Einschätzung
Zur Bewegung der Gelbwesten von Théorie communiste

von "Théorie communiste"

01/2019

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onlinezeitung

Jenes Frankreich, welches Kippen dreht und Diesel raucht
(Es grillt auch Merguez und schätzt „das Gelbe“, nicht nur als Weste)

Es ist nicht so, dass die sogenannte Bewegung der „Gelbwesten“ nichts Neues bringt, doch wenn man „Eine besondere Sequenz“ (TC 25) noch einmal liest, war fast das ganze mögliche Analyseraster der sogenannten Bewegung der „Gelbwesten“ schon da: der Übergang der Krise vom Lohnverhältnis zur Lohngesellschaft; die Delegitimierung des für die Ungerechtigkeit verantwortlichen Staates (der an der Steuerschraube dreht); das Volk und der Populismus [1]; das Lokale, die Eliten, die Reichen und die Armen, das Volk mit seiner Kultur und seiner „Sittlichkeit“. Einige Absätze dieses Textes sind gar schon fast „voraussagend“ [2]. Natürlich müssten wir vom Wesen der Krise selbst ausgehen: Identität von Unterakkumulations- und Unterkonsumtionskrise, Lohnverhältnis [3].

Der Interklassismus ergibt sich selbstverständlich aus diesen Prämissen (Übergang des Lohns als Produktionsverhältnis hin zum Lohn als Distributionsverhältnis; gesellschaftliche Ungerechtigkeit über die Steuer, wofür der Staat verantwortlich ist), doch wir müssen beachten, dass unser gewohnter Ansatz der sogenannt „neuen“ Mittelklassen [4] die gegenwärtige Bewegung, in welcher man eher Handelstreibende, Handwerker, Fernfahrer, Mitglieder der „niederen“ liberalen Berufe sieht, nicht wirklich treffend darstellt.

Die Arbeitgeberschaft kleiner Unternehmen repräsentiert auf ideale Art und Weise diese Versöhnung der respektablen Arbeit mit dem verdienten Kapital, welche beide im Rahmen der sozialen und familienfreundlichen Nation aufblühen. Unglücklicherweise ist es nicht nur ein Ideal, sondern auch eine Realität. Die Hälfte der Arbeiter arbeiten im Rahmen eines kleinen oder gar sehr kleinen Unternehmens, man könnte sagen, dass nicht die Anzahl entscheidend ist, sondern die Stellung in der Klassenzusammensetzung der Arbeiterklasse im Verhältnis zu den andauernden kapitalistischen Dynamiken, von diesem Standpunkt aus muss man jedoch feststellen, dass diese Zersplitterung nicht archaisch ist. Wie ihr Chef sind diese Arbeiter häufig direktem Druck der Kundschaft ausgesetzt, mag sie privat oder von wichtigeren Unternehmen sein, die Verschlimmerung der Arbeitsbedingungen und die Stagnation der Löhne kann also sowohl mit dem Chef als auch mit dem gebieterischen Kunden assoziiert werden. In vielerlei Hinsicht bildet der „Arbeiterstandpunkt“ mit jenem des Chefs eine Einheit: Sie denunzieren gemeinsam die Delokalisierungen, die Globalisierung der Konkurrenz, den rapiden Anstieg „ungerechtfertigter“ Einkommen des Finanzkapitals, den Druck der Banken und schliesslich das Gewicht der Sozialabgaben und der Reglementierungen. Der Chef des kleinen Unternehmens formalisiert nicht nur die populistische Bewegung, sondern die Chefs kleiner Unternehmen werden auch spezifisch in Bewegung gesetzt als gesellschaftliche Kategorie, deren wirtschaftliche und politische Macht angegriffen wird. Die gegenwärtigen Bedingungen der Krise bearbeiten die Tradition der extremen Rechten neu (Arbeit, Familie, Heimat, Rassismus), um die Themen des Populismus hervorzubringen: wirtschaftliche Gerechtigkeit, nationale Gemeinschaft, Respektabilität der Arbeit, Republik und wieder erlangte Volkssouveränität. Der Populismus der respektablen Arbeit und des verdienten Kapitals muss sich als aktionale Repräsentation der „Volksgemeinschaft“ beweisen und das, indem er das Volk gegen das „Unvolkstümliche“, den „Nicht-Bürger“ hervorbringt: gegen die Finanz, die politischen Eliten der repräsentativen Demokratie, die Yuppies der Stadtzentren und Grossindustrielle einerseits, den „Profiteuren der Wohlfahrt“, den „Sozialschmarotzern“ andererseits, wobei die Einwanderer und ihre Nachkommen davon umso mehr das Paradigma darstellen, als sie als verbunden mit der Globalisierung erscheinen.

Der Vergleich mit dem Poujadismus der 1950er Jahre hinkt jedoch. Der Poujadismus ist klar rund um diese Berufe organisiert, das ist heute nicht der Fall, ihr gesellschaftliches Gewicht damals ist mit dem heute nicht vergleichbar. Der ganze gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische Kontext war anders. Der Verweis auf den Poujadismus dient nur dazu, jegliche störende Frage zum Interklassismus zu vermeiden und ein apriorisches Urteil zu rechtfertigen.

Um jeglichen Normativismus zu vermeiden, sollte man davon absehen, die Bewegung in Bezug auf das zu beurteilen, was sie nicht oder „schlecht“ tut. Man beurteilt sie und positioniert sich, indem man die Dynamiken am Werk freilegt und zeigt, was uns die Bewegung von dort aus sagt, wo wir uns in der Krise befinden, nicht ausgehend von einer immer schon gegebenen Idee der Revolution und des guten Klassenkampfes. „Denn mit welchem Gericht ihr richtet, mit dem werdet ihr gerichtet werden [...]“ [5]

Es ist eine Bewegung, die sich auf die Arbeit beruft, die wahre, jene, welche in Anbetracht der den Staat lenkenden Eierköpfe und anderer Parasiten die Würde wahrt. Die Bewegung versucht nicht, die „Arbeit zu blockieren“, auch nicht die Wirtschaft, und wenn es trotzdem geschieht, entschuldigen sich die Gelbwesten. Es ist nicht ihr Ziel, nur ein Mittel, die Wirtschaft ist nicht ihr Feind. Man kann den Gelbwesten nicht vorwerfen, das nicht zu tun (oder im Gegenteil ihnen gratulieren, es zu tun), was sie nicht tun wollen (so könnten die paar zirkulierenden Texte und Anmerkungen zusammengefasst werden). Die grossen Einkaufszentren, Transportunternehmen und strategischen Kreisel sind hingegen sehr wohl ernsthaft beeinträchtigt (die Versuche rund um die Raffinerien und Öldepots scheinen entschluss- und erfolglos).

