Materialien für einen neuen Antiimperialismus
Aphorismen über die Perspektiven des Weltsystems und des Euro-Blocks
von Karl Heinz Roth

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1.

Das herausragende Merkmal des aus den Umbruchkonstellationen von 1973 und 1990 hervorgegangenen Weltsystems ist die Stabilität und lange Dauer des Wirtschaftszyklus. Die gegenwärtige "lange Welle" der strategischen Unterbeschäftigung wirkt deshalb so paradox, weil sie auf Konzeptionen und Investitionsstrategien zurückgeht, die gegen die antizyklische Staatsintervention und die aus ihr hervorgegangenen weltwirtschaftlichen Regulierungsinstrumente gerichtet waren. Es ist ihren Protagonisten zunehmend gelungen, die über ein selbstverwaltetes capital budget verfügenden politischen Klassen der westlichen Nationalstaaten, der staatskapitalistischen Nomenklaturas und der Entwicklungsländer im Ergebnis umfassender Deregulierungsmaßnahmen aus den sozioökonomischen Steuerungsprozessen auszuschalten. Die früheren Agenturen der Weltwirtschaftspolitik (IMF, Weltbank, GATT, OECD) sind inzwischen Instrumente einer weltweit operierenden Deregulierungsstrategie. Die staatskapitalistische Zone befindet sich in einer irreversibel gewordenen Auflösung. Die politischen Klassen des Westens sind zu Handlangern des share holder value transformiert. Von den Entwicklungsregimes der Peripherie sind nur noch War Lords übrig geblieben.

Wer deshalb die innere Dynamik und die paradox erscheinenden Stabilisierungseffekte des gegenwärtigen Weltsystems erklären will, muß zu aller erst herausfinden, warum es trotzdem in der Lage ist, die klassische Abfolge von Wachstum und Depression beziehungsweise von Konjunkturen und Krisen zunehmend einzuebnen und die an den klassischen Theorien der kapitalistischen Entwicklungsdynamik orientierten Kollaps-Prophezeiungen der Kritiker ad absurdum zu führen.

2.

Die Zyklusstabilität des neuen Weltsystems ist  allen bisherigen ökonomischen Theorien zum Trotz - das Ergebnis der weltweit fortschreitenden Ausbreitung der Rentiersschichten, die die Kapitalsphäre unter ihre Kontrolle gebracht haben und dem Diktat wachsender Dividendenumverteilungen in die Vermögenssphäre unterwerfen. Die Manager der Kapitalsphäre sind zu Handlangern des share holder value degradiert und operieren nur noch nach den Kriterien kurzfristig maximierter Eigenkapitalrenditen, wofür der weltweite Untergang der Arbeiterbewegung aller Schattierungen eine unabdingbare Voraussetzung bildete. Daraus erklärt sich die Tatsache, daß die in den 1990er Jahren durchgesetzten Netzwerkunternehmen der alten und neuen Technologien jetzt gnadenlosen Selektions- und Fusionsprozessen ausgesetzt sind. Die Kapitalsphäre schrumpft relativ, jedoch stehen den immer größer werdenden Sektoren der Kapitalvernichtung Akkumulationszentren gegenüber, deren Profitraten dauerhaft über den Prosperitätsperioden der vergangenen fordistisch-keynesianischen Etappe liegen. Diese Verschränkung von Stagnation und forcierter Kapitalbildung findet ihren statistischen Assdruck in unterdurchschnittlich, aber kontinuierlich steigenden Wachstumsraten. Aus wirtschaftstheoretischer Perspektive bedeutet das, daß Krise und Prosperität nicht mehr voneinander getrennt sind, sondern zusammenfallen, daß also Kapitalbildung und Kapitalvernichtung in ihrer wechselseitigen Verschränkung den Zyklus konfigurieren und dadurch die unaufhörliche Freisetzung technologischer Innovationen ermöglichen. Noch nie ist das Ideal der "schöpferischen Zerstörung" dem Kapitalzyklus so immanent gewesen wie gegenwärtig.

Die langfristige Stabilisierung dieser beschleunigten Dynamik ist jedoch nur dadurch gewährleistet, daß ein entscheidender äußerer Faktor hinzukommt: Ihre Verschränkung mit einem expandierenden "dritten" Sektor des unproduktiven Konsums außerhalb der Kapitalsphäre. Als unproduktive Konsumenten verzehren die Rentiers wachsende Teile des aufgrund der weltweiten Klassenblockaden nicht mehr anlage- und akkumulationsfähigen Kapitals. Sie verfügen über eine wachsende kaufkräftige Nachfrage, ohne jedoch selbst zu produzieren und dadurch zu neuen Kapitalbildungsprozessen beizutragen. Sie übernehmen die Rolle der Rüstungsökonomie des Kalten Kriegs im Sinn eines "dritten Sektors" zur externen Stabilisierung der Kapitalakkumulation. Je größer die Rentierssphäre des unproduktiven Luxuskonsums wird, desto kontinuierlicher können die Prozesse der Kapitalbildung mit Prozessen der konsumtiven Kapitalvernichtung kombiniert und verstetigt werden. Dieser kapitalvernichtenden Einrahmung der extrem dynamisch gewordenen Kapitalsphäre "von oben" entspricht eine wachsende Einrahmung "von unten", nur daß die aus der Kapitalbildung herausgeworfenen Bewohner der Gecekondus, favelas und barrios im Gegensatz zu den Rentiers der unproduktiven Luxussphäre über keine Kaufkraft verfügen und deshalb massenhaften Pauperisierungsprozessen unterworfen sind.

