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Produktionsweise der Beschleunigung
Der Kapitalismus macht den Weg frei für die unendliche Geschwindigkeit

von Heiko Balsmeyer

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Der Kapitalismus ist eine Produktionsweise der Beschleunigung. Alle gesellschaftlichen Verhältnisse müssen sich dem Zwang zur Geschwindigkeitssteigerung unterwerfen, damit das Kapital möglichst schnell und reibungslos akkumulieren kann. Die Natur und auch der Mensch als Teil der Natur stellen Hindernisse für das Kapital dar, soweit sie mit der gerade erreichten Akkumulationsgeschwindigkeit nicht mithalten können. Menschen brauchen zu ihrer Regeneration Phasen der Ruhe, während das Kapital danach strebt, die Produktionsmittel 24 Stunden am Tag in Betrieb zu halten. Der Geldvermehrung sollen sich möglichst wenig Hindernisse in den Weg stellen, deren Beseitigung Zeit erfordern würde. Aus der Perspektive der Geschwindigkeit ist der Kapitalismus ein Programm zur Zerstörung des Lebendigen.

Karl Marx hat im Kapital darauf hingewiesen, dass die kapitalistische Produktionsweise permanent revolutioniert wird, um die Produktivkraft der Arbeit zu erhöhen. Eine wichtige Möglichkeit zur Erhöhung der Produktivität der Arbeit ist ihre Beschleunigung. Das Motiv für den einzelnen Kapitalisten ist dabei die Jagd nach Extramehrwert, der "ununterbrochene Fluss von Wissenschaft und Technik" kommen ihm dabei zur Hilfe. Verallgemeinert wird die neue Produktionsgeschwindigkeit durch das "Zwangsgesetz der Konkurrenz".

Energetisch ermöglicht wurde die Geschwindigkeitssteigerung durch die Substitution biologischer Energiequellen durch solche fossilen Ursprungs. Durch den Einsatz der fossilen Energieträger Kohle, Öl und Gas konnte die Produktionsleistung pro Zeiteinheit um ein Vielfaches gesteigert werden, gleichzeitig wurde die Produktion auf diese Weise aus räumlichen Bindungen gelöst und verstetigt. Ein Wasserkraftwerk ist schließlich an ein Gewässer gebunden, Segelschiffe brauchen Wind zur Fortbewegung. Negativer Nebeneffekt der massenhaften Verbrennung fossiler Energieträger ist die Beschleunigung des Klimawandels, der auch als ein Phänomen der Geschwindigkeitsüberlagerung interpretiert werden kann, denn die Veränderung des Klimas droht die Anpassungsgeschwindigkeit von Menschen, Pflanzen und Tieren zu übersteigen. Der Kollaps der Evolution ist die mögliche Folge.

Auch die Endlichkeit fossiler Energieträger ist Resultat der Überlagerung verschiedener Geschwindigkeiten. Die Menschheit verbrennt soviel fossiles Material wie zuvor in einer Millionen Jahren durch Prozesse der Mineralisierung in der Erdkruste aufgebaut wurden. In der ökonomischen Theorie werden diese Ressourcen so behandelt, als ob sie nie versiegen könnten. Man nimmt also an, sie könnten sich unendlich schnell regenerieren. Diese Phänomene zeigen, dass die kapitalistische Produktionsweise der Beschleunigung an die Grenzen der Geschwindigkeit der Umwelt stößt. Wolfgang Sachs spitzt zu, "...die Akkumulationsgeschwindigkeit des Kapitals steht im Konflikt mit der Regenerationsgeschwindigkeit der Natur" und erinnert damit an ein bekanntes Zitat von Karl Marx aus dem ersten Band des Kapitals: "Die kapitalistische Produktion entwickelt daher nur die Technik und Kombination des gesellschaftlichen Produktionsprozesses, indem sie zugleich die Springquellen alles Reichtums untergräbt: die Erde und den Arbeiter" (Marx).

