Politische Theorie und Praxis
Notstand und Widerstand (1968)

Leseauszug aus dem Roman "Über Leben" von Wilma Ruth Albrecht

01/2021

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Am 11. April stand Selma vor der nur angelehnten Haustür des heruntergekommenen roten Sandsteingebäudes, eines ehemaligen stolzen bürgerlichen Miethauses, in der Bismarckstraße in Mannheim.

Es war schon dunkel geworden und nieselte Bindfäden. Auf den Gehwegen hatten sich Pfützen gebildet, in denen sich das Regenwasser mit dem Straßenschmutz sammelte. Sie ärgerte sich, dass sie nicht ihre Jeans angezogen hatte, sondern den modischen Trägerrock mit Rollkragenpullover und Perlonstrümpfen, an denen jetzt viele Schmutzflecken klebten.

Das hätte wohl niemanden von denen, die sie treffen wollte, gestört, doch Selmas Selbstbild einer gepflegten, modischen, modernen jungen Frau mit langem offenen Haar, Make-up, dunklem Lidstrich und hellem Lippenstift verzerrt.

Der Hauseingang, den sie betrat, war nicht beleuchtet. Lediglich ein matter Schein von einer nackten Glühbirne im ersten Obergeschoß fiel in das hölzerne Treppenhaus, an dessen Seitenwand, die mit diversen Plakaten beklebt und politischen Losungen bemalt war, der Putz abblätterte. Am Treppengeländer waren mehrere Verstrebungen ausgebrochen. Hausflur und Treppe hatten schon lange keinen Besen gespürt, Mülltonnen quollen über, davor und darum lagen Papier- und Zeitungsfetzen und viele Zigarettenkippen.

Im ersten Obergeschoß angekommen hielt sie vor einer hohen, halb verglasten Doppeltür, in deren Glasfächer Plakate gegen den Springerkonzern, den Vietnamkrieg und die Notstandsgesetze geklebt waren, seitlich führte ein Klingelzug herab und endete an dem Namensschild „Republikanischer Club Mannheim-Ludwigshafen”.

Der RC Mannheim-Ludwigshafen war eine Folgeorganisation des am 30. April 1967 von SDS, linken SPD- und Gewerkschaftsmitgliedern wie Klaus Meschkat, Ekkehard Krippendorf, Oskar Negt, Knut Nevermann, Horst Mahler, Lothar Pinkell und Künstlern wie Wilfried Neuss
gegründeten Republikanischen Clubs Westberlin, der sich als informelles oppositionelles Zentrum verstand und wie es im Gründungsaufruf hieß, als „Ort, an dem sich frei von Vereinsmeierei und institutioneller Betriebsamkeit jene Leute treffen können, deren Horizont noch nicht auf den der Springer-Zeitungen geschrumpft ist: linke Leute, Leute, die im Parlament niemand mehr vertritt, Leute, die dennoch politisch etwas bewirken und deren Einfluß, deren Aktionsmöglichkeiten erheblich wachsen könnten…”

Im Club sollten Theorien und Strategien der außerparlamentarischen Opposition, Rätemodelle und unterschiedliche Formen direkter Demokratie diskutiert und später in Aktionen wie teach-in, sit-in und go-in auch praktiziert werden. Hier wurden auch Kampagnen wie „Enteignet Springer” oder die Bewegung westdeutscher Deserteure entwickelt. 1967 legten die Internationalen Kriegsdienstgegner ihre Beratungsstelle zur Wehrdienstverweigerung nach Westberlin in die Räume des RC.

Zur gleichen Zeit nutzten auch die immer noch verbotenen Kommunisten die durch die studentischen Proteste aufgebrochene politisch-soziale Erstarrung, um ihre eigenen Kräfte zu sammeln und öffentlich Raum zu gewinnen. In der BASF in Ludwigshafen traten sie schon 1965 mit einer eigenen Liste wieder in Erscheinung und errangen vier Betriebsratssitze, zwei Betriebsräte, Faß und Zimpelmann, wurden sogar freigestellt. Im März 1967 bildete sich ein „Initiativausschuß für die Wiederzulassung der KPD”. In Ludwigshafen bestand ein „Club junger Marxisten” und die linke Jugendzeitschrift „Elan” suchte ihre Leserschaft organisatorisch zusammenzufassen. Da boten sich die Räumlichkeiten des 1967 eröffneten  „Hauses der Jugend” geradezu an.