Die Kritik des Interklassismus ist häufig mit dem Problem konfrontiert, dass sie glaubt, dass die anwesenden Klassen schlichtweg eine Summe formen, dass sie sich addieren, wobei sie sauber definierte und auf sich selbst beschränkte diskrete Elemente bleiben, dass der Interklassismus sie letztendlich nicht tangiert, dass die Aktion nicht existiert. Jede Komponente findet sich sehr wohl ausgehend von ihren eigenen Interessen in der Bewegung wieder, doch der Interklassismus ist dann für jedes auf innere Art und Weise der Verlauf seines eigenen Handelns. Der Interklassismus ist nicht die Addition sondern die Folge dieser eigenen Interessen, innerlich tangiert durch ihre Koexistenz und in einer gemeinsamen Forderung verschmelzend. Es reicht nicht, Interklassismus festzustellen und ihn unwiderruflich zu verurteilen, die Bedingungen seiner Existenz müssen jedes Mal spezifisch erklärt werden, nicht nur als intellektueller Anspruch, sondern v.a. um sich in seiner Befürchtung zu positionieren.

Im gegenwärtigen Fall betrifft die Forderung den Lebensstandard und präziser, innerhalb dessen, was ihn tangiert, die Gesamtheit der erzwungenen Ausgaben und unter ihnen jene, welche alle als „den Tropfen“ beschreiben, „der das Fass zum Überlaufen gebracht hat“: die Erhöhung des Benzinpreises (hauptsächlich Diesel). Die Frage ist jene des Lebensstandards, der Einkommen. Doch diese Frage bleibt nicht eine wirtschaftliche Frage, sie wird unmittelbar politisch. Die Abgaben, die Steuern, das ist der Staat. In dieser unmittelbaren Verwandlung der Wirtschaft in Politik findet der Interklassismus seine Form, die ihn definiert und stärkt. Die Folge ist nie gesellschaftlich neutral, sondern besiegelt im Interklassismus eine seiner Komponenten: die Handwerker und Chefs kleiner Unternehmen, die das „Volk“ vereinigen.

Um den Marx des Artikels „Kritische Randglossen zu dem Artikel »Der König von Preußen und die Sozialreform. Von einem Preußen«“ zu plagiieren: Es ist „eine wirtschaftliche Revolte mit einer politischen Seele“. Und man findet hier die Frage der Legitimität des Staates wieder. Die „politische Seele“ einer wirtschaftlichen Revolte liegt in der Tendenz der Klassen ohne politischen Einfluss, ihre Isolierung vom Staat und der Macht zu beenden. Die Beendigung dieser Isolierung ist gleichbedeutend mit der Beförderung des Volkes und der Proklamation desselben als unmittelbar Staat seiend. Der Populismus ist von einigen Ausnahmen abgesehen nichts anderes [6].

Obwohl es um Lebensstandard und Einkommen geht [7], sind an den Kreiseln nicht die Ärmsten. Die politische Seele der Bewegung, das, was die interklassistische Fusion konstituiert, schliesst sie davon aus. Die Verwandlung der wirtschaftlichen Forderung in eine „Isolierung“ vom Staat (der entnationalisierte Staat musste schon in der Form von Macron zu seiner eigenen Karikatur werden, man sollte die Auswirkung der kleinen Bemerkungen Macrons und seiner Komplizen nicht unterschätzen) geht von jenen aus, welche sie durch diese Isolierung als in ihrem gesellschaftlichen Werdegang benachteiligt einschätzen und sich als imstande betrachten, dieser Sache abzuhelfen.

Obwohl es stimmt, dass die Bewegung bis jetzt v.a. vom sogenannten „peripheren Frankreich“ (Christophe Guilluy) repräsentiert wird, darf dieses „Frankreich“, entgegen Guilluys Thesen, nicht mit dem armen Frankreich verwechselt werden (wenn Zemmour Guilluys Thesen übernimmt, achtet er darauf, sich in diesem Punkt von ihm zu unterscheiden, um aus dieser „Revolte“ allen voran ein identitäres Phänomen zu machen, was auch bei Guilluy existiert, aber „sekundär“). Dieses „periphere Frankreich“ steht nicht ganz und gar abseits der Warenflüsse und Möglichkeiten der Globalisierung. Das „periphere Frankreich“ ist allen voran eine performative Formel, welche dem, was sie beschreiben soll, eine Existenz verschafft: d.h. eine Bevölkerung (Arbeiter sowie Chefs kleiner Unternehmen und Handwerker), welche den Tätigkeiten der bedeutenden Metropolen untergeordnet ist und sich von den Vorstädten unterscheidet. Vom Arbeiter bis zum Chef des kleinen Unternehmens ist die Zugehörigkeit zu diesen Warenflüssen, Anstellungen und Möglichkeiten zufällig und kann konstant in Frage gestellt werden. In Anbetracht dieser Prekarität der Zugehörigkeit sind die Transporte und die vom Auto abhängige Mobilität wesentlich. In Anbetracht der Metropolen der yuppisierten Eliten und den Vorstädten der Einwanderer wird dieses „Frankreich“ zum Wahrzeichen der wahren Arbeit und des Kampfes um seine Erhaltung, es macht aus ihr einen Wert des Volkes und der Nation. Indem es sich als „peripher“ bezeichnet, wird das Volk „authentisch“. Man darf die territoriale Dimension und die Überdeterminierung der Klassenpraktiken und -bündnisse, welche davon ausgelöst werden können (nicht immer, indem die Arbeiterklasse untergeordnet wird, siehe z.B. die Ardennen Ende der 1970er Jahre), nicht vernachlässigen. Diese Dimension ist für die Bewegung der Gelbwesten konstitutiv, doch man muss sie als das betrachten, was sie ist.

