Bernard Schmid  berichtet aus Frankreich

Sozialprotest in Frankreich

01/2020

trend
onlinezeitung

Bericht vom 23. Dezember 2019

Heftige Debatten und Spaltung bei der UNSA über „Weihnachtsruhe“ im Streik – Erste Raffinerie wird heruntergefahren – Emmanuel Macron „verzichtet“ demagogisch auf seine künftige Präsidialrente

Die erste Raffinerie, jene im südfranzösischen Lavéra (in der Nähe von Martigues am Binnenmeer Etang-de-Berre), wird durch die Streikenden bis zum vollständigen heruntergefahren. Dies beschloss eine Versammlung des streikenden Personals am Sonntag, den 22. Dezember 19 (vgl. bspw. https://www.francetvinfo.fr). Auch in den Raffinerien von La Mède – ebenfalls im Südfrankreich -, Feyzin (im Raum Lyon) und Grandpuits (östlich von Paris) wird am heutigen Montag auf Streikversammlungen über eine Drosselung oder ein Anhalten der Produktion beraten.

Einmal heruntergefahren, benötigt eine Raffinerie rund eine Woche, um wieder produktionsfähig zu werden. Frankreich verfügt allerdings über rund zwei Monate „strategische Reserven“ an Treibstoffen, die üblicherweise für den Ausnahme-, Ernst-, Kriegs- oder Einmarschfall aufbewahrt werden. Sollten diese nun angezapft werden, dann wird’s wirklich kritisch: Dann können die Russen (oder Deutschen) kommen… Im Augenblick droht also noch kein frankreichweiter Versorgungsengpass bei Treibstoffen. Aufgrund der ungleichmäßigen Verteilung der insgesamt acht Raffinerien über das Staatsgebiet einerseits, des Verbrauchs auf der anderen Seite könnte es jedoch in circa einer Woche im Großraum Paris allmählich kritisch werden, falls die Entwicklung so weiter läuft. Vgl. dazu auch bspw. zur CGT: https://actu.orange.fr/; und zum sich „beruhigend“ wollenden Regierungsdiskurs: https://actu.orange.fr/– Vgl. zu den Vorfällen im Zusammenhang mit beginnender Treibstoffkrankheit anlässlich der sozialen Protestbewegung den "TREND"-Bericht über Arbeitsrechts-„Reform“ & Widerstände vom 25.Mai 2016.

Streikkassen

Rund eine Million Euro befinden sich derzeit in den wichtigsten Streik-Unterstützungskassen (wir berichteten darüber am vorigen Freitag, den 20.12.19). Vieles an Geldern wird derzeit über das Internet gesammelt, Schecks treffen etwa bei der Medienschaffendengewerkschaft CGT Info’Com per Post (dieselbe streikt derzeit nicht wirklich) am laufenden Meter ein; laut deren Angaben betrug die höchste Einzelspende bislang 2.250 Euro von einer Person. Auch viele Renter/innen seien unter den Spender/inne/n.

Laut Nachrichten aus der Whatsapp-Gruppe des Front Social sammelten Aktive in der Hochhaussiedlung Le Franc-Moisin in Saint-Denis, in der nördlichen Pariser Banlieue, 56 Euro, die vor allem für streikende Prekäre bestimmt sein werden (parallel zum allgemeinen Sozialprotest gegen die Renten„reform“ gibt es derzeit zudem lokale Streiks, etwa in einem Pariser Hotel; beide gehen zusammen). Das ist zwar keine Riesensumme, kommt jedoch von Menschen, die selbst in aller Regel sehr wenig Geld übrig haben.

Bahnstreik

Diese Streikgelder, die von Organisationsmitgliedschaft unabhängig ausgeschüttet werden, dürften derzeit vor allem den Streikenden in den Transportbetrieben, die (am heutigen Datum) seit nunmehr achtzehn Tagen unbefristet streiken, zugute kommen: Es handelt sich um den einzigen Sektor, von den Raffinerien wohl einmal abgesehen, in dem derzeit ein dauerhafter Streik gegen die Renten„reform“ stattfindet. Ansonsten ist die angestrebte Ausweitung (extension) auf andere Berufsgruppen immer an einzelnen zentralen Aktionstagen wie am 05. und vor allem am 17. Dezember 19 gelungen, jedoch dort nicht mit unbefristet geführten Arbeitskämpfen. Am 17.12.19 war etwa die Metallindustrie (Alstom, Safran…) auf der Pariser Streikdemonstration vertreten. Als Kultureinrichtung streikte das Cinéma Louxor (Luxor-Kino) am nördlichsten Rand des zehnten Pariser Bezirks, das auch mit einer eigenen Abordnung auf der Streikdemo vertreten war; am Eingang des Kinos, das selbst geschlossen war, prangten am Abend – nahe einer der bedeutendsten Kreuzungen im Pariser Stadtgebiet – Plakate mit dem Aufruf zum Arbeitskampf und gegen die Renten„reform“. Ab dem folgenden Tag hat die Einrichtung jedoch erneut geöffnet.