Auch die Sozialdemokraten wollten ihren Einfluss auf die junge soziale Bewegung erweitern. Im Oktober 1967 referierte der Vorsitzende des RC Westberlin im „Zähringer Löwen” in Mannheim vor 500 Anwesenden, um die Bildung eines regionalen RCs zu initiieren. Am 15. Dezember 1967 konstituierte sich dann der sozialdemokratisch dominierte RC Mannheim-Ludwigshafen, dem Repräsentanten der örtlichen Gewerkschaften wie Max Jäger (DGB), Walter Spargerer (IG Metall), Franz Karg (DGB) und der Universität Mannheim wie die Professoren Martin Irle, Rainer M. Lepsius und Hans Albert angehörten. Der RC erhielt von der Stadt eine Wohnung in dem bezeichneten Abrisshaus in der Bismarckstraße 7 – direkt gegenüber dem örtlichen Polizeipräsidium zugeteilt. Im gleichen Haus richtete auch der bildende Künstler Rudi Baerwind, dessen Werke die Entwicklung vom Spätexpressionismus über den Surrealismus zum Internationalen Stil widerspiegelten, sein „Symposium der Künste” ein und sammelte um sich einige junge Männer, die sich als angehende Schriftsteller und Lyriker verstanden, aber eher seinem Eros schmeicheln sollten.

Selma trat, nachdem ihr ein junger Mann in geflickten, aber sauberen Jeans, kariertem Wollhemd unter dem Strickpullover und dicker Hornbrille geöffnet hatte, in einen schlecht beleuchteten und noch schlechter belüfteten großen Dielenraum, in dem sich auf dem Fußboden und dem wackeligen braunen Holztisch verschiedene Flugschriften, Zeitungen und Plakate stapelten.

Von ihm gelangte man, sich nach links wendend, zu einem durch eine Fassettentür mit bunten Glasscheiben abgetrennten kleinen Saal, ursprünglich wohl der bürgerlicher Salon, der als Seminarraum genutzt wurde. Hier hielt der Universitätsdozent H. Weber seine „Einführung in den Marxismus” ab. Jetzt lag der Raum aber im Dunkeln und ließ nur einige Tische und Stühle - wohl dem Inventar der benachbarten Universität entlehnt - schemenhaft erkennen.

Vom Eingangsbereich zweigte nach rechts ein langer Gang ab, an dem sich beiderseits drei Türen befanden. Eine war geöffnet und ermöglichte den Blick auf einen Schreibtisch mit einer mechanischer Schreibmaschine, auf mehrere Wandregale, auf denen bedruckte Handzettel, Flugblätter und Raubdrucke lagen, sowie auf einen Rolltisch mit einer manuellen Abzugsmaschine.

An den folgenden zwei Türen prangte das Plakat mit den zwei ausgestreckten Armen und dem zerbrochenen Maschinengewehr in den Händen. Hier befand sich also der örtliche Sitz der „Deutschen Friedensgesellschaft Vereinigte Kriegsdienstverweigerer“(DVK).

Der kleine Manfred aus Selmas Partygruppe war nicht nur Mitglied dieser Gesellschaft, sondern auch ständiger Besucher des Büros, denn ihm wurden im Anerkennungsverfahren als Kriegsdienstverweigerer die größten Schwierigkeiten gemacht, während seine ehemaligen Mitschüler vom Mollgymnasium sich relativ problemlos vom Bundeswehrdienst zurückstellen lassen konnten, weil sie zumeist in Heidelberg ihr Studium schon angefangen hatten.

Auch er wollte in Heidelberg studieren, doch seine Eltern weigerten sich für die damit verbundenen Kosten aufzukommen. Der Vater, ein einfacher Hilfsarbeiter bei Böhringer, fand, er habe genügend finanzielle Opfer für seinen Sohn erbracht. Wenn der unbedingt studieren wolle, dann soll er sich sein Studium selbst verdienen. Also musste Manfred erst einmal ein Jahr in der Fabrik arbeiten. Da kam der Einberufungsbefehl, gegen den er sich mit einem Kriegsverweigerungsverfahren krampfhaft wehrte.

