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Das Herrschaftssystem des „Finanzkapitals": Rudolf Hilferding

Von Werner Hofmann
02/02
 
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Eine erste und auch heute noch bemerkenswerte systematische Untersuchung des „organisierten Kapitalismus" von marxistischer Seite hat Rudolf Hilferding (1877-1941), einer der führenden Köpfe der deutschen Sozialdemokratie vor und nach dem ersten Weltkrieg, mit seinem Buche „Das Finanzkapital" von 1910 vorgelegt (1). Der Gedankengang läßt sich in seinen Grundzügen folgendermaßen wiedergeben.

l. Aktiengesellschaft und Gründergewinn

„Die bisherige Ökonomie hat den Unterschied zwischen Einzelunternehmen und Aktiengesellschaft vornehmlich bloß in der Verschiedenheit der Organisationsform und den daraus unmittelbar sich ergebenden Folgen gesucht. . . . Doch hat sie es unterlassen, auf die grundlegenden ökonomischen Unterschiede der beiden Unternehmungsformen einzugehen, obwohl diese von entscheidender Wichtigkeit sind für das Verständnis der modernen kapitalistischen Entwicklung, die ohne den Sieg der Aktiengesellschaft und dessen Gründe gar nicht begriffen werden kann. Die industrielle Aktiengesellschaft» . . bedeutet.. . eine Änderung der Funktion des industriellen Kapitalisten. Denn sie bringt grundsätzlich mit sich, was beim Einzelunternehmen nur zufällig einmal eintreten kann: die Befreiung des industriellen Kapitalisten von der Funktion des industriellen Unternehmers" (S. 120).

Damit ändern sich die Eigentumsbeziehungen:

„Durch die Verwandlung des Eigentums in Aktieneigentum wird der Eigentümer zum Eigentümer minderen Rechts. . . . Die wirkliche Verfügung über das Produktionskapital steht Leuten zu, die nur einen Teil desselben wirklich beigesteuert haben" (S. 155 f.).

Die Überlegenheit der Kapitalgesellschaft gegenüber dem freien Eigentümer wird sinnfällig in der ökonomischen Kategorie des „Gründergewinns". Wie vor ihm schon K. Marx („Das Kapital", III/14, S. 250), so zeigt auch Hilferding:

Die Konkurrenz um die verschiedenen Anlagesphären „nähert den Preis der Aktie dem Preis der festverzinslichen Anlagen an und reduziert für den Aktionär das Erträgnis vom industriellen Profit auf den Zins. . . . Soweit also die Aktienunternehmung reicht, wird jetzt die Industrie betrieben mit einem Geldkapital, dessen Verwandlung in industrielles Kapital für diese Kapitalisten nicht den Durchschnittsprofit, sondern nur den Durchschnittszins abzuwerfen braucht" (S. 123 f.).

Es ist diese „Differenz zwischen . . . dem Kapital, das die Durch-schnittsprofitrate, und dem, das den Durchschnittszins abwirft . . ., die als .Gründergewinn' erscheint, eine Quelle des Gewinns, die nur aus der Verwandlung des profittragenden in die Form des zinstragenden Kapitals entspringt" (S. 127).

„Die Wachstumsenergie der Aktiengesellschaft ist damit eine bedeutend größere als die der Privatunternehmung" (S. 148).

Dementsprechend ist auch die Aktie „Revenuetitel, Schuldtitel auf künftige Produktion, Ertragsanweisung. Indem dieser Ertrag kapitalisiert wird, und dies den Preis der Aktie konstitutiert, scheint in diesen Aktienpreisen ein zweites Kapital vorhanden zu sein. Dieses ist rein fiktiv. Was wirklich existiert, ist nur das industrielle Kapital und sein Profit" (S.125).

„Einmal geschaffen, hat die Aktie mit dem wirklichen Kreislauf des industriellen Kapitals, das sie repräsentiert, nichts mehr zu tun" (S. 129).

Indem dieses „fiktive" Kapital von dem eigentlich wirkenden, im Produktionsprozeß gebunden industriellen Kapital sich ablöst, wird die Mobilisierung des Kapitaleigentums sehr erleichtert. - Die Form des Akteneigentums erlaubt es Großaktionären, mit einem Bruchteil des benötigten Gesamtkapitals vor allem verschachtelte Konzerngesellschaften zu majorisieren (vgl. S. 138 ff.).