3.

Die neue herrschende Schicht der share holders ist im Gegensatz zu den Couponschneidern vergangener Zeiten sehr dynamisch und greift aktiv in die Wirtschaftsprozesse ein. Sie betrachtet ihre Aktivitäten zur Steigerung der aus dem Zyklus abgezweigten und in der Vermögenssphäre illiquide gemachten beziehungsweise konsumierten Extraprofite als anstrengendes Geschäft. Sie ist jedoch von der Kapitalakkumulation abgetrennt und unterscheidet sich von den durch sie unterworfenen Managern sowie den Lohnabhängigen der new und old economies dadurch, daß sie keine neue Wertschöpfung dirigiert beziehungsweise hervorbringt.

Die neue global herrschende Klasse der share holders ist gleichwohl janusgesichtig. Obwohl sie nur den dritten unproduktiven Sektor verwaltet und mit ihren umverteilten Revenuen die neuen kulturellen, wissenschaftlichen und mentalen Werte des neuen Weltsystems hervorbringt, ist sie das Idol der Unternehmer und selbständigen Arbeiter der Informations- und Kommunkationstechnologien. Die zu Web site-Unternehmern aufgestiegenen Hacker treiben das System der (Selbst-)Ausbeutung auf die Spitze, weil sie es für eine Übergangserscheinung halten, die für sie unabdingbar erscheint, um dereinst selbst in den Status des unproduktiven Rentiers überzuwechseln. Trotz der aktuellen Reinigungskrise der neuen Technologien glauben sie fest daran, daß sie dieses Ziel eines Tags tatsächlich auch erreichen werden. Solange das so ist, bleibt die neue Klasse der share holders unangreifbar, weil sie nicht nur den Kapitalzyklus als unproduktive Konsumentenschicht verstetigt, sondern auch den wichtigsten ökonomischen Sektor des neuen Weltsystems mental unter Kontrolle hat. Diese Kontrolle bezieht die neuen Arbeitsverhältnisse mit ein, denn die IT-Sphäre ist der Leitsektor der neuen Arbeitsverhältnisse, von dem ausgehend die Arbeitsmärkte und Ausbeutungsbedingungen grundsätzlich konfiguriert werden. Das Bedürfnis der Ausgebeuteten, nicht mehr arbeiten zu müssen, um sich reproduzieren zu können, ist durch seine Anbindung an das Leitbild des unproduktiv konsumierenden Luxus-Rentiers pervertiert.

4.

Alle sozioökonomischen Prozesse finden gegenwärtig weltweit statt, sie werden ausgehend von den führenden vier- bis fünfhundert Standorten gesteuert und aufeinander abgestimmt. Die von den dortigen global players, den Rentiers und Managern der Investmentgesellschaften arbeitsteilig betriebene Erosion der Nationalstaaten als den bisherigen Schnittstellen von gesellschaftlicher Reproduktion und politischer Macht schreitet weiter voran. Ihr Endziel ist die Durchsetzung einer neoliberalen Weltrepublik im Sinn globalisierter Vereinigter Staaten, mit einem weltweit wirksamen Prinzip des work fare gegen die eigentumslosen Armen und einem damit gekoppelten Gulag-System, das am prison business der USA orientiert ist.

Dieses Ziel ist jedoch mittelfristig nicht durchsetzbar. Deshalb suchen die weltweit agierenden Netzwerkunternehmen und Investmentgesellschaften gegenwärtig, die Nationalstaaten von mehreren Seiten aus gleichzeitig in die Zange zu nehmen. Dabei werden drei Tendenzen weiter forciert, um einerseits die Beziehungen zu den Zulieferketten der Wertschöpfung grenzüberschreitend auszubauen und andererseits die Herrschaftsgrenzträger des reorganisierten Weltsystems kulturell und mental unter Kontrolle zu bringen:

  • Regionale, ethnozentristische und tendenziell neofaschistische Kontexte der Kapitalreproduktion werden vorangetrieben und in einzelnen Prosperitäts- und Stagnationszonen exemplarisch getestet
  • Die Ausformung von Supranationalstaaten wird beschleunigt. Auf die Integration ihrer Ökonomien und die Fixierung migrationsabweisender Außengrenzen folgt die Bildung von Währungsblöcken und die verstärkte Kooptation von Beitrittsaspiranten in den umgebenden Staatengürteln.
  • Die Varianten a) und b) werden miteinander kombiniert, um einerseits innerhalb der sich herausbildenden supranationalen Machtblöcke die bisherigen nationalstaatlichen Grenzregionen zu verwischen (Beispiel: sogenannte Euroregionen innerhalb der Europäischen Union); andererseits sollen Zentrifugalkräfte gegen die neuen supranationalen Machtzentren gebildet werden, die die langfristige Option zur neoliberalen Weltrepublik offenhalten.