Außer Manfred war es auch Wolter, der Selma für den RC warb. Er war ein ehemaliger Schulkamerad aus Volksschulzeiten, den sie zusammen mit Wilfried auf einer der Beattanzveranstaltungen, die seltsamer Weise gerade die Katholische Bonifaz-Gemeinde der Gartenstadt in ihrer Unterkirche veranstaltete, wieder traf.

Der Jugendpriester hatte im Rückenwind der vom Vatikan noch nicht verdammten katholischen Befreiungstheologie von der Kirchenleitung die Erlaubnis abgetrotzt, neue Formen der Jugendarbeit einzuführen. Hierzu gehörte auch, sich den modernen Musikströmungen nicht zu verschließen.

So verpflichtete er verschiedene Beatbands der Vorderpfalz, die einmal im Monat im Keller des Gotteshauses seltsam schrille Gitarrenakkorde und harte Schlagzeugwirbel erzeugten und elektrisch verstärkten.

Tatsächlich fand die aufmüpfige Jugend mit geringem Eintrittsgeld wieder in den Schoß der Kirche zurück. Doch nicht lange, denn die Gottgläubigen fürchteten eine Entzauberung ihrer Rituale, sprachen von Entweihung der Kirche und verbündeten sich mit den umliegenden Reihenhausbewohnern, die sich in ihrer Nachtruhe gestört fühlten.

Wilfried dagegen hatte sich in Ludwigshafen der Gruppe „Junge Marxisten” angenähert. Die organisierte seit Wochen schon den Widerstand gegen die Notstandsgesetze, agitierte die betriebliche Jugend- und gymnasiale Schülervertretung und setzte sich zum Ärger der sozialdemokratischen Stadtverwaltung auch noch in ihrem „Haus der Jugend” als „Club Avantgarde” fest.

Auch an den westdeutschen Hochschulen wurde gegen die Verabschiedung der Notstandsgesetze mobil gemacht. Das „Manifest der Hochschulen gegen die Notstandsgesetze” lag selbst in Mannheim aus und Selma hatte es sogar unterschrieben, zumal auch ihr Professor Dr. Hans Albert es unterstützte, und der war nun wahrlich kein Marxist oder Kommunist sondern so genannter kritischer Rationalist. Er hielt in den Jahren 1966/7 und 1968/9 seine Vorlesung „Wissenschaftslehre I und II”, in der er die Wertungsfrage in den Sozialwissenschaftendiskutierte und Poppers Falsifikationsmethode propagierte, auch an der Universität Mannheim.

„Ist noch niemand da?” fragte Selma verwundert. „Die Notstandsgruppe wollte sich doch heut’ am Samstagabend treffen und ich hab’ mich auf das Thema ‘Innerer Notstand’ vorbereitet.”

Selma schaute enttäuscht. In den letzten Tagen hatte sie sich intensiv mit den Notstandsgesetzen beschäftigt, die Einwände der Schriftsteller Heinrich Böll und Rolf Hochhuth oder der Professoren Rudolf Wiethölter, Helmut Ridder sowie des ehemaligen Bundesverfassungsrichters Martin Draht studiert, zuletzt die Argumentation des Marburger Politologen und Staatsrechtlers Wolfgang Abendroth in fünf Thesen zusammengefasst:


1. Die Notstandsgesetzgebung widerspricht der Grundentscheidung der Verfassungsgeber des Grundgesetzes. Die wollten nämlich keine weiteren Notstandsbestimmungen als die der Artikel 37 GG (Bundeszwang gegenüber den Bundesländern), Artikel 91 GG (Einsatz von Polizeikräften und Bundesgrenzschutz beim Notstand von Bund und Ländern) und Artikel 81 GG (Befugnisse der Regierung bei Gesetzgebungsnotstand) aufzunehmen.

2. Die Notstandsgesetzgebung ist nicht durch Artikel 79 GG gedeckt. Denn Artikel 79,3 GG bestimmt, dass eine Änderung des Grundgesetzes unzulässig ist, wenn dadurch die Gliederung der Länder, ihre Gesetzesmitwirkung oder die Artikel 1 und 20 GG berührt werden. Der mit den Notstandsbestimmungen zu bildende
„Gemeinsame Ausschuss”, der aus Vertretern des Bundestages und des Bundesrates zusammengesetzt werden und das Recht haben soll, den Verteidigungsfall festzustellen und die einfache Gesetzgebung wahrzunehmen, muss als verlängerter Arm der Regierung verstanden werden, weil seine Tätigkeit der Geheimhaltungspflicht und somit der Geheimhaltungssphäre der Bundesregierung unterliegt. Damit ist er von der Öffentlichkeit abgeschottet und kann auch nicht als Kontrollinstanz der Regierung wirken.

