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Die geschichtlichen Bedingungen für den internationalen Emanzipationskampf

Von Rudi Dutschke
02/02
 
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Jede radikale Opposition gegen das bestehende System, das uns mit allen Mitteln daran hindern will, Verhältnisse einzuführen, unter denen die Menschen ein schöpferisches Leben ohne Krieg, Hunger und repressiver Arbeit führen können, muß heute notwendigerweise global sein. Die Globalisierung der revolutionären Kräfte ist die wichtigste Aufgabe der ganzen historischen Periode, in der wir heute leben und an der menschlichen Emanzipation arbeiten.

Die Unterprivilegierten in der ganzen Welt stellen die realgeschichtliche Massenbasis der Befreiungsbewegungen dar, darin allein liegt der subversiv-sprengende Charakter der internationalen Revolution.

Die Dritte Welt als die Gesamtheit der unter dem Terrorismus des von den «giant-corporations» bestimmten Weltmarktmechanisrnus leidenden Völker, deren Entwicklung vom Imperialismus verhindert wurde, hat in den vierziger Jahren mit diesem Kampf begonnen, schon ganz unter dem Eindruck und der Erfahrung der ersten «verratenen» (Trotzki) «proletarischen Revolution» in der Sowjetunion. Entscheidender Unterschied: die Massenhaftigkeit und die Dauer des revolutionären Prozesses, der auch in der Theorie schon als ein permanenter begriffen wurde.

Eine neue Etappe begann in den sechziger Jahren mit den revolutionären Umwälzungen in Algerien, Kuba und dem ununterbrochenen Kampf der südvietnamesischen Befreiungsfront gegen die Diem-Diktatur.

Erst der letztere erhielt weitgeschichtliche Bedeutung für die Oppositionsbewegung in der ganzen Welt. Die Aggression der Vereinigten Staaten von Nordamerika war unübersehbar. Sie geschah zu einem Zeitpunkt in brutaloffener Form, als die vielfältigsten Mechanismen der Einflußnahme nicht mehr ausreichten, um den Sieg der revolutionären Befreiungskräfte in Süd-Vietnam zu verhindern. Das historische Pech der amerikanischen Machtelite, genauer des US-Imperialismus, bestand nun gerade darin, daß er seine einzige Legitimationsbasis, die antikommunistische Ideologie abbauen mußte, um die Niederschlagung der sozial-revolutionären Befreiungsbewegungen überhaupt noch unter antikommunistischer Fahne zu ermöglichen. Dieser scheinbare Widerspruch löst sich auf, wenn wir begreifen, daß die Anerkennung der Koexistenz-Ideologie der Sowjetunion durch den Imperialismus geschah, um wenigstens in Mittel- und Westeuropa eine ruhige Zone des Systems zu stabilisieren, um einen freien Rücken für die kurzfristige und effektive Zerschlagung der revolutionären Bewegungen der Dritten Welt zu erhalten. Die historische Schuld der Sowjetunion besteht in dem völligen Versagen, diese Strategie des Imperialismus tief zu begreifen und subversiv-revolutionär zu beantworten.

Die sich von Monat zu Monat, von Jahr zu Jahr steigernde Aggression des US-Imperialismus in Vietnam materialisierte sich in den hochentwickelten kapitalistischen Ländern als «abstrakte Gegenwart der Dritten Welt in den Metropolen» (0. Negt), als geistige Produktivkraft im Bewußtwerdungsprozeß über die Antinomien der heutigen Welt.