Zu hoffen und zu orientieren ist nun auf den nächsten zentralen Aktionstag am 09. Januar 20, welcher allerdings die Crux hat, zwanzig Tage nach dem letzten (nur schwach befolgten) Aktionstag am Donnerstag, den 19. Dezember respektive zweiundzwanzig Tage nach dem gut befolgten Aktionstag am Dienstag, den 17. Dezember 19 zu folgen. Es wird also erforderlich sein, sich in der Lage zu zeigen, bis dorthin eine Dynamik aufrecht zu erhalten, und dies trotz Weihnachts- und Neujahrs-Feiertagsperiode.

Bei der Eisenbahngesellschaft SNCF riefen die Streikversammlungen (an denen CGT-, SUD- und FO-Angehörige teilnehmen) in diesem Zusammenhang nun zu eigenen Aktionsterminen am 26. und am 28. Dezember d.J. Auf. Am 26.12.19 – dieser Tag ist, anders als der 25. Dezember in Frankreich und anders als dasselbe Datum in Deutschland, kein gesetzlicher Feiertag in Frankreich – ohne Unterstützung von Gewerkschaften als solchen, als reine „Demonstration der Basis“.

[Nachträgliche Anmerkung: Letztlich kam die basisorientierte Eisenbahngewerkschaft SUD Rail noch als Unterstützerin hinzu.] Und am Samstag, den 28. Dezember d.J. wird die streikende Basis aus den Transportbetrieben jedenfalls in Paris, und wohl in weiteren französischen Städten, zusammen mit mehreren Gewerkschaften zu lokal verankerten Mobilisierungen aufrufen.

Unterdessen fruchtete der auf zentraler Verbandsebene beschlossene Aufruf der UNSA (offiziell sich „unpolitisch“ verstehender Zusammenschluss „unabhängiger Gewerkschaften“, nicht formal als eigener Dachverband anerkannt; in den Positionen oft CFDT-nahe) zu Einhaltung einer „Weihnachtspause“ im Streik nicht. (Vgl. zu ihrem Beschluss: https://www.lesechos.fr/) Mehrere Mitgliedsverbände, darunter an entscheidender Stelle jener unter den Eisenbahner/inne/n sowie die UNSA RATP beim Pariser Nahverkehrsbetreiber – über ihn nimmt die UNSA derzeit an der Streikbewegung konkret teil – lehnten diese Aufforderung nun explizit ab. (Vgl.https://www.francebleu.fr und https://www.liberation.fr/ oder https://www.lci.fr/ ) Die UNSA ist zwar unter den Eisenbahner/inne/n relativ schwach – zwar mit 24 Prozent Stimmenanteil und dem zweithöchsten Wahlergebnis, jedoch nur geringer Verankerung unter dem hauptsächlioch streikenden „fahrenden Personal“ -, jedoch bei der RATP inzwischen vom Stimmenanteil her die stärkste Einzelgewerkschaft vor der CGT; vgl. http://www.ratp.fr/

Die CFDT-Eisenbahner/innen wiederum, die im Falle einer Position zur Streikbeendigung bzw. zum Anhalten des Arbeitskampfs ein ähnliches Szenario wie bei der UNSA (mit inneren Spaltungslinien) befürchtet, ruft deswegen ihrerseits zur Fortsetzung auf; vgl. https://www.la-croix.com 

Um den Auswirkungen des Transportstreiks zu begegnen, hat die Regierung sich dazu entschlossen, die gesetzlich zulässigen Lenkradzeiten für die Fahrer/innen von Reisebussen im Vorweihnachtsverkehr für die Periode vom 18. bis 24. Dezember 19 per Ministerialverordnung auszuweiten.