Wenn die Mobilität und somit die Territorialität in den Kämpfen eine Rolle spielen, ist das sie strukturierende und die Streitgegenstände definierende gesellschaftliche Verhältnis nicht das Kapital oder die Lohnarbeit, sondern das die Raumordnung bestimmende Grundeigentum. Der Interklassismus ist das Symptom dieses gesellschaftlichen Produktionsverhältnisses. Denn da es das Grundeigentum ist, welches sie strukturiert und sich selbst als ihr Streitgegenstand setzt, betreffen die Klassenkämpfe zur Stadtplanung oder der Raumordnung ein „sekundäres“ Produktionsverhältnis: Die Grundrente ist nur ein Teil des im Verhältnis zwischen Kapital und Arbeit ausgepressten Mehrwerts. Dieser „sekundäre“ Charakter manifestiert sein eigentliches Wesen, indem er Kämpfe rund um das Einkommen und den Konsum organisiert. Es ist die Grundrente, welche auf einem Territorium die Funktionen der gesellschaftlichen Arbeitsteilung, die Orte der Einquartierung und der Zirkulation der verschiedenen gesellschaftlichen Klassen, ihre Handlungs- und Anwesenheitsmöglichkeit in den Metropolen verteilt, es ist sie, welche konkrete Stellungen zuweist, die Materialität der gesellschaftlichen Beziehungen und der Nachbarschaften determiniert. Durch sie werden Lohn- und Einkommensklassen, die verschiedenen autonomisierten Funktionen des Kapitals zu lokalisierten Realitäten. Wenn ich hier wohne, weil ich ein Arbeiter, da, weil ich ein Trader, und dort, weil ich ein schwarzer Arbeiter bin, so hängt das von meinem Lohn oder meinen Einkommensquellen ab, doch es ist so, weil die Grundrente existiert, es ist nicht eine direkte Auswirkung meines Lohns; es ist eine Auswirkung, welche erst durch die Grundrente vermittelt effektiv wird. Die Zuordnung gemäss dem Einkommen scheint so offensichtlich, dass man die sie bestimmende innere Mechanik vergisst. Alle gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse des Kapitalismus sind „am Boden gefesselt“, genau wie die Klassen und ihre Unterscheidung. Niemand ist an die Scholle gebunden, doch der Proletarier wird sein Viertel, seine Barackensiedlung oder sein Einfamilienhaus nur verlassen, um in ein anderes Arbeiterquartier zu gehen. Das Kapital macht aus uns auf allgemeine Art und Weise Proletarier, die Grundrente sorgt dafür, dass man immer – provisorisch – von irgendwo ist („von irgendwo sein“ betrifft hier nur die Beziehung zu den Territorien, die „kulturellen“ Fragen werden hier beiseitegelassen). Doch genau wie die Grundrente einem Ort oder Zirkulationen zwischen verschiedenen Orten eine Funktion oder eine Klasse zuweist, so schreibt sie umgekehrt diese Orte einer Klasse oder einem Klassenfragment zu, sie designiert sie als die ihrigen. Während sie die Stadt strukturiert, führt die globale Ordnung, woran die Grundrente aktiv beteiligt ist, zu immer von ihr determinierten Aneignungsformen, die jedoch für sie immer insofern auch eine Bedrohung sind, als dass diese Determinierungen von den beherrschten Klassen als immer territorialisierte eigene Lebensweisen verinnerlicht und rekonstruiert werden. Die Territorialisierung wird zu einer Form des Selbstbewusstseins.

Der „vogelfreie“ Proletarier, gemäss Engels der Archetyp der revolutionären Klasse, ist nicht eine unmittelbare Wirklichkeit wie es Engels in Zur Wohnungsfrage behauptet, er ist auch kein Mythos, sondern eine legitime Abstraktion, d.h. ein Konzept, das es erlaubt, seinen „Hausarrest“ zu verstehen.

Während er den deutschen Proudhonianer kritisiert, welcher ihm als Punchingball dient und der bedauert, dass der Proletarier keinen Ort zum Wohnen hat und somit „hinter die Wilden“ zurückfällt, schreibt Engels: „Um die moderne revolutionäre Klasse des Proletariats zu schaffen, war es absolut notwendig, daß die Nabelschnur [AdA: Ah! Dieses häufige Bild der Nabelschnur für die Beziehung der menschlichen Art mit der Natur.] durchgeschnitten wurde, die den Arbeiter der Vergangenheit noch an den Grund und Boden knüpfte. Der Handweber, der sein Häuschen, Gärtchen und Feldchen neben seinem Webstuhl hatte, war bei aller Misere und bei allem politischen Druck ein stiller, zufriedener Mann ‚in aller Gottseligkeit und Ehrbarkeit‘, zog den Hut vor den Reichen, Pfaffen und Staatsbeamten und war innerlich durch und durch ein Sklave. Gerade die moderne große Industrie, die aus dem an den Boden gefesselten Arbeiter einen vollständig besitzlosen, aller überkommenen Ketten los und ledigen vogelfreien Proletarier gemacht, gerade diese ökonomische Revolution ist es, die die Bedingungen geschaffen hat, unter denen allein die Ausbeutung der arbeitenden Klasse in ihrer letzten Form, in der kapitalistischen Produktion, umgestürzt werden kann. Und jetzt kommt dieser tränenreiche Proudhonist und jammert, wie über einen großen Rückschritt, über die Austreibung der Arbeiter von Haus und Herd, die gerade die allererste Bedingung ihrer geistigen Emanzipation war. […] Der englische Proletarier von 1872 steht unendlich höher als der ländliche Weber mit ‚Haus und Herd‘ von 1772. Und wird der Troglodyte mit seiner Höhle, der Australier mit seiner Lehmhütte, der Indianer mit seinem eignen Herd jemals einen Juniaufstand und eine Pariser Kommune aufführen?“ [8] Ohne auf den Sturm auf die Bastille oder die Rue du Faubourg de Saint-Antoine zurückzukommen [9], sind der Juniaufstand 1848 oder die Pariser Kommune keine aussagekräftige Beispiele der revolutionären Aktion des Proletariers, welcher, obwohl ohne Eigentum, „vogelfrei“ sei und „weder Haus noch Herd“ habe.

Obwohl das Grundeigentum ein gesellschaftliches Produktionsverhältnis ist, ist es das nicht auf die gleiche Art und Weise wie das Kapital oder die Lohnarbeit. Man kann es als „sekundäres“ gesellschaftliches Verhältnis bezeichnen. Denn: „Wenn das Kapital in der einzigen Beziehung gefaßt wird, worin es Mehrwert produziert, nämlich in seinem Verhältnis zum Arbeiter, worin es Mehrarbeit erpreßt durch den Zwang, den es auf die Arbeitskraft, d.h. auf den Lohnarbeiter ausübt, so umfaßt dieser Mehrwert außer Profit (Unternehmergewinn plus Zins) auch die Rente [...]“ [10] Absolute oder Differentialrente: „ […] fängt der durch seinen Titel auf einen Teil des Erdballs zum Eigentümer dieser Naturgegenstände Gestempelte diesen Surplusprofit dem fungierenden Kapital in der Form der Rente ab. Was Land zu Bauzwecken betrifft, so hat A. Smith auseinandergesetzt, wie die Grundlage seiner Rente, wie die aller nicht agrikolen Ländereien, durch die eigentliche Ackerbaurente geregelt ist.“ [11] Sei es als „Exploitation der Erde zum Zweck der Reproduktion oder Extraktion“ oder als „Raum, der als ein Element aller Produktion und alles menschlichen Wirkens erheischt ist. Und nach beiden Seiten hin verlangt das Grundeigentum seinen Tribut.“ [12] Es handelt sich sehr wohl um ein Tribut, d.h. um einen Teil des vom Kapital dem Arbeiter ausgepressten Mehrwerts, der in die Tasche des Grundeigentümers wandert, in dessen Schuld auch der Handwerker oder der Chef des kleinen Unternehmens stehen.

Engels hatte 1872 drei Artikel zur Wohnungsfrage für das Zentralorgan der deutschen sozialdemokratischen Partei geschrieben, sie erschienen 1887 zusammen als Broschüre: Zur Wohnungsfrage.

