Suchend schreiten wir voran
Einleitung zur Broschüre "Delete - Digitalisierte Fremdbestimmung (Band IV)

von capulcu productions

01/2020

trend
onlinezeitung

Wir beschäftigen uns in der Serie unserer bisherigen Publikationen „Disconnect" - „Disrupt" - „Delete" mit unterschiedlichen Schwerpunkten: Während wir in „Dis­connect" eine eher phänomenologische Betrachtung ver­suchten, wo und wie der technologische Angriff bereits jetzt in unserem Alltag gegen unsere Selbstbestimmung wirkt, widmeten wir uns in „Disrupt" tiefer den Len­kungsmechanismen des Digitalismus. Mit den Texten in diesem Heft „Delete" wollen wir verschiedene Aspekte der Transformation von Herrschaft in den Fokus neh­men. Wie verändern sich die Bedingungen für Autono­mie in Zeiten digitalisierter Fremdbestimmung?

Im Zentrum von „Delete" steht wie auch schon bei „Dis­rupt" die Selbstbehauptung, also der auch jetzt schon erkennbare vielfältige Widerstand gegen diesen umfas­senden technologischen Angriff. Wir werben damit für die Verbreiterung einer praktischen Technologiekritik im Sinne einer expliziten Herrschaftskritik.

Wir bleiben damit in diesem neuen Heft dem technolo­gischen Angriff in unsystematischer Weise auf der Spur. Ein vorgeblicher „roter Faden", der vermeintlich relevante gesellschaftliche Bereiche nach einer etwaigen Priorität abarbeitet, leitet uns nicht auf unserer Suche nach Auswe­gen aus einer programmierten Gesellschaft. Allein schon deshalb, weil auch der technologische Angriff kein kohä­rent vorgetragenes Programm, sondern ebenfalls eine er­ratische Suchbewegung ist. Ein weiterer Grund ist, dass wir einer Debatte nicht vorgreifen und durch Schnell­schüsse weitergehende Gedankengänge kurzschließen wollen. Vor allem aber auch deshalb, weil wir selbst nicht im Besitz der ultimativen Antwort sind. Fokus unserer Arbeit ist eher, die Details des technologischen Angriffs sichtbar, diskutierbar und damit angreifbar zu machen. Wir bestehen auf unserem Recht zur Kritik, zu sagen, was schlecht, menschenverachtend und verbrecherisch ist, selbst, wenn wir nicht die Lösung dafür im Folgesatz nen­nen können. Wir gehen davon aus, dass sich die "ultimati­ve Antwort" in den Kämpfen gegen den technologischen Angriff entwickelt, und dass ein Versuch, diese Antwort am grünen Tisch zu finden, fruchtlos bleiben wird.

TECHNOLOGIEKRITIK IST HERRSCHAFTS­UND ZIVILISATIONSKRITIK - KEIN PRIMITIVISMUS!

Wir fällen nicht das lächerliche Urteil, dass die Techno­logie „schlecht" ist. Aus welcher - ohnehin historisch bedingten - Ethik heraus denn auch? Wir sagen, sie ist Gewalt und sozialer Krieg.

Unsere Kritik macht sich fest an der technologischen An­eignung von Lebensprozessen. Unsere Positionierung ge­genüber spezifischen technologischen Innovationen ori­entiert sich an einem anzustrebenden Abbau von Macht, Ungleichheit und Fremdbestimmung. Unser sozialrevo­lutionärer Autonomie- und Freiheitsbegriff geht hier weit über die zugestandene „Freiheit" der „User*innen" hin­aus, die als Konsument*innen und Datenlieferant*innen zwischen verschiedenen vordefinierten Produkten wäh­len dürfen.

