Bernard Schmid  berichtet aus Frankreich

Einschätzungen zu Ereignissen
im Dezember 2020

01/2021

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Der Urteilsspruch zu den terroristischen Anschlägen gegen ,Charlie Hebdo‘ und einen jüdischen Supermarkt

Das Gericht habe „eine uneinnehmbare Festung“ errichten wollen. So lautete die Metapher, die die Anwältin Laurence Cechmann – Vertreterin der Hinterbliebenen zweier jüdischer Attentatsopfer, Yoav Hattab und Michel Saada – wählte, um die am Mittwoch Abend (16.12.20) gefallene Entscheidung des Sondergerichts zu den beiden Geiselnahmen und Mordserien vom Januar 2015 zu beschreiben.

Zwölf Opfer kamen damals in der Redaktion der Satirezeitung Charlie Hebdo zu Tode und vier weitere, rund 48 Stunden später, im jüdischen Supermarkt HyperCacher am südöstlichen Stadtrand von Paris. Einen der Erschossenen dort, Yohan Cohen, ließ der Attentäter Amédy Coulibaly über eine Stunde lang mit dem Tod kämpfen, wie Cohens Schwester erst im Laufe der Verhandlung erfuhr. Zu den Erschossenen hinzu kommt eine Reihe von Schwerverletzten aus den Räumen von Charlie Hebdo. Die dort tätigen beiden Mörder, Chérif und Saïd Kouachi, waren ebenso von jihadistischer Ideologie motiviert wie Coulibaly. Alle drei kamen bei einer Erstürmungsaktion durch Einsatzkräfte der Polizei bzw. Gendarmerie ums Leben: Coulibaly am Ort der Tat, die Kouachi-Brüder in einer Druckerei rund fünfzig Kilometer nördlich von Paris, in die sie sich geflüchtet hatten.

Die durch die Anwältin benutzte Metapher bezieht sich darauf, dass das Gericht genau darauf achtete, das Strafmaß abzustufen, je nach dem Näheverhältnis oder fehlender Nähe der Angeklagten zu den Haupttätern; insbesondere zu Coulibaly. Denn manche der elf anwesenden Angeklagten – daneben wurde gegen drei weitere Personen in Abwesenheit verhandelt – kannten den späteren Geiselnehmer und Mörder vom HyperCache ziemlich gut, insbesondere aus den Zeiten der so genannten „Sekte aus der Waschküche“ (secte de la buanderie). So bezeichnete man in Häftlingskreisen eine Gruppe von Strafgefangenen, die zu Anfang des vorigen Jahrzehnts in der Gefängniswäscherei der Haftanstalt von Villepinte einige Kilometer nördlich von Paris beschäftigt waren und sich dort regelmäßig trafen. Gemeinsam begannen sie in jener Zeit, sich in eine radikal-islamistische Ideologie hineinzusteigern und sich dabei gegenseitig zu bestärken.

Damals saßen die Beteiligten wegen Verstößen gegen das allgemeine Strafrecht hinter Gittern und waren zuvor noch nicht mit jihadistischen, ideologisch motivierten Aktivitäten in Erscheinung getreten. Das sollte sich später bei mehreren von ihnen ändern.