„Der Arbeiter tritt dem Krämer gegenüber als Käufer auf, d.h. als Besitzer von Geld oder Kredit, und daher keineswegs in seiner Eigenschaft als Arbeiter, d.h. als Verkäufer von Arbeitskraft. Die Prellerei mag ihn, wie überhaupt die ärmere Klasse, härter treffen als die reicheren Gesellschaftsklassen, aber sie ist nicht ein Übel, das ihn ausschließlich trifft, das seiner Klasse eigentümlich ist. Geradeso ist es mit der Wohnungsnot. Die Ausdehnung der modernen großen Städte gibt in gewissen, besonders in den zentral gelegenen Strichen derselben dem Grund und Boden einen künstlichen, oft kolossal steigenden Wert [AdA: Im Kapitel „Die absolute Grundrente“ erklärt Marx diesen „künstlichen Wert“ als eine Variante der Differentialrente, die er dort „Monopolpreis“ nennt [13].]; die darauf errichteten Gebäude, statt diesen Wert zu erhöhn, drücken ihn vielmehr herab, weil sie den veränderten Verhältnissen nicht mehr entsprechen; man reißt sie nieder und ersetzt sie durch andre. Dies geschieht vor allem mit zentral gelegenen Arbeiterwohnungen, deren Miete, selbst bei der größten Überfüllung, nie oder doch nur äußerst langsam über ein gewisses Maximum hinausgehn kann. Man reißt sie nieder und baut Läden, Warenlager, öffentliche Gebäude an ihrer Stelle [AdA: Engels konnte die von offiziellen oder parallelen kulturellen Einrichtungen oder einer nicht immer sehr reichen Bevölkerung, die aber mit viel kulturellem Kapital ausgestattet ist, gespielte Rolle als Brückenkopf mit ihren Vereinen und Demonstrationen zur „Verteidigung des Quartiers“ in diesem Prozess der „Stadtaufwertung“ nicht vorhersehen.] […] Das Resultat ist, daß die Arbeiter vom Mittelpunkt der Städte an den Umkreis gedrängt, daß Arbeiter- und überhaupt kleinere Wohnungen selten und teuer werden und oft gar nicht zu haben sind, denn unter diesen Verhältnissen wird die Bauindustrie, der teurere Wohnungen ein weit besseres Spekulationsfeld bieten, immer nur ausnahmsweise Arbeiterwohnungen bauen. Diese Mietsnot trifft den Arbeiter also sicher härter als jede wohlhabendere Klasse; aber sie bildet, ebensowenig wie die Prellerei des Krämers, einen ausschließlich auf die Arbeiterklasse drückenden Übelstand [vom Autor unterstrichen] und muß, soweit sie die Arbeiterklasse betrifft, bei gewissem Höhegrad und gewisser Dauer, ebenfalls eine gewisse ökonomische Ausgleichung finden. [AdA: Engels erklärt später, dass das zu einer Lohnerhöhung führen müsse.] Es sind vorzugsweise diese der Arbeiterklasse mit andern Klassen, namentlich dem Kleinbürgertum, gemeinsamen Leiden, mit denen sich der kleinbürgerliche Sozialismus, zu dem auch Proudhon gehört, mit Vorliebe beschäftigt. Und so ist es durchaus nicht zufällig, daß unser deutscher Proudhonist sich vor allem der Wohnungsfrage, die, wie wir gesehn haben, keineswegs eine ausschließliche Arbeiterfrage ist, bemächtigt und daß er sie, im Gegenteil, für eine wahre, ausschließliche Arbeiterfrage erklärt. ‚Was der Lohnarbeiter gegenüber dem Kapitalisten, das ist der Mieter gegenüber Hausbesitzer.‘ Dies ist total falsch. Bei der Wohnungsfrage haben wir zwei Parteien einander gegenüber, den Mieter und den Vermieter oder Hauseigentümer. Der erstere will vom letztern den zeitweiligen Gebrauch einer Wohnung kaufen; er hat Geld oder Kredit […] Es ist ein einfacher Warenverkauf; es ist nicht ein Geschäft zwischen Proletarier und Bourgeois, zwischen Arbeiter und Kapitalisten; der Mieter - selbst wenn er Arbeiter ist - tritt als vermögender Mann auf, er muß seine ihm eigentümliche Ware, die Arbeitskraft, schon verkauft haben, um mit ihrem Erlös als Käufer des Nießbrauchs einer Wohnung auftreten zu können, oder er muß Garantien für den bevorstehenden Verkauf dieser Arbeitskraft geben können. Die eigentümlichen Resultate, die der Verkauf der Arbeitskraft an den Kapitalisten hat, fehlen hier gänzlich. […] Hier [AdA: Im Verhältnis des Arbeiters zum Kapitalisten.] wird also ein überschüssiger Wert erzeugt, die Gesamtsumme des vorhandenen Werts wird vermehrt. Ganz anders beim Mietgeschäft. Um wieviel auch der Vermieter den Mieter übervorteilen mag, es ist immer nur ein Übertragen bereits vorhandenen, vorher erzeugten Werts, und die Gesamtsumme der von Mieter und Vermieter zusammen besessenen Werte bleibt nach wie vor dieselbe. […] Es ist also eine totale Verdrehung des Verhältnisses zwischen Mieter und Vermieter, es mit dem zwischen Arbeiter und Kapitalisten gleichstellen zu wollen. Im Gegenteil, wir haben es mit einem ganz gewöhnlichen Warengeschäft zwischen zwei Bürgern zu tun, und dies Geschäft wickelt sich ab nach den ökonomischen Gesetzen, die den Warenverkauf überhaupt regeln, und speziell den Verkauf der Ware: Grundbesitz.“ [14]

Was Engels vom Mieter und Vermieter schreibt, können wir auf das Verhältnis des Steuerzahlers zum Staat bezüglich des öffentlichen Dienstes ausdehnen. Es ist offensichtlich, dass der aus dem Stadtzentrum vertriebene oder in einer von den Netzwerken abgeschnittenen Favela lebende Proletarier mehr leiden wird als der Bourgeois, der sich private Dienste leisten kann oder die persönlichen Mittel hat, um den Mangel oder den Verfall der öffentlichen Dienste zu ersetzen, doch in jener territorialen Farbe, welche dann seine Revolte annimmt, ist er nicht Teil eines gesellschaftlichen Verhältnisses des Arbeiters zum Kapitalisten, sondern des Steuerzahlers zum Staat, des Konsumenten zu den öffentlichen Diensten. Es handelt sich, wie Engels schreibt, um ein „ganz gewöhnliche[s] Warengeschäft“, obwohl der Proletarier völlig zurecht den Eindruck hat, dass er geprellt wird. Die Territorialisierung der Revolte ist notwendigerweise interklassistisch (wie es Engels unterstreicht, indem er von „Warengeschäften“ spricht), doch der Interklassismus ist nicht an sich definitionsgemäss ein „Makel“ des Klassenkampfes, er kann sehr wohl eine Spannung hin zu seiner Überwindung sein, alles hängt von der ihn formalisierenden Instanz ab, welche wiederum von den wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und historischen Bedingungen des Ausbruchs der Klassenwidersprüche abhängt, d.h. von ihrer wirklichen Existenz.