3. Die Bestimmungen zum Eingriff der Regierung in das Post- und Fernmeldegeheimnis widersprechen dem Rechtsstaatsprinzip des Artikels 20 GG, weil den Betroffenen der Rechtsweg gegen solche Maßnahmen verwehrt bleibt. Mit dem neuen Artikel 87a des GG wird der Einsatz der Bundeswehr zur Unterstützung der Polizei beim Schutz ziviler Objekte und zur Bekämpfung militärisch bewaffneter Aufständischer zugelassen.

4. Insgesamt verstärkt damit die Notstandsgesetzgebung die Tendenz, das liberaldemokratische Regierungssystem außer Kraft zu setzen und den Weg zu faktisch oligarchischen Machtstrukturen zu öffnen.

5. Die Notstandsgesetzgebung mit ihren detaillierten, viele Grundgesetzartikel erfassenden Regelungen ist für den Bürger undurchschaubar. Sie erweckt nur den Anschein von höherer Rechtsstaatlichkeit. Tatsächlich schwächt sie die Widerstandsmöglichkeiten der Bevölkerung. Auch ohne
faktische Notstandsverkündigung können weitere Restriktionen der Grundrechte vorgenommen werden. Auch der neue Artikel 20,4 GG, der ein Widerstandsrecht proklamiert, beinhaltet bei genauerer Betrachtung kein klassisches Widerstandsrecht gegen staatliche Gewalt, sondern legalisiert mit der Formulierung „gegen jeden” den Angriff auf Oppositionsbewegungen.

Deshalb ist es notwendig zum Sternmarsch „Notstand der Demokratie”am 11. Mai 1968 in Bonn zu mobilisieren.

„Daraus wird wohl nichts”, erklärte der junge Mann. „Schon vor mindestens einer halben Stunde haben sich alle aufgemacht, um nach Heidelberg zu fahren.”

„Warum das denn?” fragte Selma verdutzt.

„Irgendjemand vom Heidelberger SDS hat angerufen und mit dem Mani geredet. Der hat danach von einer wichtigen Aktion gesprochen. Die Heidelberger Genossen forderten Unterstützung. Dann ist die Gruppe mit zwei Autos losgebraust.”

„Was für eine Aktion denn? Hoffentlich kommen die nicht auf die Idee eine Antispringeraktion wie in Berlin zu machen. Das artet nur in Krawall aus …”

„Nah hör’ ‘mal”, wurde sie scharf unterbrochen, „unser Genosse Rudi wurde heute auf offener Straße abgeknallt. Er schwebt in Todesgefahr. Und BILD hetzt weiter. Vor gut einer Woche wurde der Bürgerrechtler Martin Luther King in Memphis in den USA ermordet. Soll das so weiter gehen? Sollen wir das einfach hinnehmen? Die BILD-Hetze muss verhindert werden! Überall muss es Blockaden gegen Druckereien geben, in denen das Revolverblatt hergestellt wird. Auch mit Gewalt, sonst erreichen wir nichts!” meinte er zornig und schlug mit der linken Faust in die offene rechte Hand.

„Heut’ Abend soll also in Heidelberg eine Blockade stattfinden?” fragte Selma naiv.

„Quatsch, die regionale BILD wird doch in Esslingen gedruckt …” Doch dann fügte er, als er merkte, dass er sich verplappert hatte, einschränkend hinzu „soweit ich weiß jedenfalls. Aber ich bin nicht sicher.”

„Ich halte von solchen Aktionen nicht viel. Da kommt es nur zu wildenSchlägereien mit der Polizei. Die ist viel besser ausgerüstet und organisiert. Hier im Club wurden doch immer alternative Protestformen diskutiert. Wäre es nicht intelligenter, einfach den Druck der Zeitung zu verhindern?”, überlegte sie laut. „Entweder indem man an die Druckplatten gelangt und sie zerstört oder indem man die Drucker für sich gewinnt oder …”

„Mensch, bist du aber einfältig”, entgegnete der Jeansträger hochnäsig, „das dauert doch alles seine Zeit. Wir haben aber keine Zeit mehr. Jetzt muss etwas unternommen werden und zwar mit Karacho, damit endlich das Establishment vor Angst in die Hose scheißt.”