5.

In den vergangenen Jahren haben die internationalen Rentiers und Investmentgesellschaften gegen den Euro spekuliert, weil sie seit Beginn der 1990er Jahre die Stabilität des Weltsystems mit der uneingeschränkten Weltherrschaft der USA gleichsetzen. Sie haben sich jedoch nicht durchgesetzt, weil der zehnjährige Prosperitätszyklus der USA an sein Ende gelangt ist und nicht ohne die Aufwertung der anderen Weltwirtschaftszentren verlängert werden kann. Deshalb wird sich das Weltsystem aufgrund der endgültigen Einführung des Euro währungs- und zunehmend auch machtpolitisch duplizieren. Diese Entwicklung war bis vor kurzem noch offen gewesen, erscheint jedoch inzwischen unumkehrbar.

Damit stellt sich die Frage nach dem Sinn und der künftigen Ausgestaltung dieser "Doppelherrschaft". Sie kann je nach den internationalen Kräftekonstellationen der nächsten Jahre entweder als Kopie des US-amerikanischen Akkumulationstyps durchgesetzt werden, oder sie wird sich als spezifische territoriale Variante der globalen Kapitalakkumulation etablieren.

Im letzteren Fall würde das bedeuten, daß die Migrationsströme weiterhin zurückgewiesen werden, das Schengener Grenzregime also weiter ausgebaut wird, weil keine zu weitgehende Unterschichtung der innereuropäischen Klassenverhältnisse durch Migrantinnen und Migranten angestrebt wird. Statt dessen soll ein gewisser Standard der sozialen Sicherungssysteme zur relativen Abfederung der Existenzrisiken der ;Lohnabhängigen und Eigenmtumslosen erhalten bleiben, was mit der Beibehaltung beziehungsweise begrenzten Wiedereinführung einer supranational gesteuerten antizyklischen Intervention identisch wäre.

Dagegen würde bei einer Kopie der Programmatik des international dominierenden Neoliberalismus und der ihr am weitesten entsprechenden Praktiken der US-Ökonomie das Schengen-Regime ein Stück weit gelockert, weil Migrationsschübe und die durch sie ausgelöste weitere Unterschichtung der Klassenverhältnisse eine beschleunigte Deregulierung der sozialen Umverteilungssysteme begünstigen. Dadurch würde gleichzeitig im Anschluß an die voraufgegangene Wirtschaftsintegration und die aktuelle Währungsvereinheitlichung der dritte Schritt getan, den die global players im Sinn einer Nivellierung des Weltsystems von den europäischen Politikern fordern.

6.

Welche der beiden Varianten sich durchsetzen wird, ist wesentlich von den binneneuropäischen Machtverhältnissen abhängig. Als wichtigste Binnenmächte gerieten Deutschland und Frankreich in den vergangenen Jahren zunehmend miteinander in Konflikt. Die französische Wirtschaftspolitik spielt seit einiger Zeit die Rolle einer europäischen Lokomotive. Ihre Stabilität rührt im wesentlichen von der partiellen Wiedereinführung antizyklischer Umverteilungsmechanismen her, mit der die französischen herrschenden Klassen auf die Massenkämpfe der 1990er Jahre reagierten. Gegen diesen "Bourdieu-Effekt" läuft die verstärkt auf neoliberale Deregulierung setzende deutsche herrschende Klasse seit einiger Zeit Sturm und versucht, durch ordnungspolitische Maßnahmen und als selbsternannte Schutzmacht der EU-Erweiterung in Richtung Ostmittel- und Südosteuropa ihre aus den Ereignissen der Jahre 1989/90 resultierende politische Vormachtstellung innerhalb Europas institutionell und strukturell unumkehrbar zu machen. Der Ausgang dieses Machtkampfs ist noch offen, obwohl immer deutlicher wird, daß die Schröder-Fischer-Regierung Frankreich in die Ecke drängt. Der Zynismus dieses Machtspiels zeigt sich schlaglichtartig in ihrer Parole, 1789 sei durch 1989 endgültig überholt. Wenn sich die deutschen herrschenden Klassen in den nächsten Jahren durchsetzen, wird sich die Schengener Grenze in mehreren Etappen nach Ost- und Südosteuropa vorschieben und zugleich neue innereuropäische Migrations- und Ausbeutungsgefälle hervorbringen.

27.1.2001