen Bankensektors erforderlich und nicht die Unterstützung von “Bad Banks” wie der Dexia, für die der belgische Staat eine Bürgschaft von 54 Milliarden Euro übernommen hat.

In Teil 2 kritisiert Mertens das “Modell Deutschland” mit Blick auf die EU, insbesondere das Niedriglohnland Deutschland. Nach der Wiedervereinigung Deutschlands gingen nicht nur sechs Millionen Arbeitsplätze im Osten Deutschlands (Beitrittsgebiet) verloren; das Gebiet der ehemaligen DDR wurde auch zum “Testgelände für Lohndumping, die Verringerung sozialer Errungenschaften, die Umschiffung tarifvertraglicher Regelungen und die Erprobung neuer Sozialverhältnisse” (73f.); dies waren und sind Maßnahmen, die rasch auch auf
Westdeutschland (Altbundesrepublik) übertragen wurden.

Als Vorreiter wirkte der teilstaatliche VW-Konzern und dessen Personaldirektor Prof.h.c. Dr.h.c. Peter Hartz mit dem Modell Arbeitszeitverkürzungen mit Lohnverzicht. Hartz leitete unter der rot-grünen Schröder-Fischer-Bundesregierung auch die Kommission zur Reform des Arbeitmarktes, die als “Agenda 2010” in den Jahren 2003 bis 2005 harschen Sozialabbau einleitete, Minijobs einführte, mit “Hartz IV“ die Arbeitslosenversicherung amputierte und mit neuem Arbeitslosengeld (ALG II) “ein raffiniert ausgeklügeltes System moderner Zwangsarbeit” (81) einführte. Während des zweiten Bundeskabinetts Schröder-Fischer 2002-
2005 wurden nicht nur die Lohnstückkosten faktisch eingefroren, Dumpinglöhne
institutionalisiert und Armut (in Gestalt von 2,63 Millionen Menschen, darunter 1,4 Millionen Erwerbstätige) geschaffen, sondern durch Senkung der Körperschaftssteuer von 45% auf 25% Besserverdienende begünstigt und die €- Millionäre auf 862.000 hochgebracht: “Mittels aggressiver Lohnpolitik und niedriger Zinsen eroberten deutsche Unternehmen Marktanteile auf Kosten anderer europäischer Länder und anderer europäischer Industrien sowie auf Kosten vieler dortiger Arbeitsplätze.” (89)

Die “rotgrüne” aggressive Wirtschafts- und Sozialpolitik nach innen und außen stellt nicht nur das Vorbild für andere EU-Staaten dar, sondern bildet auch die Grundlage für Deutschlands hegemoniale Außenpolitik. Das zeigt - so Mertens - besonders das hellenische Beispiel: “Griechenland wurde strukturell instabil, da sich der produzierte Reichtum im Laufe der Jahre zunehmend bei der Elite sammelte und sich die Kaufkraft der Bevölkerung so verminderte. Hinzu kam, dass ein großer Teil des Volkseinkommens für Konsumgüter aus dem Ausland verwendet wurde. Europas südliche Achse diente den Exportwirtschaftsländern, allen voran Deutschland, als Absatzmarkt. Dafür erhielt sie wohlwollende Darlehn, nicht zuletzt von … deutschen Banken.” (111)

Dass Griechenland die Stabilitätskriterien des Euro nicht erfüllte, war unter Bankern wie JP Morgan und Goldman Sachs, die mithalfen, griechische Schulden und Haushaltsmittel zu verschleiern, beim Beitritt Griechenlands in die Eurozone 2001 bekannt. Und dass Griechenland (wie Spanien und Portugal) mit Milliarden umfassenden Hilfen gestützt wird, hängt mit seiner immer noch zentralen Rolle in der NATO-Strategie “zur Schaffung neuer, im Sinne Washingtons ausgerichteter Machtverhältnisse im Nahen Osten” (104) zusammen. Deshalb wurden in der Krise 2009 7,9 Milliarden Euro für französisches und deutsches Kriegsgerät bereit gestellt, wurden und werden weder Reedereien noch orthodoxe Kirche besteuert, Kapitalflucht in Milliardenhöhe, politische Vetternwirtschaft und Korruption geduldet. Und in diesem ganzen System spielten und spielen wieder Sozialdemokraten, namentlich die Pasok-Partei, eine wesentliche Rolle, die Lasten der Krise der arbeitenden Bevölkerung über Lohnsenkung, Arbeitslosigkeit und Steuererhöhung aufzulasten. Gleichzeitig werden Haushalts- und Schuldenkrise des Staates genutzt, um in Griechenland öffentliches Eigentum wie etwa Häfen, Telefongesellschaften, Wasser- und Gasversorgung zu privatisieren. Hinzu kommen Rettungsaktionen von Europäischer Zentralbank (EZB) und Europäische Finanzstabilisierungsfazilität (EFSF), um mit Steuernmittel wertlose Staatspapiere im Besitz der Banken, wie der Deutschen Bank, aufzukaufen. Zu guter Letzt verlieren Staaten wie Griechenland, Lettland, Irland, Portugal ihre Souveränität, in dem sie unter Kurantel von Europäischer Kommission und Internationaler Währungsfond gestellt werden. Zusammenfassend betont Mertens:

“Hinter der gegenwärtigen Entwicklung verbirgt sich nichts anderes als eine gewaltige Attacke der Welt des Kapitals auf die Welt der Arbeit. Sobald sich der Staub gelegt hat, wird deutlich erkennbar sein, dass diverse Kapitalgruppen mächtiger als jemals zuvor dastehen und die breite Massen der Menschen ruiniert ist.” (156)

Dass es überhaupt zu dieser Situation in Europa kommen konnte, hängt mit der Gestaltung der Europäischen Gemeinschaft (EG) und der Europäischen Union (EU) als kapitalistisches Europa des Wettbewerbs und der Ungleichheiten zusammen: Anfang der 1980er Jahre suchten die 253 europäischen multinationalen Unternehmen nach Formen, um sich dem Konkurrenzkampf mit den USA und Japan zu stellen. Es ging um einen europäischen Binnenmarkt mit freiem Waren-, Dienstleistungs-, Kapital- und Arbeitskräfteverkehrs (1992) sowie einer einheitlichen Währung (2002). Angesichts nachhaltig unegaler nationaler Volkswirtschaften, besonders dem Gefälle südeuropäischer EU-Mitgliedsstaaten im Vergleich mit mitteleuropäischen, wurden sogenannte Konvergenzkriterien aufgestellt, die sich auf staatliche Verschuldung und Inflationsrate bezogen, jedoch nicht auf unterschiedliche Unternehmensstärken und Wirtschaftszeigen. Staatliche nationale Beihilfen in Milliardenhöhe an multinationale Unternehmen in Deutschland, Frankreich, Italien und Großbritannien wirkten zusätzlich wettbewerbsverzerrend. Folglich mussten im Konkurrenzkampf der Unternehmen im freien Binnenmarkt die Länder des EG Südens unterliegen mit der Folge von Exporteinbrüchen und Handelsbilanzdefiziten. Da diesen Staaten der Wechselkursmechanismus nicht mehr zur Verfügung stand und sie zusätzlich durch die Osterweiterung der EU unter Konkurrenzdruck bei Löhnen und Sozialgesetzen standen, konnten sie lediglich auf ihre Staatshaushalte zur Politikgestaltung zurückgreifen. Durch die gemeinsame €-Währung wurde die Darlehnsaufnahme für Staaten mit großen ökonomischen Disparitäten zu den industriellen Kernländern der EU erleichtert mit der Folge, dass diese Staaten sich nachhaltig verschuldeten und eine Immobilienblase entwickelten, die sowohl zur
Eurokrise als auch zu neuen und erheblichen sozialen Verwerfungen und weiterer Vertiefung des Arm-Reich-Gefälles führten.

Gegenwärtig setzt der wirtschaftliche, politische und ideologische EU-Machtblock als
Lösungsweg aus der Krise darauf, die EU-Institutionen autoritär auszurichten; andere Kräfte wollen die Rückkehr zum Nationalstaat als Ausweg. Mit dem Europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakt und dem Euro-plus-Pakt von 2011 scheint sich erst einmal das EUEstablishment durchgesetzt zu haben mit dem Ziel, “fast das gesamte politische Spektrum sozialökonomischer Entscheidungen der nationalen Ebene in die Hand einer nicht gewählter technokratischer Europäischen Kommission” (222), die auch als Ratingagentur fungiert, zu legen. Andererseits formiert sich, wie in Teil 4 dargestellt, ein neuer Nationalismus lautstark in Deutschland, Österreich und den Niederlanden, “also in Staaten, die auf Kosten
importierender Länder vom starken Euro und der Währungsunion profitiert haben.” (264); hinzu kommen auch die Neue Flämische Allianz in Nordbelgien und der Ungarische Bürgerbund Fidesz. Sie benutzen ethnische, soziale und sprachliche Divergenzen in den jeweiligen Ländern, um soziale Errungenschaften abzubauen und separatistische Ziele zu
propagieren.