Zu ihnen zählt der 35jährige Nezar Mickaël Pastor Alwatik. Ihm, dem verunsicherten jungen Mann, beschaffte der unter Mitgefangenen als charismatisch geltende und bereits voll zur salafistischen Ideologie bekehrte Coulibaly sogar eine Ehefrau mit entsprechender Gesinnung. Zur Komplexität der Situation gehört allerdings, dass eben diese Ehefrau eine ziemlich andere Auffassung von der Religionsauslegung hatte als Alwatik selbst. Dieser zeigte sich vor allem von der Gewaltdimension, die jedenfalls bestimmte Versionen des Salafismus predigen, angezogen. Er betrachtete jedoch die mit derselben Ideologie einhergehenden, zahlreichen religiös bedingten Einschränkungen im Alltagsleben hauptsächlich als störend. Er beschwerte sich schon nach kurzer Zeit bitterlich darüber, mit einer „Ninja-Schildkröte“ verheiratet zu sein, eine Wortwahl unter Anspielung auf ihre Verhüllung. Umgekehrt konnte seine Ehefrau mit der Gewaltaffinität ihres Ehemanns sowie des befreundeten Ehepaars, bestehend aus Amédy Coulibaly und dessen heute mutmaßlich in Syrien flüchtiger Witwe Hayat Boumeddiene, wenig anfangen. Boumeddienne verdächtigte sie laut eigenen Worten, zu den „Takfiristen“ zu zählen, also jenen Salafisten, die andere Muslime zu angeblichen kafir (Ungläubigen) erklären – diese Form der Exkommunikation bezeichnet man als takfir - , weshalb die Ehefrau Gespräche mit ihr abbrach.

Vor Gericht nun, wo sie am dreißigsten Verhandlungstag als Zeugin geladen war, belastete die frühere Gattin Alwatik aus eigenen Stücken schwer: Gewalt, auch im Namen der Religion, sei in dessen Vorstellungswelt allgegenwärtig gewesen. Er, der sich mit allen Kräften gegen eine nähere Bindung an Coulibaly verwahrte und behauptete, dessen Ideologie nie geteilt zu haben, sondern lediglich sein Freund gewesen zu sein, rief im Gerichtssaal aus: „Auch ich bin ein Kollateralopfer dessen, was dieser Bastard getan hat“. Dieser habe ihm statt einer treusorgenden Ehefrau nur Probleme eingebrockt. Seine vormalige Ehefrau, die zu den Ersten zählte, die den ideologischen Faktor und seine Bedeutung im Laufe der Verhandlung klar benannten, bezeichnete er als „verrückt“. Zu den Besonderheiten seines persönlichen Umfelds gehörte, dass Alwatiks ältere Schwester zum Judentum konvertiert und mit einem jüdischen Mann verheiratet ist, während die Eltern beim gemeinsamen Heranwachsen sowohl die christliche als auch die muslimische Religion zu Hause praktizieren. Bei familiären Treffen habe sie nie seltsame Reaktionen bei dem Bruder wahrgenommen, sagte sie aus. Wie viele Angehörige der Angeklagten nahm auch sie ihr Familienmitglied tendenziell in Schutz.

Andere der seit dem 02. September 20 auf der zweiten Etage des neuen, 38stöckigen Pariser Zentralgerichtsgebäudes erscheinenden Angeklagten wurden wiederum „nur“ als Waffenhändler verfolgt, die nicht oder mutmaßlich nicht um die terroristischen Ziele ihrer Kunden Kouachi und Coulibaly wussten. Entsprechend konnten diese Beschuldigten auch nicht als Beihelfer (complices), denen die terroristischen Absichten der heute toten Haupttäter ebenfalls zugerechnet werden können, verurteilt werden - sondern „lediglich“ wegen sonstiger Straftaten, etwa Verstößen gegen das Waffengesetz. Letztere sind natürlich ebenfalls strafbar, weisen jedoch keine spezifische ideologische Komponente auf, weshalb die besonders schwere strafrechtliche Qualifikation als „terroristisch“ bei diesem Teil der Angeklagten ausschied. Benötigt eine Terrorismus-Anklage doch zwingend das Element eines besonderen Vorsatzes.

Die Schwierigkeit der hauptamtlichen Richter, die das Sondergericht zusammensetzten – aufgrund der terroristischen Komponente bestand es anders als sonstige Gerichtsformationen, die über besonders schwere Taten ab einer Strafdrohung von zehn Jahren Haft zu urteilen haben, nicht zusätzlich aus per Los ausgewählten Geschworenen – bestand darin, die Grenze zwischen den beiden Gruppen innerhalb der Angeklagten zu ziehen.