2. Die Rolle des Bankkapitals

Die Mobilität des „fiktiven" Kapitals ist auch die Voraussetzung für die zunehmende Macht der Banken:

„Mit der Entwicklung des Bankwesens, mit der immer enger werdenden Verflechtung der Beziehungen zwischen Bank und Industrie verstärkt sich die Tendenz, einerseits die Konkurrenz der Banken untereinander immer mehr auszuschalten, andererseits alles Kapital in der Form von Geldkapital zu konzentrieren und es erst durch die Vermittlung der Banken den Produktiven zur Verfügung zu stellen. In letzter Instanz würde diese Tendenz dazu führen, daß eine Bank oder eine Bankengruppe die Verfügung über das gesamte Geldkapital erhielte.

Eine solche ,Zentralbank' würde damit die Kontrolle über die ganze gesellschaftliche Produktion ausüben" (S. 234).

Die Überlegenheit des „Geldhandlungskapitals" über das „industrielle Kapital" - beide Begriffe übernimmt Hilferding von Marx - kommt darin zum Ausdruck, daß die Banken auf Grund ihrer Emissions- und Spekulationstätigkeit einen wachsenden Teil des Gründergewinns an sich ziehen:

„Je stärker die Bankenmacht, desto vollständiger gelingt die Reduktion der Dividende auf den Zins, desto vollständiger fällt der Gründergewinn der Bank zu" (S. 157).

Mit der Konzentration der Industrie wächst auch die der Banken (S. 302 ff.). Die „Abhängigkeit der Industrie von den Banken" nimmt nach Hilferding zu:

„Ein immer wachsender Teil des Kapitals der Industrie gehört nicht den Industriellen, die es anwenden. Sie erhalten die Verfügung über das Kapital nur durch die Bank, die ihnen gegenüber den Eigentümer vertritt. Andererseits muß die Bank einen immer wachsenden Teil ihrer Kapitalien in der Industrie fixieren. Sie wird damit in immer größerem Umfang industrieller Kapitalist. Ich nenne das Bankkapital, also Kapital in Geldform, das auf diese Weise in Wirklichkeit in industrielles Kapital verwandelt ist, das Finanzkapital" (S. 305).

„Ein immer größerer Teil des in der Industrie verwendeten Kapitals ist Finanzkapital, Kapital in der Verfügung der Banken und in der Verwendung der Industriellen" (S. 306).

3. Die Einschränkung der freien Konkurrenz und ihre Folgen für die Kapitalbildung

„Der Zweck der kapitalistischen Produktion ist der Profit. Die Erzielung möglichst großen Profits ist Motiv für jeden Einzelkapitalisten, wird die Maxime seines ökonomischen Handelns, die aus den Bedingungen des kapitalistischen Konkurrenzkampfes mit Notwendigkeit entspringt. Denn der Einzelkapitalist kann sich nur behaupten, wenn er ständig danach strebt, seinen Konkurrenten nicht nur gleich, sondern auch überlegen zu bleiben. Dies kann er nur, wenn es ihm gelingt, seinen Profit über den Durchschnitt zu steigern, also Extraprofit zu erzielen" (S. 238).

Dieses Trachten drängt die Unternehmungen zu den verschiedensten Formen des Zusammenwirkens oder des Zusammenschlusses. Hiermit geht die Unterordnung des vielfach zersplitterten Handels unter die überlegenen industriellen Anbieter einher.

„Mit der Kartellierung und Trustierung erreicht das Finanzkapital seine höchste Machtstufe, wahrend das Handelskapital seine tiefste Erniedrigung erlebt" (S. 306).

Die Kartelle ziehen auch einen Teil des Profits der nichtkartellierten Wirtschaftszweige an sich. So wird die Tendenz zum Ausgleich der Profitraten, die Marx - im Anschluß an die klassische Lehre - für die Wirtschaft der freien Konkurrenz geltend gemacht hat, Hilferding zufolge aufgehoben und hierdurch auch das Marxsche „Wertgesetz" modifiziert:

„Die Kartellierung bedeutet eine Änderung in der Durchschnittsprofitrate. Die Profitrate steigt in den kartellierten Industrien und sinkt in den niditkartellierten. Diese Verschiedenheit führt zur Kombination und Weiterkartellierung. Für die außerhalb der Kartellierung befindlichen Industrien sinkt die Profitrate. Der Kartellpreis wird um den Betrag über den Produktionspreis der kartellierten Industrien steigen, um den er in den nichtkartellierten unter ihren Produktionspreis gefallen ist" (S. 313).