„Ich hab’ ein ungutes Gefühl”, sprach Selma mehr zu sich als zu ihrem Gegenüber, verabschiedete sich und trat wieder in den düsteren Hausflur. Als sie die Treppe hinuntereilte, dachte sie: ‘Das wird bestimmt der Kampagne gegen die Notstandsgesetze schaden und die Bewegung spalten. Ob dann mein Bruder noch nachts mit mir durch die Gartenstadt läuft und Handzettel für die Demo klebt …? Wenn die Studenten wieder als Krawallmacher und Steinewerfer im Fernsehen gezeigt werden, zieht der sich zurück … Nun ja, er hat ja auch Familie …’

Wie andernorts gelang es auch in Esslingen das Bechtlehaus mehrere Stunden bis zum anbrechenden Morgen zu blockieren, allerdings die Auslieferung der BILD nur zu verzögern, nicht zu verhindern. Die sogenannten Osterunruhen gingen dabei weit über den Kreis rebellierender Studenten hinaus. CDU-Innenminister Benda erkannte die potentielle Gefahr der Lage, als er am 30. April vor dem Bonner Bundestag erklärte, „wie falsch es wäre, die Gewaltaktionen als Studentenunruhen zu bezeichnen.

*

Als Selma am 11. Mai 1968, einem regnerischen Samstag, kurz nach neun Uhr am Mannheimer Hauptbahnhof aus der Straßenbahn stieg, sah sie eine Gruppe junger Leute vor der Hauptpost stehen.

Die Hauptpost war ein mächtiges Gebäude, das sich längs der Heinrich-Lanz-Straße bis zur Ausfallstraße zur Autobahn und entlang der Friedrichsfelder Straße erstreckte. Die dem Bahnhofvorplatz zugewandte Fassade zeigte ein dreistöckiges, von vielen hohen Fenstern durchbrochenes Gebäude mit einem gewaltigen Portikus, der von je zwei Säulen, die bis zum dritten Stock reichten und einen Balkon trugen, eingerahmt wurde.

Vor dem Gebäude waren viele PKW-Parkplätze ausgewiesen und drei davon mit zwei alten Volkswagen und einem Fiat 500 belegt. Mit diesen Fahrzeugen wollte die Gruppe nach Bonn fahren, um an der Demonstration gegen die Notstandgesetze teilzunehmen.

‘Nun’, dachte Selma, ‘die Massen hat der Gregor nicht mobilisiert. Gerade vierzehn oder fünfzehn Personen. Aber meine eigene Kampagne war ja auch nicht von Erfolg gekrönt.’

Vor zwei Tagen war sie bepackt mit vierzig Plakaten mit schwarz-rotgoldenem Rand und schwarzem Aufdruck „Treibt Bonn den Notstand aus. 11. Mai Sternmarsch auf Bonn ‘68” auf weißem Grund durch die Planken von Geschäft zu Geschäft gegangen und bat darum, dass man das Plakat aushängen möge. Die Ladenbesitzer und Verkäufer waren durchaus freundlich, die meisten lehnten ihr Ansinnen auch nicht ab und einige wenige hängten das Plakat tatsächlich in das Schaufenster. Selma war stolz.

Doch als sie eine Stunde wieder die Planken entlang ging, um ihren Agitationserfolg zu genießen, musste sie betroffen und enttäuscht feststellen, dass kein einziges Plakat zur Notstandsdemonstration mehr aushing.

‘Vielleicht hätten wir uns doch mit der AVANTGARDE zusammentun sollen, wie ich angeregt hab’, kam es ihr in den Sinn. ‘Aber der Gregor lehnte die Zusammenarbeit mit traditionellen Linken oder gar Kommunisten ab. Er bezeichnet sie als Betonköpfe, Stalinisten, ja links gewendeten Faschisten. Wahrscheinlich ist das aber nur vorgeschoben’, grübelte sie, ‘denn bei den Ludwigshafener Jugendlichen kann er nicht als Wortführer auftreten.’