Das den Kampf strukturierende und die Streitgegenstände definierende gesellschaftliche Verhältnis ist nicht das Kapital oder die Lohnarbeit, sondern das die Raumordnung bestimmende Grundeigentum. Der Interklassismus ist das Symptom dieses gesellschaftlichen Produktionsverhältnisses, er unterscheidet sich darin von dem, was er als Entwicklung der gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse Kapital und Lohnarbeit ist, für welche er sowohl sein als auch nicht sein kann. Hier, mit dem Grundeigentum, ist er notwendig. Da sie vom Grundeigentum strukturiert werden und dieses sich selbst als Streitgegenstand setzt, betreffen die Klassenkämpfe als von der Raumordnung ausgelöste Kämpfe ein „sekundäres“ Produktionsverhältnis. Dieser „sekundäre“ Charakter zeigt sein eigentliches Wesen in der Organisation von Kämpfen rund um das Einkommen und die Tauschverhältnisse. Für die Arbeiterklasse ist dieser Kampf ein Kampf um die Reproduktionsbedingungen: Es ist wahr, dass „die ungeheure Macht, die dies Grundeigentum gibt, wenn es mit dem industriellen Kapital in derselben Hand vereinigt, dieses befähigt, die Arbeiter im Kampf um den Arbeitslohn praktisch von der Erde als ihrem Wohnsitz auszuschließen. Ein Teil der Gesellschaft verlangt hier von den andern einen Tribut für das Recht, die Erde bewohnen zu dürfen [...]“ [15] Und somit ein Tribut, um auf der Erde zirkulieren zu dürfen. Doch der Status des den Kampf (durch die eigentlichen Ziele und Forderungen dieses Kampfes) strukturierenden Grundeigentums selbst führt dazu, dass diese Reproduktion der Arbeitskraft von der Wertschöpfung desartikuliert (autonomisiert) ist, der Kampf ist erstarrt auf der Ebene der Einkommen und den den „ganz gewöhnlichen“ Warentauschen inhärenten Verhältnissen.

Eine wirtschaftliche Forderung also, wo der Lohn nur ein (selbstverständlich ungerechtes) Distributionsverhältnis ist und als Konsequenz davon wird die Produktionsweise verschleiert, reduziert auf die Unterschlagung der Arbeit des Volkes (das nichts anderes ist als die Summe der Individuen, so wie ihre jeweilige Tätigkeit ein Einkommen generiert, jeder hat seine eigene Quelle, jeder trägt zum allgemeinen Reichtum durch den Gebrauchswert seiner Tätigkeit oder seines Produkts bei, die Grenznutzenschule ist die politische Ökonomie des Volkes) durch die Finanz und die grossen Unternehmen, oder besser gesagt ihre Chefs [16]. Soweit kann es folgendermassen zusammengefasst werden: eine wirtschaftliche Forderung mit einer „politischen Seele“ [17].

Doch genau da werden die Dinge kompliziert. Es gibt jene, welche es einfach nur „widerlich“ finden, und jene, welche „dabei sind“, sofern „blockiert wird“, wie sie auch am 6. Februar 1934 “dabei gewesen wären“, sofern die Abgeordnetenkammer angegriffen wird. Da es sich nur um Einkommen handelt, führen die Distributionsverhältnisse, der Lohn als Einkommen, dazu, dass die Lohnabhängigen sich vermischt mit anderen, einen identischen Mangel hinnehmen müssenden Einkommensquellen wiederfinden (Handwerker, Chefs kleiner Unternehmen) und dazu gebracht werden, sie zu frequentieren, obwohl deren Mangel hinsichtlich der quantitativen und qualitativen Art und Weise verschieden ist (Kauf von Subsistenzgütern oder Erneuerung oder Erweiterung der „Arbeitswerkzeuge“ genannten Produktionsgütern). Im Kapitel „Die trinitarische Formel“ unterstreicht Marx, nachdem er an die jeglicher Warenproduktion inhärente Mystifizierung erinnert hat [18], dass „ sich diese verzauberte und verkehrte Welt“ in der kapitalistischen Produktionsweise „noch viel weiter [entwickelt]“ [19]. Er fügt jedoch sofort eine Beschränkung bei: „Betrachtet man das Kapital zunächst im unmittelbaren Produktionsprozeß - als Auspumper von Mehrarbeit, so ist dies Verhältnis noch sehr einfach, und der wirkliche Zusammenhang drängt sich den Trägern dieses Prozesses, den Kapitalisten selbst auf und ist noch in ihrem Bewußtsein. Der heftige Kampf um die Grenzen des Arbeitstags beweist dies schlagend.“ [20] Es ist erwähnenswert, dass Marx hier den Arbeitstag als Beispiel nimmt und nicht die Lohnkämpfe, gegenüber welchen er stets eine sehr kritische Position hat. Nicht dass er dagegen wäre [21], einfach „kritisch“ in jenem Sinne, dass er den Charakter des ewigen Neubeginns unterstreicht, da sie vom Wertgesetz der Arbeitskraft erzwungen werden und ihm letztendlich Respekt zollen [22].

Kommen wir auf die „komplizierten Dinge“ zurück: Die Distributionsverhältnisse sind nur „die Kehrseite der Produktionsverhältnisse“, die beiden „Ebenen“ sind nicht in einer Situation (Beziehung) eines gegenseitigen Ausschlusses, sondern in einer, die man „dialektisches Spiel“ nennen kann: Die einen reflektieren sich in den anderen [23].

Auf den Distributionsverhältnissen basierend wird eine Unterscheidung zwischen Armen und Reichen konstruiert, eine Unterscheidung, welche den Ursprung und die Substanz des Reichtums nicht in Frage stellt: Wert und Mehrwert. Zwischen Reichen und Armen (jenen, welche im Privatjet reisen, und jenen, welche es sich nicht leisten können, das Auto vollzutanken) ist die Frage der Verteilung unabhängig von jener der Substanz des Reichtums selbst. Die Distributionsverhältnisse sind gleichbedeutend mit dem fetischisierten Verhältnis der Einkommen zu ihrer Quelle. Die Arbeit ist nur noch mit einem gewissen Teil des produzierten Werts verbunden.

In Bewegungen wie jener der Gelbwesten muss man sich der „Scheidelinie“ annähern, welche einerseits abgrenzt, inwiefern die Distributionsverhältnisse als Kehrseite der Produktionsverhältnisse designiert werden, und andererseits inwiefern sie den Absolutheitsanspruch als Totalität der gesellschaftlichen Wirklichkeit haben. Diese Verabsolutierung und ihre politischen und kulturellen Implikationen sind nicht selbstverständlich, die Kehrseite ist stets präsent.

Es ist weder verrückter Optimismus noch eine Neigung zum Aktivismus, wenn man ins Auge fasst, dass die ursprüngliche „Scheidelinie“ der Gelbwesten zwischen einer gesellschaftlichen und politischen Arbeit einerseits verläuft, welche die Tatsache nicht nur anerkennt, sondern die Distributionsverhältnisse als absoluten Pol errichtet und proklamiert, und zwischen Kämpfen und Praktiken andererseits, welche die Distributionsverhältnisse eben genau als „Kehrseite der Produktionsverhältnisse“ designieren, d.h. sie verorten sich in der Reflexivität. Man darf jedoch nicht vergessen, dass es diverse intermediäre Situationen geben kann. Die Unterscheidung kann eine gleiche Praxis und/oder eine gleiche gesellschaftliche Gruppe (Untergliederungen der Klassen) durchdringen. In einem Kampf kann sie synchronisch oder diachronisch sein.