Im 5. Buchteil ermutigt Mertens zu mehr Gesellschaftsdebatten und stellt die Systemfrage. Zunächst betont der Autor, dass die kapitalistische Realwirtschaft mit ihrer Überproduktion von Gütern und Dienstleistungen die Finanzkrise ursächlich hervorgerufen hat. Dies setzte 1973, spätestens 1979, ein. Anstatt die Kaufkraft der arbeitenden Bevölkerung zu heben, wurden in den USA unter Reagan und im Vereinigten Königreich unter Thatcher – Stichworte Reaganomics und Thatcherismus – zwanzig Jahre lang “das Wachstum künstlich hochgehalten” und zwar durch Steuerreformen, Deregulierungen und niedrige Zinsen, die unseriöse Finanzprodukte, billige Kredite (Luftkredite) und kostenlose Hypotheken ermöglichten. Für die USA bedeutete das eine explosionsartige Ausweitung der finanziellen Einrichtungen von 5% der gesamtwirtschaftlichen Gewinne (1982) auf 41% (2008): “Ganz Amerika - Staat, Unternehmen, Einzelpersonen - lebt auf Kredit …Über Jahre hinweg wurden
in Amerika tagtäglich zwei Milliarden Dollar mehr konsumiert als produziert.” (307)
2009 schlug die weltweite Überproduktionskrise empirisch durch: der Welthandel schrumpfte um 20%. Entlassungen, Unternehmensschließungen, Fusionen, Lohneinbrüche, Flexibilisierung prägten den produktiven Sektor: ”In Europa vernichtete die Rezession 8 Millionen Arbeitsplätze, davon 4 Millionen in der Industrie und 2,5 Millionen im Bauwesen.” (310) Gewinneinbrüche folgten. Unternehmen reagierten mit dem Konzept “lean and mean” - schlank und skrupellos. Das Management richtete die Unternehmenspolitik nach einer vorab kalkulierten Gewinnabschöpfung aus, damit auf jährliche Einsparungen durch Schließung ganzer Abteilungen oder Auslagerungen von Produktionsbereichen auf Subunternehmen. Dies führte tatsächlich wieder zu massiven Gewinnen, die jedoch nicht produktiv investiert, sondern “gehortet” wurden.

Um die Weltwirtschaft aus der Krise zu retten, wurde auf dem G20-Gipfel 2009 in London 5.000 Milliarden Dollar für Finanzhilfen, Bankengarantien und industrielle Förderprogramme auf Kosten der Erhöhung der Staatenverschuldung bereit gestellt, so dass sich beispielsweise der Schuldenstand Japans auf 450% des Bruttosozialprodukts, der Großbritanniens auf 380 % und der Niederlande auf 350% erhöhte.

Dieses “ganze System des Schwindels und Betrugs”[2] zugunsten millionen- und
milliardenschweren Reichen geht mit Individualisierung, gesellschaftlicher Nihilisierung, Entgesellschaftlichung, Entdemokatisierung und autoritärem Staat einher; es fördert Korruption, Emtmenschlichung, soziale Ungleichheiten, Rassismus, Krieg und Bürgerkriege. Mertens sieht den Kapitalismus weltweit abgewirtschaftet: er kaufe sich nur noch Zeit. Es bedarf deshalb eines neuen Gesellschaftsmodells: “Sozialismus 2.0 - nach Maß von Mensch und Natur”: “Sozialismus 2.0 muss auf Menschenmaß zugeschnitten sein. Darauf, dass Dinge, die wirklich zählen, auch garantiert sind. Angemessene Arbeitsplätze, zum Beispiel, und Freizeit, um sich zu entspannen und fortzubilden. Ein gutes Gesundheitswesen. Eine vielseitige Ausbildung, die stimuliert statt zu selektieren. Ein würdiger Ruhestand für gesunde
Altersjahre. Ein ordentliches und bezahlbares Dach über dem Kopf. Eine sichere Umgebung. Banken, die Spareinlagen anständig verwalten. Mitsprache im näheren Umfeld und auch bei gesamtgesellschaftlichen Prioritäten. Eine Justiz, die jeden einzelnen schützt. Gleiche Rechte und Möglichkeiten für Männer und Frauen. Freie Meinungsäußerung, Pressefreiheit, Versammlungs- und Beratungsfreiheit. Und auch Freiheit des Gewissens, bewirkt durch effektive Trennung von Kirche und Staat. Und schließlich und endlich: eine Wirtschaft in Harmonie mit der Natur, die den Planeten nicht vollständig ausbeutet, sondern seine natürliche Befähigung zur Regeneration respektiert und gestattet.” (358) Auf den abschließenden Buchseiten konkretisiert der Autor Vorschläge, um die vorgenannten Ziele umzusetzen.