Außerdem hatten die einen Bus gemietet, während man sich hier mit eigenem PKW auf dem Wege machen wollte - wozu besaß man denn seinen Führerschein und ein Auto, sei es auch alt und gebraucht.

Währenddessen war Selma an das Hauptpostamt gelangt und winkte Mani und Marlene zu, die vor einem Fiat standen, auf dessen Rückfenster von innen ein mit der Hand geschriebenes Spruchband mit der Aufschrift „Benda, wir kommen!” prangte.

„Wird aber Zeit, dass du endlich eintrudelst”, schnauzte sie Gregor an und forderte die fünf Mark Benzingeld. Dann wandte er sich an die Gruppenmitglieder, die alle ordentlich mit leichter Flanellhose, Sakko, Pullover oder Hemd mit Krawatte bekleidet waren - nur zwei trugen einen so genannten Parka - und bezeichnete anhand eines Stadtplanes feste Treffpunkte in Bonn.

Nachdem Transparent und Plakattafeln umgeschichtet waren, saß endlich auch Selma unbequem, weil eingezwängt, zwischen den beiden Kunststudenten Paul und Heiner, auf dem Rücksitz des VWs, den Heinz chauffierte.

Die Fahrt über die Autobahn Frankfurt - Limburg - Bonn war beschwerlich, zumal das alte, voll besetzte Auto nur mit Mühe die Steigungen erklimmen konnte.

Endlich nach dreieinhalb Stunden kam man in Bonn an. Auf dem Rheinufervorland in Beuel waren Parkplätze ausgewiesen, Ordner leiteten die ankommenden Pkws und Busse zu den mit Zahlen markierten Standorten und achteten darauf, dass Zufahrtswege nicht versperrt wurden.

Auf der Rheinbrücke, die für den motorisierten Verkehr gesperrt worden war und auf der nur noch die Straßenbahnen verkehrten, wimmelte es von Demonstranten, die alle von Beuel zur Universität und zum Hofgarten strömten.

Seltsamerweise waren die meisten Geschäfte geschlossen und viele Rollläden heruntergelassen worden, denn die örtliche CDU hatte in Hauswurfsendungen die Bonner aufgefordert:„Halten Sie ihre Türen geschlossen, wenn die Demonstranten zu Diskussionen in ihre Wohnungen eindringen wollen!”

Das hatten diese aber überhaupt nicht im Sinne. Stattdessen tönte es lautstark durch die Gassen der Innenstadt: „Bürger lasst das Gaffen sein - kommt herunter, reiht Euch ein!” Nicht nur von Beuel, sondern auch vom kleinen Hauptbahnhof, der Koblenzer Straße und der Poppelsdorfer Allee strömten die Demonstranten zum Hofgarten hinter dem Schloss. Sie führten, Fahnen, Schilder und Spruchbänder mit sich, auf denen u. a. zu lesen war „Benda mit dem Notstandsknüppel haut das Grundgesetz zum Krüppel” oder „Notstand - Benda – Freiheitsschänder” und skandierten lachend:  „Lasst das Grundgesetz in Ruh - SPD und CDU” oder „Benda! Wir kommen!!!”

Die Wiese des Hofgartens war schwammig nass, denn es hatte den ganzen Vormittag geregnet und auch jetzt, als Selma eintraf, nieselte es weiter. Sie suchte deshalb Schutz unter den Bäumen, nachdem sie mit Heinz und den anderen Autoinsassen über den weiten Platz auf der Suche nach der Gruppe gestreift war und sie tatsächlich gefunden hatte.

Der Hofgarten war schon gut mit Demonstranten gefüllt, annähernd 40 000 hieß es, doch noch immer drängten Menschengruppen auf den Platz. Eingefunden hatten sich in der Mehrzahl junge Leute, viele Studenten und Schüler, aber auch politisch erfahrene Männer und Frauen mittleren Alters ließen sich ausmachen, man sah sogar vereinzelt Rollstuhlfahrer.