In ihrem Beschluss hielten die Richter nun bei sechs der insgesamt vierzehn (an- oder abwesenden) Angeklagten den terroristischen Vorsatz für erwiesen und ein entsprechendes Strafmaß fest; gegen einen siebten wurde eine Verfahrenseinstellung verhängt, Mehdi Belhoucine, weil er sehr wahrscheinlich in Syrien zu Tode kam.

Zu ihnen zählen der mit Alwatik genau gleichaltrige Hauptangeklagte Ali Riza Polat, ein in Istanbul geborener Kurde, der gleichermaßen seine ideologische Implikation von Anfang bis Ende vergeblich abstritt, und die in Abwesenheit verurteilte Witwe Boumedienne mit je dreißig Jahren Haft. Riza Polat wurde als einziger der (elf) anwesenden Angeklagten der vorsätzlichen direkten Beihilfe zu den Anschlägen schuldig gesprochen. Er war im Prozess durch Wutausbrüche aufgefallen und hatte am 34. Verhandlungstag mit den Worten « Du wirst bezahlen! » eine als Zeugin aussagende Ermittlerin bedroht, eine ideologische Motivation aber abgestritten. Das Gericht sah es jedoch als erwiesen an, dass er im Wissen um dessen Vorhaben Coulibalys Komplize war. Überdies versuchte er kurz nach den Morden nach Syrien einzureisen, scheiterte dabei jedoch und wurde vom Libanon abgeschoben. Dumm gelaufen. Kurz darauf scheiterte auch ein Versuch der Flucht nach Thailand.

Der seinerseits erfolgreich nach Syrien (ins IS-Gebiet) geflohene, möglicherweise tote Mohamed Belhoucine erhielt als Anstifter und Hintermann lebenslänglich. Auch Amar Ramdani, mit zwanzig Jahren Haft, wurde als bewusst agierender Terrorhelfer angesehen. In seinem Fall steht noch die Frage ungeklärt die Raum, ob nicht doch er selbst und nicht sein Begleiter Coulibaly es war, der in der Woche vor der Attacke auf HyperCacher einen Jogger schwer verletzte, als Amédy Coulibaly in der Nähe seines vorbeugend angemieteten Verstecks die Schusswaffen erprobte. Ramdanis DNA klebte an der bei dem Jogger benutzten Waffe.

Der als erschwerender Tatumstand geltende Vorwurf des Judenhasses konnte jedoch aus juristischen Gründen nicht in ihre jeweiligen Urteile einfließen. Dafür hätte nachgewiesen werden müssen, dass alle Motive und Kenntnisse über Umstände des Haupttäters – in diesem Falle Coulibaly – auch bei den Beihelfern vorlagen, dass diese also auch die genaue Zielauswahl kannten. Zusätzlich hielt das Gericht schriftlich fest, für den Tatbestand der Geiselnahme sei Rassismus oder Antisemitismus als das Strafmaß erhöhender Umstand erst 2017 in das Strafrecht aufgenommen worden, zuvor war dies bei Tötungs-, Körperverletzungs- und Äußerungsdelikten der Fall. Selbst falls die Beihelfer wussten, dass Coulibaly eine Geiselnahme plante, was schwer nachzuweisen ist, kann die Strafrechtsverschärfung jedoch aus grundlegenden rechtsstaatlichen Gründen keine Rückwirkung entfalten. Jedoch kam der Judenhass als Tatmotiv beim Vorgehend Coulibays mehrere Woche lang ausführlich zur Sprache, die französische Zeitung La Voix du Nord bezeichnete ihn am 04. Dezember 20 als „wesentliche Bedingung für die historische Dimension dieses Prozesses“.