Ausser online und hinter einem Pseudonym versteckt, wer wird dem pensionierten Stahlarbeiter und seiner beim Staat angestellten Frau, welche finanziell nicht über die Runden kommen und ein bisschen ihre arbeitslosen Kinder unterstützen, sagen, sie seien „widerlich“? Man muss zwischen dem, was individuell zur bedeutenden Präsenz von Arbeitern, Pensionierten, Angestellten führt (proportional, denn in absoluten Zahlen sind die Kundgebungen und Demonstrationen bescheiden), und der sich konstruierenden Gesamtkonfiguration im gegenwärtigen Kontext und innerhalb ihrer Mobilisierung unterscheiden. Man muss zwischen den Motiven für diese Präsenz und dem daraus resultierenden politischen Diskurs unterscheiden. Ihre Unterscheidung erlaubt es eben genau, die Notwendigkeit dieses Diskurses ausgehend von diesen Motiven zu verstehen. Die politische Umwandlung und alles, was dazu gehört, setzt sich unabhängig vom individuellen Willen jedes Teilnehmers durch, es handelt sich um die von ihnen unabhängige Gemeinschaft, welche durch ihre Präsenz und ihre Motive selbst existiert. Es muss noch präzisiert werden, dass in einer disparaten Bewegung wie dieser, diese „Unabhängigkeit“ (die Anführungs- und Schlusszeichen sind hier beabsichtigt) in einer Fraktion der Bewegung ihre Repräsentanten und ihren Inbegriff findet.

Genau wegen dieser „Unabhängigkeit“ impliziert die Verabsolutierung die Deklination aller aus den Distributionsverhältnissen resultierenden ideologischen Rekonstruktionen, deren wesentliche Manifestationen werden im Text „Eine besondere Sequenz“ gut beschrieben und artikuliert. Wir werden nicht weiter darauf eingehen. Im zweiten Fall designiert die Forderung gegen Ungerechtigkeit, Armut, den entnationalisierten Staat die Produktionsverhältnisse innerhalb der Art und Weise selbst, wie die Distributionsverhältnisse angegriffen werden. Und man kann unmöglich sagen, die Sache sei in den Mobilisierungen der Gelbwesten nicht präsent.

Es ist exakt, dass es immer noch die Distributionsverhältnisse sind, welche im Vordergrund stehen, denn die Individuen gehen immer von ihrer eigenen Existenz aus. Es ist wahr, die Individuen gehen von ihrem alltäglichen Leben, ihren Einkommen, d.h. von den Distributionsverhältnissen, dem als „Schicksal“ erlebten Fetischismus aus. Aber sind die Produktionsverhältnisse zwingend sehr weit davon entfernt? Es existiert immer ein Spiel, keine Dichotomie, zwischen Produktions- und Distributionsverhältnissen.

Mit den Gelbwesten hat sich der Kampf gegen die Ungerechtigkeit der Distribution mit den Produktionsverhältnissen artikuliert. Als Selbstverständnis und Verständnis dieser Ungerechtigkeit, bewusst oder nicht, in der Praxis, in den Formen seines kaum kontrollierten Modus Operandi. In Chalençon im Departement Vaucluse hat sich der Sprecher, selber Chef einer kleinen Schmiede mit zwei Angestellten, ab Sonntagabend (18. November) von der Weiterführung der Blockaden unter der Woche entsolidarisiert – nur um seine Meinung am nächsten Tag wieder zu ändern. Dieser Kampf gegen die Ungerechtigkeit der „Warendistribution“ hat sich mit den Produktionsverhältnissen verbunden, indem die „Distribution der Produktionselemente“ in den Vordergrund gestellt wurden: das Ausbleiben von Eigentum und Produktionsmitteln, die Abhängigkeit gegenüber einer von der Mobilität abhängigen Anstellung, die Armut und die territoriale Zuweisung (der Kredit des Hauses oder der Wohnung, die aufgrund der Schliessung oder Delokalisierung des die Zone strukturierenden Unternehmens unverkäuflich geworden sind).

„Dem einzelnen Individuum gegenüber erscheint natürlich die Distribution [AdA: Es handelt sich sowohl um die Warendistribution als auch um die Distribution der Produktionswerkzeuge, die Marx soeben als voneinander abhängig definiert hat.] als ein gesellschaftliches Gesetz, das seine Stellung innerhalb der Produktion bedingt [AdA: Hier sind wir also!], innerhalb deren es produziert, die also der Produktion vorausgeht. [AdA: Obacht: „dem einzelnen Individuum gegenüber erscheint“ es so, aber eben genau ausgehend von den Distributionsverhältnissen und ihrer Ungerechtigkeit, das ist der Ausgangspunkt.] Das Individuum hat von Haus aus kein Kapital, kein Grundeigentum. Es ist von Geburt auf die Lohnarbeit angewiesen durch die gesellschaftliche Distribution.“ [24] Das Spiel zwischen Produktions- und Distributionsverhältnissen kann wesentlich ausgehend von einer Revolte gegen die Ungerechtigkeit, mittels dieser Form der Distribution (der Produktionswerkzeuge) verbunden mit der Warendistribution (Einkommen) auf dynamische Art und Weise abhängig von historischen und lokalen Umständen beeinflusst werden. Ein Protest gegen den Gebrauch des öffentlichen Geldes, gegen den Investitionsmangel in einem Quartier oder „Territorium“, kann eine dynamische Beziehung im Spiel zwischen Distributions- und Produktionsverhältnissen herstellen, schliesslich steht das Verhältnis zwischen notwendiger und Mehrarbeit auf dem Spiel [25].

Verschiedene Tendenzen können sich in einer gleichen Bewegung begegnen, bekämpfen oder gegenseitig ignorieren. In diesem Spiel sind alle Arten von Umständen denkbar, doch was definiert werden muss, ist, für welche Materie sie den Rahmen bilden. Es ist nicht nur nötig, dass diese Materie dafür geeignet ist, „dynamisiert“ zu werden, sondern auch, dass diese Materie, welche die gegenwärtige Besonderheit dieser Krise determiniert, jene Klassenbeziehungen determiniert, welche sie „dynamisieren“ oder im Gegenteil „verabsolutieren“. Zwischen der Verabsolutierung und der Reflexivität gibt es immer eine Tendenz, welche die Oberhand gewinnt und das ab der Entstehung einer Bewegung durch das, was ihre zentrale Eigenschaft darstellt. Für die Gelbwesten war es die politische Umwandlung der wirtschaftlichen Forderung, welche den Sieg der Verabsolutierung garantiert hat, eine Umwandlung, welche dann alle im Text „Eine besondere Sequenz“ aufgezählten Determinierungen enthält: von der Arbeit als Wert bis zur Authentizität des Volkes. Die Reflexivität wurde unmittelbar als Moment des Absoluten der Distributionsverhältnisse mit ihrer politischen Formalisierung absorbiert. Die ganz kleine Bourgeoisie (nicht die „Mittelklassen“) konnte also in dieser Bewegung im Namen des Volkes und allem, was es impliziert, hegemonisch sein, d.h. den allgemeinen Rahmen der Forderung und der möglicherweise innerhalb der Bewegung auftretenden Konflikte (und ihrer Begriffe) festlegen. Indem man Hegel parodiert, kann man schreiben, dass sie zur „gebildete[n] Intelligenz und [zum] rechtliche[n] Bewußtsein der Masse eines Volkes“ wurde [26].