„Die Verringerung des Profits in den nichtmonopolisierten Industrien bedeutet aber eine Verlangsamung ihrer Entwicklung. Die Senkung der Profitrate bedeutet, daß neues Kapital diesen Sphären nur langsam zuströmen wird. ... So wirkt die Kartellierung hindernd auf die Entwicklung der nichtkartellierten Industrien. Gleichzeitig verschärft sie in ihnen die Konkurrenz und damit die Konzentrationstendenz, bis diese Industrien schließlich selbst kartellfähig werden oder fähig, von einer bereits kartellierten Industrie angegliedert zu werden" (S. 315 f.).

Den zusammengeschlossenen Industriezweigen gelingt es auch, die Wirkung von Krisen von sich auf die schwächeren Wirtschaftszweige umzulenken:

„Die Kartelle heben . . . die Krisenwirkungen nicht auf. Sie modifizieren sie insofern, als sie die Wucht der Krise auf die nichtkartellierten Industrien abwälzen. Der Unterschied der Profitrate in kartellierten und nichtkartellierten Industrien, der im Durchschnitt um so größer ist, je fester das Kartell und gesicherter sein Monopol, wird geringer während der Prosperität und größer während der Depression. Das Kartell mag . . . imstande sein, den Profit während der ersten Zeit der Krise und Depression länger aufrechtzuerhalten als freie Industrien und für diese die Wirkung der Krise zu verschärfen." Daß die freien Industrien „gerade in dieser Zeit durch die Kartellpolitik keine Erleichterung erhalten durch Verringerung der Preise ihrer Rohmaterialien usw., ist ein Moment, das für die Verschlechterung der Lage in den nichtkartellierten Industrien und die schnellere Herbeiführung der Konzentration von Bedeutung ist" (S. 405).

4. Finanzkapital und Imperialismus

Der Marktpolitik der Kartelle wohnt allerdings ein elementarer Widerspruch inne:

„Die Kartellierung bedeutet außergewöhnliche Extraprofite . . . Gleichzeitig aber bedeuten die Kartelle eine Verlangsamung der Kapitalsanlage. In den kartellierten Industrien, weil die erste Maßregel des Kartells die Einschränkung der Produktion ist, in den nichtkartellierten, weil die Senkung der Profitrate zunächst von weiteren Kapitalsanlagen zurückschreckt. So wächst einerseits rapid die Masse des zur Akkumulation bestimmten Kapitals, während sich anderseits seine Anlagemöglichkeit kontrahiert. Dieser Widerspruch verlangt seine Lösung und findet sie im Kapitalexport" (S. 317 f.).

„Wir verstehen unter Kapitalexport die Ausfuhr von Wert, der bestimmt ist, im Ausland Mehrwert zu hecken" (S. 429).

„Bedingung des Kapitalexports ist Verschiedenheit der Profitrate; der Kapitalexport ist das Mittel zur Ausgleichung der nationalen Profit-iaten" (S. 431).

. Entwickeln also die Kartelle selbst eine neue Expansivkraft, so wollen sie andererseits durch Schutzzollpolitik sich die eigenen Binnenmärkte als Vorbehaltsraum gegenüber der Auslandskonkurrenz sichern:

„Der Schutzzoll gewährt . . . dem Kartell einen Extraprofit über den durch die Kartellierung erreichten hinaus. . . . Dieser Extraprofit stammt jetzt nicht mehr aus dem Mehrwert, den die vom Kartell angewandten Arbeiter erzeugen; er ist auch nicht mehr ein Abzug vom Profit anderer nichtkartellierter Industrien, sondern er ist ein Tribut, welcher der gesamten Konsumentenklasse des Inlandes auferlegt ist ...

Diese Art der Steigerung des Profits mußte . . . um so wichtiger werden, als die Erhöhung der Profitrate durch Steigerung des absoluten Mehrwerts, also durch Verlängerung der Arbeitszeit und Senkung des Arbeitslohnes, infolge der Erstarkung der Arbeiterorganisationen unmöglich wurde . . ." (S. 420 f.).

Allerdings „bedeutet der Schutzzoll eine Einschränkung des Wirtschaftsgebietes und damit eine Hemmung der Entwicklung der Produktivkräfte . . ." (S. 425).

„Die Preiserhöhung auf dem Inlandmarkt . . . hat die Tendenz, den Absatz der kartellierten Produkte zu verringern und gerät damit in Widerspruch mit der Tendenz, die Produktionskosten durch Ausdehnung der Stufenleiter der Produktion herabzusetzen. . . . Ist . . . das Kartell festgefügt, dann wird es die Einschränkung auf dem Inlandmarkt auszugleichen suchen durch Verstärkung des Exports, um auf derselben und womöglich auf größerer Stufenleiter die Produktion fortführen zu können. Auf dem Weltmarkt muß natürlich das Kartell zu dem Weltmarktpreis verkaufen" (S. 422).