Hingegen erhielten sieben wohl ausschließlich als Waffenbeschaffer ohne ideologische Beweggründe aufgetretene, rein kriminelle Angeklagte zwischen vier und zehn Jahren Haft. Bei ihnen wurde die Qualifikation als „terroristisch“ nicht festgehalten. Aller Wahrscheinlichkeit nahm nahmen sie schwere Straftaten ihres Waffenkunden billigend in Kauf, wussten jedoch nichts über dessen besondere Tatgründe

Zu den juristischen Qualifizierungsfragen kamen weitere Probleme hinzu, etwa die der mehrwöchigen Unterbrechung des Anfang September nach der Sommerpause beginnen Verfahrens. Am 31. Oktober 20 wurde es ausgesetzt, nachdem einer der mit Abstand am schwersten belasteten und im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehenden Angeklagten, Riza Polat, nachweislich an der Lungekrankheit Covid-19 erkrankt war. Nachdem dieselbe Erkrankung auch nochbei drei weiteren Prozessteilnehmern auf der Anklagebank feststellt wurde, schickte sich das Gericht zunächst sogar an, die Verhandlung per Videokonferenz mit Übertragung in die Haftanstalt fortzusetzen, was eine soeben im Zuge der Pandemie erlassene Sonderverordnung der Regierung zum Strafprozessrecht vom Oktober ausdrücklich erlaubt. Dies rief heftige Proteste seitens der Verteidigung hervor, aber aufgrund des öffentlichen Interesses zum Teil auch in den Medien. Letztendlich wurde der Prozess nach mehrwöchiger Pause am 02. Dezember 20 im Gerichtssaal wieder aufgenommen, bis zur Urteilsverkündung am vorigen Mittwoch, den 16. Dezember 20.

Einer der Angeklagten - Riza Polat - hat angekündigt, Berufung gegen seine Verurteilung einzulegen. Zumindest für ihn dürfte es also ein zweites Verfahren geben. Seine Hauptverteidigerin, Isabelle Coutant-Peyre, ist durchaus eine politisch einschlägig bekannte Figur: Sie heiratete den in Frankreich rechtskräftig verurteilten internationalen Terroristen venezolanischer Herkunft Ramirez Ilitch Sanchez alias „Carlos“ (vgl. zu ihm und seinen ideologischen Geisterfahrten durch Frankreich: https://jungle.world/ )) agierte zwar in den 1970er und 1980er Jahren hauptsächlich als Söldner vorgeblich säkularer arabischer Diktaturen in Libyen, in Syrien und im Irak, unter anderem im angeblichen Namen der palästinensischen Sache und des Antiimperialismus, war also kein Jihadist. Er verfasste jedoch aus der Haft 2003 auch ein Buch unter dem programmatischen Titel „Der revolutionäre Islam“. Coutant-Peyres Linie in der Strafverteidigung lief darauf hinaus, „die wahren Schuldigen“ hätten gar nicht auf der Anklagebank gesessen, sondern seien gedeckt worden. Ihre Äußerung zielt dabei vor allem auf den französischen Rechtsextremen Claude Hermant ab, der mutmaßlich eine wichtige Rolle bei der Waffenversorgung des Jihadisten Coulibaly spielte, wahrscheinlich aus einer „Strategie der Spannung“ hinaus, die zum „Rassenkrieg“ führen solle. Hermant wurde nicht in dem jetzigen Prozess unter Anklagte gestellt, da er bereits in der Vergangenheit wegen Waffenhandels rechtskräftig verurteilt wurde und nicht erneut wegen derselben Fakten verfolgt werden konnte. Mehrere der Verteidiger beriefen sich deswegen jetzt auf ihn, um zu behaupten, die Wahrheit über Hintergründe der Tat werde durch die Prozessführung verschleiert.

Die Witwe des bei Charlie Hebdo ermorderten Zeichners Wolinski – Madame Maryse Wolinski - erklärte dazu, sie sei sich nicht sicher, ob sie auch an einem zweiten Verfahren in der Berufung gegen Riza Polat teilnehmen werde. Sie habe im soeben abgeschlossenen Verfahren „weder Erleichterung noch (inneren) Frieden gefunden. Charlie Hebdo wird im Januar 21 einen Band mit Zeichnungen und Texten zu dem mehrmonatigen Prozess veröffentlichen.

Editorische Hinweise

Wir erhielten den Beitrag vom Autor für diese Ausgabe.  Eine gekürzte Fassung erschien in der Weihnachts-Ausgabe der Berliner Wochenzeitung ‚Jungle World‘.