Es ist paradoxerweise gerade dort, wo die Bewegung, wenn sie den Staat angreift, am „radikalsten“ erscheint, wo sie sie sich als Volk definiert und als solches begrenzt. Es würde also nur noch darum gehen, den Staat dem Volk zurückzugeben [27]. Indem das getan wird, werden die Ursachen der „Ungerechtigkeit“ nicht in den gesellschaftlichen Verhältnissen vorgebracht, welche dazu führen, dass es einen Staat gibt, sondern in einer determinierten politischen Form (die schlechte Repräsentativität, die Eliten, die Enarchie usw.), die es durch eine andere zu ersetzen gilt. Gegenüber dem direkt zum Staat gewordenen Volk ist die demokratische Kritik des Populismus keine einfache Sache. Pierre Rosanvallon machte schon vor ein paar Jahren darauf aufmerksam: „Wir müssen eine demokratische Kritik des Populismus philosophisch vorbringen. Um was es in einer populistischen Perspektive geht, ist kurz zusammengefasst eine extrem armselige Vorstellung der Demokratie, eine Urvorstellung des Gemeinwillens. Der Populismus betrachtet die gesellschaftliche Energie als permanent abgewürgt durch die Eliten, die Apparate, die Parteien und die Institutionen. Es ist eine sehr fragwürdige Vorstellung der Demokratie. Die Demokratie besteht nicht nur aus der passiven Erfassung der Willensäusserungen, sondern auch aus dem Aufbau des Zusammenlebens. Der gemeinsame Wille ist anfangs nicht gegeben. Er wird in der Debatte und in der Beratung aufgebaut. Auf dieser Grundlage kann man eine methodische und philosophische Kritik des Populismus vorbringen. Der Gemeinwille und die gesellschaftliche Energie sind nicht ‚schon seiend‘ […] Wenn man eine dezisionistische Vorstellung der Demokratie hat, kann man nicht zwischen Populismus und Demokratie unterscheiden.“ [28] Die Demokratie hat ein Problem mit dem Populismus. Sagen wir einfach, dass der „Gemeinwille“ eine Wirklichkeit ist, es handelt sich immer um die Interessen der herrschenden Klasse, welche als allgemeine Interessen geltend gemacht werden, die Demokratie ist in der kapitalistischen Produktionsweise der angemessenste Prozess dieser „Geltendmachung“ und das eben genau aus den von Rosanvallon angeführten Gründen.

Die als „Gemeinwille“ befriedete Repräsentation einer als notwendigerweise konfliktreich anerkannten Gesellschaft (hier liegt die ganze Stärke der Demokratie) stellt eine Arbeitstätigkeit dar, nicht einen Widerschein. D.h. dass die Verdinglichung und der Fetischismus in der demokratischen Funktionsweise des Staates Tätigkeiten sind, es ist die Politik in Form von Parteien, Debatten, Beratungen, Kräfteverhältnisse in der besonderen Sphäre der Zivilgesellschaft, Entscheidungen. Die Demokratie scheint unabwendbar populistisch zu werden, da die Repräsentationsarbeit in Krise ist. Überall destabilisiert das Verschwinden der Arbeiterbewegung und dadurch ihrer sozialdemokratischen und/oder kommunistischen Repräsentation die politische Grundlage des demokratischen Staates. Dieser stellt die Befriedung einer gesellschaftlichen Spaltung dar, welche die Demokratie in dem Sinne als wirklich anerkennt, als dass sie die Repräsentation davon in Form einer Auseinandersetzung von Bürgern ist. Im Gegensatz zum Populismus stellt die Demokratie die Anerkennung des unvermeidlich konfliktreichen Charakters der „nationalen Gemeinschaft“ dar, von diesem Standpunkt aus war die Anerkennung der Arbeiterklasse historisch der Kern des Aufbaus der Demokratie, sie war gar ihr Motor und ihr Kriterium. Die gegenwärtigen politischen Formen des Krisenverlaufs lassen eine Krise der Hegemonie der kapitalistischen Klassen erkennen. Herrschaft und Hegemonie sind nicht identisch, es kann durchaus Herrschaft ohne Hegemonie geben (Gramsci). Die Hegemonie besteht darin, den unausweichlichen Rahmen der Debatten und Oppositionen hervorzubringen und dadurch dem anderen die Begriffe seiner Opposition selbst aufzuzwingen. Der Prozess zur Erlangung der Hegemonie dauerte für die Bourgeoisie in Frankreich sehr lange, man kann sagen, dass er erst mit der Dritten Republik abgeschlossen war, er ist nun dabei zusammenzubrechen. Was nicht im entferntesten gleichbedeutend mit der Emergenz eines seine eigene Sprache sprechenden revolutionären Diskurses ist, es handelt sich eher um ein Puzzle, eine Ansammlung von Bruchstücken anstelle der Hegemonie, welche das Volk subsumieren und krönen kommt.

Mit den Gelbwesten haben sich die Distributionsverhältnisse und ihr ideologischer Tross in der Politik und der Kritik des gegenwärtigen Staates verabsolutiert.

Diese Dialektik zwischen Produktions- und Distributionsverhältnissen pflügt letztendlich immer noch über die Frage des „Glasbodens“. Im Verlauf der Bewegung kam es in Carpentras und Monteux zu Streiks von Angestellten an zwei Standorten von McCormick (Ducros und Vahiné). Auf einem in der Provence veröffentlichten Foto (20.11.18) tragen etliche Streikende unter dem Transparent „Fabriken im Streik“ eine Gelbweste. Ohne „Fabrikkämpfe“ überbewerten zu wollen, so ist doch die gegenwärtige Vorherrschaft der Distributionsverhältnisse nicht nur wie immer gleichbedeutend mit der Tatsache, dass es sich „um die notwendige Illusion“ handelt, „in welcher wir leben“, sondern sie hängt von den Bedingungen der Krise und dem Verlauf, zumindest im Westen, der „grossen sozialen Bewegungen“ der letzten Jahre und dem mit ihnen verbundenen „Glasboden“ (die Unfähigkeit des Eindringens in die Produktionsstätten) ab. Genau wie die Bewegung der Gelbwesten aufgrund ihres Wesens nicht in die Produktionsstätten eindringen konnte, konnte auch ihre Unterstützung durch die Arbeiter nur symbolisch sein (ein fordernder Kampf kann sich als solcher in Frage stellen, wenn er auf der Ebene der Reproduktion stattfindet). Symbolisch, aber existent. Nur die Berufsrevolutionäre stürzen mit gesenktem Kopf auf jedwede Blockade zu, da sie in allem, was sich bewegt, die revolutionäre Dynamik am Werk sehen, oder umgekehrt, da sie wissen, was die kommunistische Revolution von Anfang bis Ende ist, halten sich die Nase zu, wenn nicht überall in ihrer Kreuztabelle ein Häkchen gesetzt ist.