Am besten ist der eigene Absatz allerdings gesichert, wenn die fremden Märkte dem eigenen Wirtschaftsgebiet fest einverleibt sind:

Durch die Kartellierung wird „die unmittelbare Bedeutung der Größe des Wirtschaftsgebietes für die Höhe des Profits außerordentlich gesteigert. Wir haben gesehen, daß der Schutzzoll dem kapitalistischen Monopol für den Absatz auf dem inländischen Markt einen Extraprofit gewährt. Je größer das Wirtschaftsgebiet, desto größer aber der inländische Absatz..., desto größer also der Kartellprofit. Je größer dieser, desto höher können die Exportprämien sein, desto stärker wird also die Konkurrenzfähigkeit auf dem Weltmarkt. Gleichzeitig mit dem aktiveren Eingreifen in die Weltpolitik, die durch die Kolonialleidenschaft verursacht war, entstand das Bestreben, das durch die Schutzzollmauer umgebene Wirtschaftsgebiet so umfangreich als möglich zu gestalten" (S. 427).

„Die Politik des Finanzkapitals verfolgt somit drei Ziele: erstens Herstellung eines möglichst großen Wirtschaftsgebietes, das zweitens durch Schutzzollmauern gegen die ausländische Konkurrenz abgeschlossen und damit drittens zum Exploitationsgebiet der nationalen monopolistischen Vereinigungen wird" (S. 448).

Hier ist der Ansatzpunkt der Kolonialtheorie, die Hilferding mit anderen Zeitgenossen teilt (vgl. auch unten, R. Luxemburg). - Die Erweiterung des Wirtschaftsraumes mildert vorübergehend die immanenten Spannungen des Systems:

„Wir wissen .. ., daß die Erschließung neuer Märkte ein wichtiges Moment ist, um eine industrielle Depression zu beenden, die Dauer der Prosperität zu verlängern und die Krisenwirkungen abzuschwächen. Der Kapitalexport beschleunigt die Erschließung der fremden Länder und entwickelt auf größtem Maßstabe ihre Produktivkräfte. Gleichzeitig steigert er die Produktion im Inland, die jene Waren liefern muß, die als Kapital ins Ausland gesandt werden. So wird er zu einer mächtigen Triebkraft der kapitalistischen Produktion, die mit der Verallgemeinerung des Kapitalexports in eine Sturm- und Drangperiode eintritt, während der der Zyklus von Prosperität und Depression verkürzt, die Krise gemildert erscheint. Die rasche Steigerung der Produktion erzeugt auch eine Steigerung der Nachfrage nach Arbeitskraft, die die Gewerkschaften begünstigt; die immanenten Verelendungstendenzen des Kapitalismus scheinen in den Ländern alter kapitalistischer Entwicklung überwunden. Der rasche Aufstieg der Produktion läßt die Schäden der kapitalistischen Gesellschaft nicht zum Bewußtsein kommen und schafft eine optimistische Beurteilung ihrer Lebenskraft" (S. 434 f.).

Freilich: Indem das „Finanzkapital" seine expansive Tendenzen durchsetzt, entfaltet es auf allen Ebenen Formen der Gewaltsamkeit:

„Das Finanzkapital will nicht Freiheit, sondern Herrschaft; es hat keinen Sinn für die Selbständigkeit des Einzelkapitalisten, sondern verlangt seine Bindung; es verabscheut die Anarchie der Konkurrenz und will die Organisation, freilich nur, um auf immer höherer Stufenleiter die Konkurrenz aufnehmen zu können. Aber um dies durchzusetzen, um

seine Übermacht zu erhalten und zu vergrößern, braucht es den Staat, der ihm durch seine Zollpolitik und Tarifpolitik den inländischen Markt sichern, die Eroberung ausländischer Märkte erleichtern soll. Es braucht einen politisch mächtigen Staat, der ... überall in der Welt eingreifen kann, um die ganze Welt in Anlagesphären für sein Finanzkapital verwandeln zu können. Das Finanzkapital braucht endlich einen Staat, der stark genug ist, um Expansionspolitik treiben und neue Kolonien sich einverleiben zu können. War der Liberalismus ein Gegner der staatlichen Machtpolitik, wollte er seine Herrschaft sichern gegenüber den alten Gewalten der Aristokratie und Bürokratie, indem er ihnen die staatlichen Machtmittel in möglichst geringem Umfang gewährte, so wird die Machtpolitik ohne jede Schranke zur Forderung des Finanzkapitalismus . .." (S. 462 f.).