Wir verteidigen nicht pauschal „die Arbeit" gegen jede Form von Roboterisierung. Menschliche Arbeit versus Nicht-mehr-Arbeit sind wenig aussagekräftige, statische Kenngrößen einer zudem makroskopischen Betrachtung. Ohne eine mikroskopische Sicht auf gesellschaftliche Auseinandersetzungen beschreiben sie weder die Dy­namik der gesellschaftlich-technologischen Umwälzung noch geben sie Einblick in ihren Disziplinierungs- und (Selbst-) Unterwerfungscharakter. Wenn wir beispiels­weise mit den streikenden Mitarbeiterinnen von Ama­zon zusammen stehen, unterstützen wir ihren Kampf ge­gen Entwürdigung und Entrechtung sowie gegen die (in diesem Fall algorithmische) Enteignung und Entwertung ihrer Arbeit. Wir tun das in einem solidarischen Verhält­nis, aber auch in dem Wissen, dass uns allen die gleiche Entwürdigung in einer technokratischen Zukunftsvision von Amazon bevorstehen könnte - ermöglicht durch eine permanente Bewertung und Steuerbarkeit sämdicher Lebensbereiche, in die Amazon und seine zukünftigen Nachfolger sukzessive vordringen.

Umgekehrt halten wir die Position, Technologie als „se­gensreichen Fortschritt" zu glorifizieren, den wir lediglich aus den Klauen des Kapitalismus befreien müssen, für naiv. Weder Lenins noch Trotzkis (damalige) Zukunftsvi­sionen einer tayloristischen Fließbandgesellschaft nähren die Hoffnung auf eine progressive Verhaltenssteuerung. Und wir sehen ebenfalls im sozialistischen Vorläufer der Industrie 4.0, dem chilenischen Cybersyn-Projekt (Pro-yecto Synco) Anfang der Siebziger Jahre unter Salvador Allende, keine Referenz für eine heilsversprechende Ky­bernetik. Denn auch dort hat sich der Vermessungseifer längst nicht mit einer automatisierten Selbstregulierung der Produktion in Chile begnügt, sondern nach Metho­den einer kleinteiligen Verhaltensökonomie seiner In-habitant*innen gesucht. Eine Perspektive, die wir heute sowohl in dem „sozialen Punktesystem" Chinas als auch in Googles Vorstellungen vom „Buch des Lebens" (selfish

ledger) wiederfinden. Diese Programme sind ihrem An­spruch nach totalitär: Der Kybernetisierung des Sozialen wohnt die Vorstellung sich selbst regulierender Individu­en inne, die durch ein von außen vorgegebenes Selbstop­timierungsprinzip maximal fremdbestimmt agieren.

Daher reicht eine Vergesellschaftung der digitalen Platt­formen, ja sogar eine Vergesellschaftung der digitalen Infrastruktur nicht aus. Wir müssen die soziale Kyberne­tik - also die feinstgliedrige Zerlegung unseres Lebens in Mess- und Steuerkreise - als solches zurückweisen. Die Technologie lediglich vom Kapitalismus befreien zu wol­len - als vermeintlich „äußerem Verhältnis" -, ist leider eine wenig hilfreiche, unterkomplexe Vereinfachung. Das brachte bereits Max Weber zum Ausdruck, als er schrieb:

»Nicht erst ihre Verwendung, sondern schon die Technik ist Herrschaft (über die Natur und den Menschen), methodi­sche, wissenschaftliche, berechnete und berechnende Herr­schaft. Bestimmte Zwecke und Interessen der Herrschaft sind nicht erst >nachträglich< und von außen der Technik oktroyiert - sie gehen schon in die Konstruktion des tech­nischen Apparats selbst ein. Die Technik ist jeweils ein ge­schichtlich-gesellschaftliches Projekt; in ihr ist projektiert, was eine Gesellschaft und die sie beherrschenden Interessen mit den Menschen und mit den Dingen zu machen geden­ken.«