Vgl. https://www.liberation.fr/  und   http://www.leparisien.fr sowie https://reporterre.net/ Auf bis zu zwölf Stunden Fahrtzeit täglich. Dies mag den Reisewilligen sicherlich individuell scheinbar entgegenkommen, während es zugleich dem Streik entgegenwirken soll. Aber wenn dies nur mal kein Sicherheitsrisiko und keine Unfallursachen schafft…!

Ähnliches hatte die damalige (sozialdemokratisch geführte) Regierung übrigens bereits für LKW-Fahrer/innen, inklusive im Gefahrentransport, während der Streikwelle gegen die damalige Arbeitsrechts„reform“ 2016/2017 genehmigt; im Frühjahr 16 wurde ihnen dabei gestattet, ihre LKWs [potenziell mit Gefahrengütern an Bord] in Wohngebieten abzustellen. Vgl. auch zur Ausdehnung der Lenkradzeiten in diesem Zusammenhang im Jahr 2017: Arbeitsrechts-„Reform“ unter Emmanuel Macron. Bericht vom 25.9.2017

Unterdessen verzeichnet die Unterstützung für den Streik zwar in Umfragen bei bürgerlichen demoskopischen Instituten, im Zuge des Heranrückens der Feiertagsperiode, einen leichten Rückgang, wie es auch zu erwarten war. (Vgl. https://actu.orange.fr/) Jedoch äußern auch in diesem Zusammenhang immer noch, laut denselben demoskopischen Institutionen, 51 Prozent der Befragten „Unterstützung" oder „Sympathie“ für die Streikbewegung. - Zuvor war die Unterstützung nach dem Streikbeginn am 05. Dezember d.J. zunächst noch angestiegen, vgl. https://www.marianne.net/

Klar rückläufig ist unterdessen die Unterstützung für die Idee einer „Reform“, deren Konturen im Sinne der Befragten noch zu präzisieren wären. Zwar sind die Umfrageergebnisse bisweilen etwas durchmischt: So ist eine hohe Anzahl der Befragten (67 %) stets gegen das „Scharnieralter“ oder âge-pivot – im Regierungsjargon inzwischen in „Gleichgewichtsalter“ oder âge d’équilibre umbenannt – von 64 Jahren für den Renteneintritt. Doch da die Opposition gegen die Regierungspläne nicht zwangsläufig eine Verteidigung des jetzigen bestehenden Systems beinhaltet (muss auch nicht!), bestehen zugleich demoskopische Mehrheiten für die Aussage, man sei prinzipiell für eine Reform und eine Rentenregelung ohne Sondersysteme. Abstrakt ließe sich darüber ja auch gut diskutieren. Doch da im Konkreten die Regierungsfraktion (zuzüglich der konservativen Oppositionspartei LR, die das Vorhaben im Kern unterstützt und nur eine weniger zögerliche und verfahren wirkende Gangart einfordert) daraus ihren Leitslogan fabrizieren, wächst nunmehr das begründete Misstrauen auch gegenüber dieser allgemeinen Idee. Laut einer am Wochenende durch den Privatfernsender BFM TV (das „B“ steht ursprünglich für business) ausgestrahlten Umfrage ging die Anzahl der „Ja“-Antwortenden von 58 % am 11. Dezember d.J. auf nur noch 52 % bei einer neuerlichen Befragung am 18. Dezember d.J. zurück.

Unterdessen verzichtete Staatsoberhaupt Emmanuel Macron (heute erst 42), von einem Staatsbesuch in der westafrikanischen Côte d’Ivoire aus, am Wochenende demagogisch auf seine künftige Präsidentenrente in Höhe v. 5.184 Euro monatlich. [Zuzüglich seines Verzichts auf einen Sitz im Verfassungsgericht, welcher früheren Staatspräsidenten auf Lebenszeit zusteht und monatlich rund 13.000 Euro Gehalt einträgt.]

Hätte er auch nicht nötig, denn der Mann war – als Investmentbanker – Einkommensmillionär, bevor er 2014 Wirtschaftsminister und 2017 Präsident wurde. Ein streikender Eisenbahner aus dem Pariser Vorort Trappes kommentierte dazu am Wochenende auf dem Bildschirm von BFM TV trocken, falls Macron damit unter Beweis stellen wolle, dass eine Rente überflüssig sei, dann komme seine Botschaft nicht sonderlich gut an.

Editorische Hinweise

Wir erhielten den Beitrag vom Autor für diese Ausgabe.