Doch die organisierte Arbeiterschaft fehlte, nicht nur weil die SPD, die die Notstandsgesetze mittrug, vor der Teilnahme am Sternmarsch warnte, sondern auch weil der DGB am gleichen Tag zu einer eigenen Veranstaltung in Dortmund aufgerufen hatte, zu der 15 000 Menschen kamen. Nachdem den Gewerkschaften, die noch ein Jahr zuvor auf dem 7. Ordentlichen Bundeskongress des DGB am 14. Mai 1967 mehrheitlich die Notstandsgesetze abgelehnt hatten, eine Arbeitskampfschutzklausel in Artikel 9.3, Satz 3 GG zugestanden worden war, distanzierte sich die Mehrzahl der Funktionäre von der jungen studentischen Protestbewegung und vom Komitee „Notstand der Demokratie”, das sie als kommunistisch unterwandert wähnte. Folglich traten in Bonn auch kein offizieller Gewerkschafts-funktionär und auch - außer dem Bundestagsabgeordneten der FDP Wilfried Dorn - kein gewählter Politiker als Redner auf, sondern nur Intellektuelle wie Professor Helmut Ridder, der Vorsitzende des Verbandes Deutscher Studentenschaften (VDS), Christoph Ehmann, der SDS-Vorsitzende Karl Heinz Roth und die Schriftsteller Erich Fried und Heinrich Böll.

Diese waren zwischenzeitlich auf die Bühne, die an der Rückseite des Schlosses aufgebaut worden war, getreten und warteten unter ihren Regenschirmen darauf, dass endlich die Übertragungstechnik mit den verschiedenen Lautsprechern funktionierte. Die meisten Demonstranten interessierte, was Böll ihnen zu sagen habe, denn er besaß hohes moralisches Ansehen unter der Jugend. Auch Selma schlich sich an der Bühne vorbei, um den Schriftsteller mit der Baskenmütze aus der Nähe zu sehen.

Doch was er dann sagte, fand nicht bei allen anwesenden Gegnern der Notstandsgesetze Zustimmung. Zuerst erntete er noch großen Applaus:

„Als Person aufgrund meiner Erfahrung mit verschiedenen Notständen der deutschen Geschichte bin ich der Überzeugung, dass Notstände – was hier bedeutet Krieg oder Bürgerkrieg – durch Gesetze nicht zu regeln sind. Das Bösartige an dieser Gesetzesvorlage ist außerdem, dass ihre letzte Fassung bis vor wenigen Tagen fast geheim gehalten, dass die Öffentlichkeit fast gar nicht informiert wurde. Das Gesetz erscheint den meisten Bürgern dieses Staates als eine Art Verkehrsregelung bei Naturkatastrophen, während es in Wahrheit fast alle Vollmachten für eine totale Mobilmachung enthält.”

Am Ende seiner Rede kam es zu lautstarkem Protest, als er ausführte:

„Sollte es zur Verabschiedung kommen, so lassen Sie sich nicht zu gewaltsamen Aktionen hinreißen oder verleiten. Sie müssen sich verständlich machen - so artikulieren, dass die Gesellschaft, die sie verändern wollen, zum Gespräch gezwungen wird.”

Unter den Buhrufern befanden sich auch die beiden Kunststudenten und Gregor, wogegen Selma heftig und zustimmend Beifall klatschte, denn sie hatte mitbekommen, dass nach den Springeraktionen ihr Bruder nicht mehr mit ihr Antinotstandsaufrufe klebte.

Nach dem Ende der Veranstaltung im Hofgarten machten sich die Demonstranten wieder auf den Rückweg zum Bahnhof oder zum großen Parkplatz auf der anderen Rheinbrücke. Allerdings nun nicht mehr in einem langen Bandwurm, sondern eher als vereinzelte Gruppen, denn die Gastwirte in der Bonner Innenstadt entschieden sich angesichts des friedlichen Verlaufes der Großkundgebung ihre Gaststuben und Cafés dochnoch zu öffnen. Ein sicheres Geschäft konnte jetzt auch kein CDU- Flugblatt mehr verhindern.

Auch die Gruppe um Selma suchte ein Gasthaus auf, um sich mit heißem Kaffee, Tee oder Grog aufzuwärmen, denn das Warten, Stehen und Umhergehen im Nieselregen hatte die Kleidung durchnässt.

„Wann geht’s denn zurück”, fragte Marlene in die Runde.

