Sie wissen es genau
Ein Glaubenssatz hält sich in der Debatte um Rechtsextremismus hartnäckig: Dass insbesondere Jugendliche zu wenig über den Nationalsozialismus und seine Verbrechen informiert seien. In Wirklichkeit wissen gerade jugendliche Neonazis genau Bescheid. Ein Plädoyer gegen die nutzlose Pädagogisierung des Holocaust

von Hartmut Welzer

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Wie alle Umfrageergebnisse belegen, weiß nur eine Minderheit der Deutschen mit dem Begriff "Auschwitz" nichts anzufangen. Ob sich an den gravierenden rechtsradikalen Tendenzen in der deutschen Gesellschaft fundamental etwas ändern würde, wenn auch sie mit verbessertem Geschichtswissen ausgestattet wird, darf man bezweifeln.

Man sollte vielleicht viel eher das Problem ins Auge fassen, dass trotz der erreichten Verbreitung von Geschichtswissen eine beträchtliche Zahl von Menschen, und vor allem von Jugendlichen, es für gut oder zumindest für tolerabel hält, wenn Ausländer und Angehörige von anderen Minderheiten angegriffen und getötet werden. Wenn sechzig Prozent der ostdeutschen Jugendlichen fremdenfeindliche Übergriffe "für eigentlich nicht so schlimm halten" und mehr als vierzig Prozent der Auffassung sind, dass die "Deutschen anderen Völkern überlegen seien" (Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 15. September 2000), dann sollte der Hintergrund aufgehellt werden, in dem solche Meinungen entstehen. Und dies wiederum wird nur möglich sein, wenn man den sozialen und emotionalen Bedingungen auf die Spur kommt, die rassistische und menschenfeindliche Haltungen und Handlungen attraktiv machen.

Der Historiker Ulrich Herbert hat kürzlich mit Recht darauf hingewiesen, dass man nichts über die SA wissen muss, um ein Bewusstsein dafür zu haben, dass man Asylbewerberheime nicht anzündet und ausländisch aussehende Mitbürger überfällt. Wohl aber kann man in sozialen Umfeldern aufwachsen, die praktisch vermitteln, dass Gewalt gegen Schwächere legitim ist; und man kann mit Geschichten, Bildern und Vorstellungen vom Dritten Reich groß werden, die auf vielen Ebenen ein anderes Bewusstsein über diese Zeit erzeugen, als das, was die Geschichtsbücher vermitteln möchten.

Die von der Volkswagenstiftung finanzierte Studie "Tradierung von Geschichtsbewusstsein" ist der Frage nachgegangen, was "ganz normale West- und Ostdeutsche aus der NS-Vergangenheit erinnern", wie sie darüber sprechen, und was davon auf dem Weg kommunikativer Tradierung an die Kinder- und Enkelgenerationen weitergegeben wird. In 40 Familiengesprächen und 142 Interviews wurden die Familienmitglieder sowohl einzeln als auch gemeinsam nach erlebten und überlieferten Geschichten aus dem Dritten Reich gefragt.

In diesen Gesprächen werden insgesamt 2.535 Geschichten erzählt. Nicht wenige davon verändern sich auf ihrem Weg von Generation zu Generation so, dass aus Antisemiten Judenbeschützer und aus Gestapobeamten Widerstandskämpfer werden. Bemerkenswerterweise nämlich nutzen besonders die Enkel jeden auch noch so entlegenen Hinweis ihrer älteren Verwandten, um Versionen der Vergangenheit zu erfinden, in denen diese stets als integre, gute Menschen auftreten.

Dieser Vorgang lässt sich als "kumulative Heroisierung" bezeichnen, und er kommt in 26 der 40 befragten Familien vor. In der Familie Krug zum Beispiel erzählt die Großmutter, wie sie nach der Befreiung des Lagers Bergen-Belsen mit einem Trick verhindert hat, dass ehemalige jüdische Häftlinge bei ihr einquartiert wurden - weil sie diese "widerlich" fand: "Also die Juden waren die Schlimmsten. Also die haben uns richtig schikaniert. Wissen Sie, die setzten sich hin, die ließen sich bedienen von uns." Noch heute erzählt sie stolz, wie sie damals vorgab, dass "alles schon voll mit Russen" sei, um die Einquartierung der "Juden zu vermeiden".