„Das Verlangen nach Expansionspolitik aber revolutioniert auch die ganze Weltanschauung des Bürgertums. Es hört auf, friedlich und humanitär zu^sein. Die alten Freihändler glaubten an den Freihandel nicht nur als richtigste ökonomische Politik, sondern auch als Ausgangspunkt einer Ära des Friedens. Das Finanzkapital hat diesen Glauben längst verloren. Es hält nichts von der Harmonie der kapitalistischen Interessen, sondern weiß, daß der Konkurrenzkampf immer mehr zu einem politischen Machtkampf wird. Das Friedensideal verblaßt, an Stelle der Idee der Humanität tritt das Ideal der Größe und Macht des Staates. ... Der nationale Gedanke ... wird jetzt gewandelt zu dem Gedanken der Erhöhung der eigenen Nation über die anderen. Als Ideal erscheint es jetzt, der eigenen Nation die Herrschaft über die Welt zu sichern, ein Streben ebenso unbegrenzt wie das Profitstreben des Kapitals, dem es entsprang. Das Kapital wird zum Eroberer der Welt und mit jedem neuen Lande erobert es die neue Grenze, die es zu überschreiten gilt" (S. 463 f.).

5. Die „geschichtliche Tendenz des Finanzkapitals": das „Generalkartell"

„Die Kartellierung ist ein historischer Prozeß und sie ergreift die kapitalistischen Produktionszweige in einer zeitlichen Reihenfolge je nach den Bedingungen, die für die Kartellierung gegeben sind. Wir haben gesehen, wie die Entwicklung des Kapitalismus dahin geht, diese Bedingungen immer mehr für alle Produktionszweige zu verwirklichen" (S. 309).

„Es entsteht aber die Frage, wo die Grenze der Kartellierung eigentlich gegeben ist. Und diese Frage muß dahin beantwortet werden, daß es eine absolute Grenze für die Kartellierung nicht gibt. Vielmehr ist eine

Tendenz zu stetiger Ausbreitung der Kartellierung vorhanden. Die unabhängigen Industrien geraten, wie wir gesehen haben, immer mehr in Abhängigkeit von kartellierten, um schließlich von ihnen annektiert zu werden. Als Resultat des Prozesses ergäbe sich dann ein Generalkartell. Die ganze kapitalistische Produktion wird bewußt geregelt von einer Instanz, die das Ausmaß der Produktion in allen ihren Sphären bestimmt. Dann wird die Preisfestsetzung rein nominell und bedeutet nur mehr die Verteilung des Gesamtprodukts auf die Kartellmagnaten einerseits, auf die Masse aller anderen Gesellschaftsmitglieder anderseits. Der Preis ist dann nicht Resultat einer sachlichen Beziehung, die die Menschen eingegangen sind, sondern eine bloß rechnungsmäßige Art der Zuteilung von Sachen durch Personen an Personen. Das Geld spielt dann keine Rolle. Es kann völlig verschwinden, da es sich ja um Zuteilung von Sachen handelt und nicht um Zuteilung von Werten. Mit der Anarchie der Produktion schwindet der sachliche Schein, schwindet die Wertgegenständlichkeit der Ware, schwindet also das Geld. Das Kartell verteilt das Produkt. ... Es ist die bewußt geregelte Gesellschaft in antagonistischer Form. Aber dieser Antagonismus ist Antagonismus der Verteilung" (S. 318 f.).

So besorgt das „Finanzkapital" Hilferding zufolge aufs gründlichste die Selbstaufhebung der kapitalistischen Ordnung. Es ist dann nur noch erforderlich, daß eine Partei, die diese geheime Gesetzlichkeit erkannt hat, an die Regierung gelangt, um den Sozialismus perfekt zu machen. Diese Wendung zur Auffassung vom „friedlichen Hinüberwachsen" der alten in eine neue Ordnung spricht sich besonders in Hilferdings Referat auf dem Kieler Parteitag der deutschen Sozialdemokratie (1927) aus:

„Wir befinden uns augenblicklich in der Periode des Kapitalismus, in der im wesentlichen die Ära der freien Konkurrenz, in der. der Kapitalismus rein durch das Walten der blinden Marktgesetze beherrscht war, überwunden ist, und wir zu einer kapitalistischen Organisation der Wirtschaft kommen, also von der Wirtschaft des freien Spiels der Kräfte zur organisierten Wirtschaft... Organisierter Kapitalismus bedeutet... in Wirklichkeit den prinzipiellen Ersatz des kapitalistischen Prinzips der freien Konkurrenz durch das sozialistische Prinzip planmäßiger Produktion. Diese planmäßige, mit Bewußtsein geleitete Wirtschaft unterliegt in viel höherem Maße der Möglichkeit der bewußten Einwirkung der Gesellschaft, das heißt nichts anderes, als der Einwirkung durch die einzige bewußte und mit Zwangsgewalt ausgestattete Organisation der Gesellschaft, der Einwirkung durch den Staat... Das heißt nichts anderes, als daß unserer Generation das Problem gestellt ist, mit Hilfe des Staates, mit Hilfe der bewußten gesellschaftlichen Regelung diese von den Kapitalisten organisierte und geleitete Wirtschaft in eine durch den demokratischen Staat geleitete Wirtschaft umzuwandeln." (Aus dem Protokoll.)

6. Würdigung

Was Hilferding über die Eigentumskonzentration, über Kartellpolitik und Profitratenverschiebung, über den Zwang zum Kapitalexport, über die Tendenz zur Gebietserweiterung, zur Gewaltsamkeit und über viele andere Erscheinungen der Gesellschaft seiner Zeit zu sagen hat, bleibt auch aus der Sicht von heute bedeutungsvoll. Kritisch wird man freilich vor allem das Folgende zu betrachten haben:

1. Wenn auch die Konzentration der Industrie eine entsprechende Konzentration des Bankwesens notwendig macht und gerade dieser Vorgang für die Zeitgenossen von besonderer Eindringlichkeit gewesen ist, so kann doch von einer Herrschaft des Bankkapitals über die Industrie und von einem wachsenden Anteil der Banken an den industriellen Gewinnen nicht gesprochen werden. Die Möglichkeiten der Selbstfinanzierung über die Preise haben die marktstarken Wirtschaftsbereiche eher unabhängiger von den Banken, vom .Geldkapitalmarkt überhaupt gemacht. Hinzu kommt, daß innerhalb der Groß-konzeme von heute manche Funktionen, die in einem früheren Stadium der Entwicklung noch das Bankensystem wahrnahm, an die konzernbeherrschenden Unternehmungen oder an konzemeigene Hausbanken übergegangen sind.

2. Hilferding hat, wie die marxistische Imperialismustheorie seiner Zeit überhaupt, die Bedeutung der Kolonien für den Kapital- und Warenexport überschätzt. Das ungeheure Problem der Entwicklungsländer von heute zeigt, wie wenig das Kapital der einst dominierenden Länder zur Erschließung der Produktion und der Binnenmärkte in jenen Räumen beigetragen hat. Auch zur Entspannung von Akkumulationsproblemen in den führenden Ländern selbst hat das Kolonialsystem - wie auch J. A. Hobsora bezeugt: Imperialism, 1902 - eher durch seine Nebenwirkungen (Militärausgaben, Verwaltungsaufwand etc.) als durch eine bedeutende Belebung des Waren- und Kapitalexports beigetragen.

3. Der Ausblick auf ein „Generalkartell", auf eine Art von spontaner Selbst-sozialisierung der Privatwirtschaft ist irrig und durch die Geschichte widerlegt - so sehr ihm manche andere zeitgenössische Denker nahegekommen sind. (Vgl. E. Rathenau, Die neue Wirtschaft, 1918; J. M. Keynes, The End of Laissez-Faire, 1926.) Die Eilfertigkeit, mit der Hilferding hier von der Verteilung her die von ihm inkriminierte soziale Ordnung aufzurollen gehofft hat, zeugt von seiner allgemeinen Überschätzung der zirkulativen - und insbesondere der monetären - Vorgänge im erwerbswirtschaftlichen System.

Fußnoten

1) Untertitel: Eine Studie über die jüngste Entwicklung des Kapitalismus. Im weiteren zitiert nach dem Neudruck, Berlin 1947.

 

Editoriale Anmerkung:

Der Text stammt aus Werner Hofmann, Sozialökonomische Studientexte, Band 3, Theorie der Wirtschaftsentwicklung, Göttingen März 1966, Dritter Teil, Erster Abschnitt: Die sozialistische Lehre von „Monopolkapitalismus", „Imperialismus" und „allgemeiner Krise", S.150ff

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