DIGITAL DIVIDE

Der „Confirmation Bias", also die Neigung, Dinge so zu interpretieren, dass sie die eigene Überzeugung bzw. Ver­mutung untermauern, ist ein psychologisches Phänomen, das weit vor der Digitalisierung entdeckt wurde. Die per Social Media gelenkte Aufmerksamkeits-Ökonomie ver­stärkt diesen Effekt jedoch nachweisbar. Durch sie zer­fällt aktuell nicht nur eine „gemeinsame" Sicht auf „die Dinge", es zerfällt sogar die Möglichkeit, unterschiedliche Sichten diskutierbar zu machen. Denn das, was früher Öffendichkeit genannt wurde, fragmentiert selbst mehr und mehr. Leute unterschiedlicher Weltsichten leben in voneinander entkoppelten Informationswelten, inner­halb derer die jeweils eigene Sicht durchaus als schlüs­sig oder zumindest selbstkonsistent erscheinen mag. Es gelingt informationstechnisch immer besser, sich einem Abgleich mit grundlegend anderen Meinungen zu entzie­hen. Hier erweist sich Facebooks individualisierter Nach­richten- und Kommunikationstrom als wirkmächtiges Isolations- und Lenkungswerkzeug. In den USA verengt sich so bereits jetzt für die Mehrheit der Menschen die Nachrichtenwelt auf die Sicht, die Facebook von ihren Vorstellungen und Neigungen hat - geleitet von der Ma­xime, die Aufmerksamkeit mit beliebigem Inhalt so lange wie möglich zu binden.

Die aktuellen politischen Vorzeichen mit den Ansätzen für eine in weiten Teilen der Welt rechte bis offen faschis­tische Bewegung, die allzu oft als Rechtspopulismus ver­harmlost wird, existieren durchaus ohne den digitalen Transformationsprozess. Aber sie existieren nicht unab­hängig von ihm. Jenseits der Frage nach dem Ursprung „einer tiefen Verunsicherung" angesichts der hohen ge­sellschaftlichen Transformationsgeschwindigkeit, die Raum für simplifizierende rechte Lösungen schafft, ist es die innere Social Media-Funktionsweise, die die Reich­weite rechter Propaganda im Netz deudich erhöht und damit ein politisches Ungleichgewicht verstärkt.

Wenn wir die Transformation des Kapitalismus in Rich­tung eines digitalen Plattform-Kapitalismus mit neuen nicht-staatlichen Playern samt historisch neuem Ausmaß von Abhängigkeiten und Machtungleichgewichten analy­sieren und kritisieren, dann lässt sich daraus kein positives Verhältnis zum Staat mit dem Wunsch nach Regulierung ableiten. Das wäre ein reformistischer Kurzschluss. Ähn­lich abwegig ist die Unterstellung, die Befürworter*innen des (anonymen) Bargelds stabilisierten den Kapitalismus. Zu glauben, die Bedingungen für eine Überwindung kapitalistischer Verhältnisse ließen sich durch eine von staatlicher Steuerung „entkoppelte" Crypto-Währung verbessern, ist eine reformistisch-romantisierende Vor­stellung von Demokratisierungs-Technokrat*innen.

Uns stellt sich eher folgender Befund dar: Der in vielen gesellschaftlichen Bereichen (zunächst begrüßenswert) schwindende Einfluss staatlicher Institutionen wird ein­getauscht gegen eine ultrakapitalistische Dominanz tech­nokratisch-privatwirtschaftlicher Akteure, die sich noch leichter einem gesellschaftlichen Aushandlungsprozess entziehen können. Wir lesen z. B. den aktuellen Umbau des Gesundheitswesens in dieser Weise. Die vermeindi-che Konkurrenz staatlicher und nicht-staatlicher Akteure löst sich nicht selten in einer gemeinsamen pragmati­schen „Modernisierungs"-Offensive auf.

Editorischer Hinweis

Der Test wurde entnommen aus:

Hefte zur Förderung des Widerstands gegen den technologischen Angriff
BAND IV: DELETE – DIGITALISIERTE FREMDBESTIMMUNG
https://capulcu.blackblogs.org/wp-content/uploads/sites/54/2018/12/DELETEA4_web.pdf