Was Mertens über den Euro und die kapitalistische (Finanz-) Krise ausführt, wurde auch schon von links bis rechts kritisiert.[3] Was ihn allerdings unterscheidet ist, dass er marxistisch ausgeht von der Überproduktionskrise des Kapitalismus, die durch staatliches Handeln - direkte staatliche Eingriffe, Gesetze und Haushaltspolitik zugunsten von Unternehmen und Wirtschaftszweigen - sowohl künstlich überdeckt als auch verlängert und vertieft wird. Und an dieser Stelle wirkte bei mir dieser déja-vue-Effekt: War nicht schon in den frühen 1980er Jahren bekannt, dass mit der Aufhebung der Dollarkonvertibilität in Gold, des freien Floatens der Währungen und dem Zusammenbruch des Bretton-Wood-Systems sich der Finanzsektor vom realen Wertschöpfungsprozess abgekoppelt hat und sich sogenannte “Xenofinanzmärkte” (Wilhelm Hankel) aufblähten?[4]

Wurde nicht schon damals erkannt, dass die Politik des deficit spending zur
Staatsverschuldung führte, die wiederum die “finanzkapitalistisch parasitäre Formen der Profitaneignung durch finanzielle Transaktionen und monopolistische Preispolitik”[5] ermöglicht? Gab es Mitte der 1980er Jahre nicht auch ein grünes antikapitalistisches Umbauprogramm[6] und Ende dieses Jahrzehnts nicht auch gewerkschaftliche Forderungen zum EG-Binnenmarkt?[7] Weiter gefragt werden könnte auch: was bedeutet diese Variante des Verlusts politikhistorischen Bewußtseins – gilt sie als unwiederbringlich? Und auch was ich vor einem Vierteljahrhundert befürchtete, traf zu: wenn es nicht gelingt, eine “eigene alternative EG-weite Infrastruktur” und eine “eigene positive EuropaKonzeption” durch politische Linkskräfte zu entwickeln, dann werden sich “die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse zugunsten der Großunternehmen und ihrer politischgesellschaftlichen Träger weiter verbessern”, während “sich die Ausgangsbedingungen für Abwehrkämpfe und Alternativpolitik weiter verschlechtern.”[8]

Anmerkungen

[1] http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=20044&css=print [090314] ; zur Bedeutung Richard Albrecht, http://duckhome.de/tb/archives/11864-WAS-TUN-POSTLENINISTISCHE-UEBERLEGUNGEN.html [210214].
[2] Karl Marx, Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Dritter Band. Hg. Friedrich Engels [1894]. MarxEngels-Werke, Band 25. Berlin: Dietz, ²1968, hier S. 454.
[3] Etwa Sahra Wagenknecht, Freiheit statt Kapitalismus. Frankfurt: Eichborn, 2011; kritisch Wilma Ruth Albrecht, „Freiheit statt Kapitalismus” als Provokation? In: soziologie heute, 4 (2011) 19, S. 43; Bandulet - Hankel - Ramb - Schachtschneider - Ulfkotte, Gebt uns unsere D-Mark zurück! Fünf Experten beantworten die wichtigsten Fragen zum Staatsbankrott. Rottenburg: Kopp, 2012; kritisch Wilma Ruth Albrecht, Der €, die D-Mark, die Finanzkrise … und dann? In: Sozialwissenschaftliche Literatur Rundschau, 36 (2013) 66, S. 38-46; dies., Finanzmarkt-Kritik. Eine Nachschrift. In: soziologie heute, 6 (2013) 29, S. 26-28.
[4] Als Kritik und zum utopischen Weltwirtschaftskonzept Wilhelm Hankel, Legt den Geld-Alchemisten das Handwerk. In: Mitteilungen aus der Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, 17 (1984) 1, S. 40-84.
[5] Angelika Sörgel, Finanzkapital und Staatsverschuldung. In: Marxistische Studien, Band 4 (1981), S. 42-62; auch Jörg Goldberg, Die chronische Überakkumulation von Kapital als Krise des staatsmonopolistischen Regulierungstyps. In: Ebendort, Band 11 (1986), S. 9-41.
[6] Die Grünen (Hg.), Umbau der Industriegesellschaft. Schritte zur Überwindung von Erwerbslosigkeit, Armut und Umweltzerstörung. Zweiter, überarbeiteter Entwurf. Bonn 1986.
[7] Gert Siebert (Hg.), Wenn der Binnenmarkt kommt … Neue Anforderungen an gewerkschaftliche Politik, Frankfurt/Main: Nachrichten Verlag, 1989.
[8] Wilma Ruth Albrecht, Zur EG-Binnenmarktkonzeption. In: Marxistische Blätter, 27 (1989) 5, S. 12-17, hier S.17
 

Editorischer Hinweis

Wir erhielten den Beitrag von der Autrin für diese Ausgabe. Der Beitrag erschien, leicht gekürzt, gedruckt in: Auskunft. Zeitschrift für Bibliothek, Archiv und Information in Norddeutschland, 34. Jg. 2014, H. 2, Dezember 2015, S. 341-350.