Der Durchschnittstyp (u.a. Redakteur und/oder Leser von Théorie communiste) weiss, dass die Monatsenden schwierig sind, die Löhne sich nicht bewegen, der Steuerdruck steigt, die Defizite bewusst seit dreissig Jahren vergrössert worden sind, sich alles mit der 2008 stattfindenden Explosion der Staatsschulden zur Rettung des Finanzsystems beschleunigt hat und nun aufgeputzt werden muss. Der Durchschnittstyp weiss es und wendet sich also je nach Umständen gegen seinen Chef (McCormick hat seinen Angestellten von Monteux und Carpentras ein Lohnerhöhung von mindestens 80 Euros zugestanden) und/oder den Staat, da er immer weniger der Meinung ist, die Bezahlung von Steuern sei eine „Bürgerpflicht“ [29]. Und wenn, wie es sich nun herausstellt, alle sich in Paris (am Freitag 23.11) verabredenden departementalen Koordinatoren wie Chefs kleiner Unternehmen aussehen und sich so verhalten, wird das dem Durchschnittstyp auffallen, da er schliesslich kein Idiot ist – oder auch nicht. „Oder auch nicht“? Das ist die Frage. Der objektive Druck, welcher alle in Fragen des Einkommens, des Volkes, der Legitimität des Staates verwickelt, besteht nicht aus „Manövern“, er ist im Moment stark und resultiert aus dem Wesen der Krise selbst seit 2008. Was auch immer ihre gesellschaftliche Zusammensetzung sein mag, die Bewegung der Gelbwesten kann sich dessen nicht entziehen, umso mehr weil sie sich darin wiedererkennt.

Christophe Chalençon, Sprecher der Gelbwesten im (besonders aktiven) Departement Vaucluse, verkündete in einem auf einer Blockade gedrehten Video am Sonntag 18.11: „Wir haben eine weltweite Bewegung gestartet“. Er scheint etwas zu übertreiben, der Aufruf von St. Nazaire beruft sich „lediglich“ auf eine „europäische Welle“ des Erwachens der Völker, man erkennt hier sehr wohl den Diskurs von Marine Le Pen, Viktor Orban, der Demonstranten von Chemnitz usw.

In der Krise so wie sie sich im Moment als Krise der Globalisierung entwickelt (siehe Trump), ist diese Krise der Globalisierung eine Krise dessen, was ihr Kern war: die doppelte Entkopplung [30]. Die Konturen einer möglichen Restrukturierung (welche wie immer wirklich in der Konfrontation zwischen der kapitalistischen Klasse und dem Proletariat über die Modalitäten der Ausbeutung, der Auspressung von Mehrarbeit bewerkstelligt wird) sind bis anhin vom Konflikt mit mehr oder weniger nationalistischen Volksbewegungen bezüglich den Themen der Einkommensverteilung, der Familie, der Werte, des Bürgersinns geprägt (für einmal, sollte sich die Geschichte immer zweimal wiederholen, wird die Farce der Tragödie vorangegangen sein). Die doppelte Entkopplung liegt im Kern des gegenwärtigen Zeitpunkts der Krise der Globalisierung.

Genau das manifestiert sich in Bewegungen wie den Gelbwesten, doch solange sich die Krise der Globalisierung auf diese Art und Weise abspielen wird, ist nur die konfliktreiche Dynamik der Restrukturierung (oder zumindest ihre Konturen) am Werk. Nichts anderes. Obwohl derartige Oppositionen nicht unterschätzt werden dürfen [31], ist das Kapital auf beiden Seiten präsent und bleibt die Zukunft der Welt.

Anmerkungen

[1] Der erneut definiert werden müsste, siehe den Text „M. Le Pen et la disparition de l‘identitié ouvrière“ in Théorie communiste, Nr. 18, 2003 und Théo Cosme, De la politique en Iran, Marseille, Senonevero, 2010.

[2] „Le territoire et le local“ in Théorie communiste, Nr. 25, S. 42-43 und die Synthese S. 50.

[3] Théorie communiste, Nr. 25, S. 38 und anderswo.

[4] Ich würde den Singular bevorzugen, siehe den Text in Théorie communiste, Nr. 25, S. 84.

[5] Mat. 7 : 2.

[6] Siehe den „Aufruf von St-Nazaire“.

[7] Siehe „Eine besondere Sequenz“, die Vorherrschaft der Distributionsverhältnisse aufgrund des Wesens der Krise selbst, es muss immer davon ausgegangen werden.

[8] Friedrich Engels, Zur Wohnungsfrage in MEW, Bd. 18, Berlin, Dietz, 1973, S. 219-220.

[9] Siehe Jean-Paul Sartre, Kritik der dialektischen Vernunft.

[10] Karl Marx, Das Kapital, Bd. III in MEW, Bd. 25, Berlin, Dietz, 1983, S. 831.

[11] Ebd., S. 781.

[12] Ebd., S. 782.

[13] Ebd., S. 771.

[14] Friedrich Engels, Zur Wohnungsfrage, op. cit., S. 214-216.

[15] Karl Marx, Das Kapital, Bd. III, op. cit., S. 781-782.

[16] Siehe den „Aufruf von St-Nazaire“.

[17] „Eine besondere Sequenz“ erklärt das Phänomen.

[18] Siehe Karl Marx, Das Kapital, Bd. III, op. cit., S. 835.

[19] Ebd.

[20] Ebd.

[21] Siehe die Polemik mit Proudhon in Das Elend der Philosophie.

[22] Siehe die Konferenzen im Rahmen der IAA: Lohn, Preis und Profit, 1865.

[23] Siehe „Se positionner : rapports de production et rapports de distribution“ in Théorie communiste, Nr. 25, S. 59.

[24] Karl Marx, „Einleitung von 1857“ in MEW, Bd. 13, Berlin, Dietz, 1971, S. 627.

[25] Siehe Karl Marx, Das Kapital, Bd. III, op. cit., S. 369.

[26] Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 297.

[27] Siehe diesbezüglich Karl Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung in MEW, Bd. 1, Berlin, Dietz, 1976, S. 388.

[28] Pierre Rosanvallon, Le Monde vom 14.12.93.

[29] Umfrage von Le Monde vom 23.11.18.

[30] Siehe „Revendiquer pour le salaire“ in Théorie communiste, Nr. 22, S. 135 und das Kapitel zur Globalisierung im Text „La restructuration telle qu‘en elle-même“ in Théorie communiste, Nr. 22.

[31] Siehe Tsipras und Brüssel: Das Kapitel „Syriza et les institutions un affrontement non feint“, S. 67 und besonders S. 70 in Théo Cosme, La Cigarette sans cravate, Marseille, Senonevero, 2016, das gleiche Thema betreffend können wir auch die Fortsetzung der Konfrontation zwischen der EU und Italien abwarten.

Quelle: https://de.indymedia.org/ vom 18.1.2019