Ihr Sohn erzählt eine Geschichte, die er von seiner verstorbenen Ehefrau kennt. Die arbeitete auf einem Gut in der Nähe von Bergen-Belsen und hörte dort, dass die Gutsherrin Flüchtlinge aus dem Lager versteckte. Diese Person bezeichnet Bernd Hoffmann als "Oma": "Ein Jahr war meine Frau in Belsen aufm Bauernhof. Da sind sie direkt vorbei. Die Oma hat dann welche versteckt, in einem Holzkessel haben die gesessen. Dann sind sie gekommen: ,Hier muss sich einer versteckt haben.' Da hat sie einen heißen Topf draufgesetzt mit kochenden Kartoffeln, auf die Holzkiste, dass sie den nicht gekriegt haben."

Die Enkelin schließlich fügt diese beiden Geschichten zusammen und berichtet, wie ihre eigene Oma unter Einsatz ihres Lebens noch in der NS-Zeit einen entflohenen Häftling aus Bergen-Belsen versteckt: "Das fand ich dann irgendwie ganz interessant, dass unser Dorf dann ja schon auf dieser Strecke nach Bergen-Belsen lag, und dass sie dann schon mal irgendwen versteckt hat, der halt geflohen ist von irgend so nem Transport, in irgend ner Getreidekiste hat die den dann echt versteckt. Und es kamen halt auch Leute und haben den gesucht bei ihr aufm Hof, und sie hat da echt dicht gehalten. Das ist so eine kleine Tat, die ich ihr echt total gut anrechne."

Kumulative Heroisierungen vollziehen sich oft verblüffend schnell und umstandslos, und insgesamt gestalten sie ein Bild vom Nationalsozialismus, in dem die "Nazis" immer die anderen waren. "Juden" übrigens kommen in deutschen Familiengesprächen nur bis zu ihrer "Ausreise" vor. Interessant ist auch, dass im Gespräch zwischen den Generationen rassistische Stereotypen tradiert werden. Die Gesprächspartner verweisen fast automatisch darauf, dass jene jüdischen Deutschen, die man kannte, "ausreisen" konnten, weil sie vermögend waren. Im Übrigen seien "die Juden" "abgehauen" oder hätten "sich aus dem Staub gemacht".

Die ostdeutsche Zeitzeugin Frau Haase berichtet, dass "die Judenkinder irgendwie anders als wir [waren]. Der eine Junge, der war so feige, der hatte immer Angst und sagte: ,Bitte nicht! Bitte nicht!' So devotisch."

Derlei Erzählungen zeugen von einer bis heute fehlenden Empathie; Verfolgung, Enteignung und Deportation sind einfach Tatbestände, die nicht weiter zu problematisieren sind. In der Sicht der Kinder und Enkel tauchen zum Teil dieselben Stereotypen auf: Jüdische Familien "sind ja noch vor Kriegsbeginn ausgewandert nach Amerika, die dann später wiedergekommen sind, große Geschäftsleute".

Ähnlich ungebrochen wie die Zeitzeugen verwenden auch einige Angehörige der Kindergeneration die nationalsozialistischen Kategorien der "Halb-" oder "Vierteljuden", und beiläufig wird in den Interviews auch zwischen "den Juden" und "den Deutschen" unterschieden: "Juden waren eigentlich die besten Geschäftsleute [...]. Überall große Geschäfte, und die Deutschen haben da gearbeitet."