Welche Auswirkungen hat die Geschwindigkeitssteigerung auf die Individuen? Sie werden gestresst und es droht ein totaler Orientierungsverlust, weil an zu vielen Orten gleichzeitig gehandelt werden müsste. Es kommt zur postmodernen Hetze, die notwendigerweise mit Oberflächlichkeit und Überforderung verbunden ist. Die Synchronisationsprobleme nehmen zu, was sich alleine schon daran zeigt, wie schwierig es geworden ist, einen gemeinsamen Termin zu verabreden und einzuhalten. Da die Zeit zur Reflexion verkürzt wird, etwa auch beim Expressabitur, nimmt auch die Unsicherheit zu, weil immer größere Mengen von Informationen und Wissen verarbeitet werden müssen und ältere Wissensbestände beschleunigt aus der Mode kommen. Die Fähigkeit zur Selektion wird daher immer wichtiger. In Unternehmen und Verwaltungen werden Arbeitsgeschwindigkeiten in allen Bereichen weiter erhöht. Da alle Sicherheiten durch permanente Innovationen und Modenwechsel kurzfristig über den Haufen geworfen werden, ist Zukunftsgestaltung schwierig.

Beispiele dafür, wie Individuen mit der zunehmenden Unsicherheit durch beschleunigte Veränderung der Lebensbedingungen umgehen, liefert Richard Sennett in Der flexible Mensch. Er schreibt: ?Persönliche Ängste sind tief mit dem neuen Kapitalismus verknüpft.?, wobei klarzustellen ist, dass Ängste immer mit dem Leben in einer kapitalistischen Gesellschaft verbunden waren. Vermutlich ändert sich die Art und die Intensität der Ängste. Eine dominierende Angst ist die Sorge um den Arbeitsplatz bzw. die Angst, überhaupt Zugang zum Arbeitsmarkt zu bekommen. Die permanente Drohung des individuellen Scheiterns dient als Peitsche zur Leistungssteigerung. Verbunden damit ist die Angst, den Anschluss zu verpassen, vor allem den Anschluss an das mit erhöhter Umschlagsgeschwindigkeit zirkulierende Wissen.

Erste Abschätzungen über die Zirkulation von Wissen im Internet haben Peter Lyman und Hal Varian vorgenommen. Alle Web-Seiten zusammen brauchen heute etwa 21 Terabyte (21.000 Gigabytes) Speicherplatz. Allein die jährliche Produktion an Druckerzeugnissen, Film sowie optisch oder magnetisch gespeicherten Inhalten würde 1,5 Milliarden Gigabytes besetzen. Die Dominanz der USA drückt sich auch im Informationsoutput aus, denn 25 Prozent der gedruckten Informationen, 30 Prozent aller Bilder und die Hälfte aller digitalen Inhalten sind Made in USA. Die von dieser Informationslawine ausgelöste Reizüberflutung hat bei den RezipientInnen eine Vielzahl psychischer Erkrankungen zur Folge.

Ungeachtet dieser Tatsache bleibt der Mehrheit der Menschheit der Zugang zu Beschleunigungstechnologien verwehrt. Über ein Auto verfügen acht Prozent der Weltbevölkerung und 3 Prozent über einen Computer, lediglich ein Fünftel der Menschheit kann ein eigenes Telefon nutzen. Geschwindigkeit ist also eine verborgene Seite des Reichtums, sie besteht in der Relation der Schnellen zu den Langsamen. Dieses Verhältnis ist aber nicht neutral. Die Schnellen behindern die Langsamen, sie setzen ihren Anspruch auf Geschwindigkeit gegen die Langsamen durch. Wenn beispielsweise der ICE durchrauscht muss der Interregio warten. Dies zeigt, dass das System Bahn auf die Höchstgeschwindigkeitszüge ausgerichtet wird.

Paul Virillo definiert zu diesem Zusammenhang in Revolutionen der Geschwindigkeit ein »dromologisches Gesetz«: "...jede höhere Geschwindigkeit grenzt zuerst niedrigere Geschwindigkeiten aus, um sie dann zu verdrängen." Genau das droht den Menschen in der Peripherie, sie werden abgehängt bzw. gar nicht erst verlinkt. Warum das der Fall sein könnte, bringt Christina Thürmer-Rohr zum Ausdruck: "Die Armen der Welt stellen nicht mehr die »Reservearmee«, die für die Rückkehr in die Wertproduktion bereit stehen muss. Die Armen der Welt sind nicht mehr die Ausgebeuteten, die den Warenüberschuss produzieren, der später in Kapital verwandelt wird, sondern sie haben keinen Nutzen mehr, sie werden ganz und gar überflüssig."