„Wir warten erst einmal ein zwei Stunden ab, bis sich der Verkehr auf der Autobahn entzerrt hat”, erklärte Mani, der keine Lust hatte mit seinem kleinen Fiat und kochendem Kühlwasser im Stau zu stehen.

„Nichts da”, entschied Gregor. „Der SDS hat zu einem Teach-in in der Beethovenhalle aufgerufen. Dahin machen wir uns in etwa einer Stunde auf, jedenfalls ich, der Heinz und die anderen, die mit den VWs gefahren sind. Nach so einer Demonstration können wir uns doch nicht einfach, als sei nichts geschehen, ins Bett legen und schlafen.”

Selma allerdings wäre lieber nach Hause gefahren, doch sie wagte nicht Gregor zu widersprechen und schloss sich ihm und den anderen frierend an, als sie zur nahen Beethovenhalle am Rhein schlurften. Dort wurde es ihr aber sehr schnell warm, denn die Halle war schon eine Stunde vor dem offiziellen teach-in überfüllt. Zuerst wurden die Reden, die im Hofgarten gehalten worden waren, analysiert, diskutiert und kritisiert. Viele meldeten sich zu Wort, selbst noch, als alles schon gesagt war.

Dann wurde in der erhitzten Atmosphäre der Vorschlag - von wem er kam, konnte später niemand mehr genau sagen - aufgegriffen, einen nächtlichen Notstandsmarsch zum Innenministerium oder zum Polizeipräsidium zu unternehmen. Auch darüber wurde lautstark debattiert.

Doch plötzlich sprang Hannes Heer, der gerade aus Paris kommend in Bonn eingetroffen war, auf das Podium, demaskierte den nächtlichen Notstandsmarsch als gefährliche Provokation, trug eine Solidaritätsresolution für die kämpfenden Studenten in Paris vor und ließ darüber abstimmen. Diese Resolution sollte noch in der Nacht in der Französischen Botschaft in Bad Godesberg abgegeben werden.

Tatsächlich formierte sich gegen 22 Uhr ein 4 000 Menschen umfassender, polizeilich nicht angemeldeter und genehmigter Demonstrationszug. Doch er kam nicht in Bad Godesberg an. Denn ein erneuter Regenguss ernüchterte die übermüdeten und durchnässten jungen Leute.

Auch Gregor, Heinz, die beiden Kunststudenten Paul und Heiner sowie Selma drehten schon an der Rheinbrücke ab, um schnell zu ihren Autos zu eilen und die Rückfahrt anzutreten.

Vergeblich wartete der von der geplanten Aktion unterrichtete Verwaltungsdirektor der Französischen Botschaft bis weit nach Mitternacht auf die Übergabe der Resolution des SDS.

Nachwort der Autorin

In der sogenannten „68er-Bewegung“ bündelten sich verschiedene Strömungen: die Studentenbewegung, die auf Reform des westdeutschen Universitätswesens mit der Umwandlung der Eliten- zur Breiten-Hochschulausbildung zielte und eine freiere Lebensführung wünschte, die Antikriegsbewegung, in der sich alte Friedensbewegte mit der jüngeren, international ausgerichteten Anti-Vietnam-Krieg-Bewegung verband; und die traditionelle (bürgerliche und sozialistische) Demokratiebewegung, die gegen immer massivere Bestrebungen, das Grundgesetz der BRD zu unterhöhlen (5-Prozent-Wahlklausel, Wiederbewaffnung, Geheimdienste, Westorientierung) kämpfte.

Diese Bewegungen konnten in der Kampagne gegen die Notstangsgesetze zusammengefasst werden, um dem konzentrierten Angriff der herrschenden Kräfte auf das Grundgesetz, dem Grundkompromiß der antimilitaristischen und antifaschistischen Kräfte im Nachkriegsdeutschland und dem Erbe der Verfassung der 1848er Revolution, zu begegnen.

Wilma Ruth Albrecht
Ende Dezember 2020

dr.w.ruth.albrecht@gmx.net
 

Editorischer Hinweis

Den Text erhielten wir von der Autorin für diese Ausgabe. Er stammt aus:

Wilma Ruth Albrecht
ÜBER LEBEN. Roman des Kurzen Jahrhunderts.
Dritter Band. Ein dokumentarischer Bildungsroman
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eutlingen-Heidenheim: Verlag Freiheitsbaum, 2017, S. 26-41.