So wie die antijüdischen Maßnahmen einfach gegebene Tatbestände sind, so weiß man in den Interviews und Familiengesprächen über Zwangsarbeiter auch nur zu berichten, ob sie gut oder schlecht gearbeitet haben, und dass man immer gut zu ihnen gewesen sei, jedenfalls bis zum Kriegsende. Von diesem Zeitpunkt an, so wird erzählt, haben sich besonders die Polen und die Russen schlecht gegenüber den Deutschen benommen, und es drängt sich der Eindruck auf, als zeige die nationalsozialistische Propaganda über die "bolschewistischen Untermenschen" bis heute nachhaltige Wirkung.

Diese kurzen Hinweise und Beispiele mögen einen Eindruck davon geben, wie NS-Verbrechen in deutschen Familien erinnert werden: nämlich durchaus nicht als Verbrechen. Die Erzählungen und Beschreibungen stoßen bei den Kindern und Enkeln nur höchst selten auf Widerspruch, umso häufiger aber auf Zustimmung. Das Geschichtswissen, das Jugendliche über diese Zeit haben, wird anscheinend entweder gar nicht damit in Verbindung gebracht, was in der Familie erzählt wird, oder aber es kommt zu unheilvollen Verbindungen wie der folgenden.

Der 21-jährige Bernd Siems erzählt, weshalb er gern Dokumentationen zum Dritten Reich anschaut: "... wie die die Menschen begeistert haben! Das war doch klasse, wie die das geschafft haben. Wie sie alle geschrieen haben ,Heil Hitler' und ,Sieg Heil!' ... Wie stark dann dieses Volk war. Denn die haben ja alle Angst vor uns gehabt."

Beispiele wie dieses zeigen, dass das Vorhandensein von Geschichtswissen und der Gebrauch, den man von ihm macht, zwei verschiedene Dinge sind. In den Familien werden emotional getönte und durch konkrete Personen verbürgte Gewissheiten tradiert, die den Rahmen bilden, in dem das Wissen gedeutet und gebraucht wird.

Ein Ruf nach mehr Aufklärung geht von der irrigen Annahme aus, dass emotionale Gewissheiten durch rationale Argumentationen aufzubrechen seien, und wenn diese Annahme zutreffend wäre, dann dürften weder die Astrologie noch die anderen Spielarten von Esoterik in unserer verwissenschaftlichten Gesellschaft eine Rolle spielen. Es ist eine alte sozialpsychologische Erkenntnis, dass das Aufzeigen der Irrationalität einer Überzeugung dann unwirksam ist, wenn diese mit einem starken Affekt gepaart ist.

Vor diesem Hintergrund mutet es zynisch an, wenn gewalttätigen Jugendlichen zu Aufklärungszwecken NS-Gedenkstättenbesuche verordnet werden, die sie selbst als Ansschauungsunterricht ganz eigener Art verstehen. Zum Beispiel, wenn sie im Vollbesitz ihres Geschichtswissens überlebende Zeitzeugen fragen, ob sie denn die Gaskammern wirklich mit eigenen Augen gesehen haben.

Es mutet insbesondere dann als zynisch an, wenn ihnen durch Sanktionen solcher Art der Eindruck vermittelt wird, dass die von ihnen ausgeübte Gewalt etwas relativ Harm- und Folgenloses ist. Das Problem besteht nicht in mangelnder Aufklärung, sondern im Fehlen einer gesellschaftlichen Praxis, die im sozialen Nah- und Fernbereich deutlich macht, dass bestimmte Rede- und Handlungsweisen gegenüber anderen Menschen nicht tolerabel sind. Gegenwärtig begehen die Täter ihre Taten in einem ihnen gegenüber höchst gewogenen Umfeld. Und sie begehen sie genau deshalb, weil sie wissen, was sie tun.

HARALD WELZER, Professor für Sozialpsychologie an der Universität Hannover, hat mehrere Forschungsprojekte zur Tradierung der NS-Vergangenheit geleitet. Zum Thema schrieb er das Buch: "Verweilen beim Grauen. Essays zum wissenschaftlichen Umgang mit dem Holocaust". Edition Diskord, Tübingen 1997, 155 Seiten, 28 Mark

Quelle: taz Magazin Nr. 6357 vom 27.1.2001