Als Vietnam für uns Mitte der sechziger Jahre in Referaten, Diskussionen, Filmen und Demonstrationen lebendig wurde, konnten wir revolutionären Sozialisten unsere Schuldgefühle über die Existenz der Mauer und des Stalinismus in der DDR gewissermaßen historisch sublimieren, indem wir die spezifische Differenz zwischen der Machtergreifung mit Gewalt, aber ohne Revolutionierung der Massen, und der Vermassung der Idee der sozialen Befreiung im Prozeß der Revolution in Vietnam zum Beispiel ausbreiteten. Nun stellte aber Vietnam a priori mehr als ein Kompensationsmittel oder einen Aufhänger für die Aktivitäten der linken Studentenschaft dar. Die weltgeschichtliche Bedeutung des Kampfes des vietnamesischen Volkes, die exemplarische Bedeutung dieser Auseinandersetzung für die folgenden Kämpfe gegen den Imperialismus standen schon sehr früh im Mittelpunkt der Vietnam-Diskussionen. Daß aber dieser entscheidende Aspekt ins studentische Bewußtsein so schnell eindringen konnte, scheint uns seine materialistische Begründung in dem spezifischen Produktionsverhältnis der studentischen Produzenten zu haben. Wir haben als Studenten - wenn auch von Fakultät zu Fakultät verschieden - innerhalb der gesamtgesellschaftlichen Reproduktion soziologisch eine Zwischenlage. Auf der einen Seite sind wir eine geistig und ausbildungsmäßig privilegierte Fraktion des Volkes, aktuell bedeutet dieses Privileg im Grunde aber nur Frustration. Frustration darum, weil der sich ausbildende Student, besonders der politisch engagierte, tagtäglich den Idiotismus der Politikaster-Cliquen der irrationalen Autoritäten kritisch und manchmal auch sinnlich miterlebt. Hinzu kommt, daß diese antiautoritären Studenten noch keine materiell gesicherten Positionen der Gesellschaft übernommen haben, sie von Machtinteresse und Machtpositionen noda relativ weit entfernt sind. Diese temporäre Subversiv-Stellung der Studenten bringt eine dialektische Identität der unmittelbaren und historischen Interessen der Produzenten überhaupt hervor. Die vitalen Bedürfnisse und Interessen nach Frieden, Gerechtigkeit und Emanzipation können sich daher in diesen soziologischen Positionen am ehesten materialisieren. Wirkliche Virulenz entfalteten sie aber erst, als sie durch den antiautoritären Kampf im eigenen Institutionsmilieu Universität gegen die dortige Bürokratie sich politisierten, entschlossener in der politischen Auseinandersetzung um ihre Interessen und Bedürfnisse kämpften. Die unmittelbare Beziehung des studentischen Produzenten zu seinem Ausbildungsmilieu darf nicht vergessen werden. Seine Lernsituation an der Universität ist bestimmt von der Diktatur der inflationär ansteigenden Prüfungen und von der Diktatur der Ordinarien. Die Professoren wiederum sind Diener des Staates. Die heutige Verstaatlichung der ganzen Gesellschaft bildet die Basis für ein Verständnis des antistaatlichen und antinstitutionellen Kampfes der radikalen außerparlamentarischen Opposition.

Dadurch verlor Vietnam viel von seiner scheinbaren Abstraktheit. Die produktive Vermittlung der unmittelbaren und der historisch-emanzipatorischen Interessen der antiautoritären Studenten kann nur in der Auseinandersetzung, im politischen Kampf geschehen. Die Restriktionspolitik der universitären Bürokratie, die brutalen Einsätze der West-Berliner Bürgerkriegsarmee bei den verschiedenen Demonstrationen, die langandauernde permanente Aufklärung über die gesellschaftlichen Widersprüche und die systematisch die Spielregeln der bürgerlichen Gesellschaft Aktionsformen und der dabei stattfindende Lernprozeß schufen die antiautoritäre Einstellung, eine noch die Revolution und die Erziehung und Selbsterziehung der Menschen in diese Richtung verdrängende Haltung. So wurde uns durch die Herrschenden selber das antiautoritäre Verhalten eingebleut. Unsere Opposition ist nun aber nicht gegen einige kleine Fehler des Systems, sie ist vielmehr eine totale, die sich gegen die ganze bisherige Lebensweise des autoritären Staates richtet.

Der «anonyme Terrorismus» der staatlich-gesellschaftlichen Gewaltmaschinerie ist in allen Institutionen allgegenwärtig, er besitzt aber «keine andere reale Macht, außer der Regierungsmaschine» (Marx). Das Neue unserer Situation besteht nun darin, daß wir diese Ordnung nicht mehr als unbestreitbare und unumstrittene Notwendigkeit hinnehmen, der Staat seinen scheinbaren Anschein von Unparteilichkeit immer deutlicher verliert, sich immer klarer als «abscheuliche Maschine der Klassenherrschaft» (Marx) zeigt.

Die Bundesrepublik am Ende des sogenannten Wirtschaftswunders, das heißt nach der vollen Ausschöpfung der vorhandenen quantitativen und qualitativen Arbeitskräfte- und Berufsstruktur, zeichnet sich dadurch aus, daß die hohen unproduktiven Staatsausgaben, die Subventionen etc., die die sich etablierende Staatsmaschine im Laufe der Prosperitätsperiode an die Vertreter der Interessentenbörse relativ leicht geben konnte, am Ende der Rekonstruktionsperiode des westdeutschen Kapitalismus plötzlich als zusätzliche, zumeist unproduktive Ausgaben, als für die Weiterentwicklung der Ökonomie gefährliche Totgewichte, als faux frais der kapitalistischen Produktion erscheinen.

Die Milliarden unrentabler Investitionen in die Ausbildungssphäre (Bau neuer Universitäten, Schulen, Berufsschulen, Ingenieurschulen etc.), die für die Schaffung einer qualitativ und quantitativ neuen Berufs- und Ausbildungsstruktur nötig wären, sind in der jetzigen Phase des westdeutschen Kapitalismus nicht ohne inflationäre Verschärfung disponibel. Hinzu kommt die Tatsache, daß die widersprüchliche Einheit des Gesamtapparats von Oligopolen, staatlich-gesellschaftlicher Bürokratie, Parteien, Interessenverbänden usw. durch keinen beherrschenden Willen wirklich gesamtgesellschaftlich geleitet wird.

Die Existenz stagnierender, akkumulationsunfähiger Produktionszweige (Bergbau, Landwirtschaft zum Beispiel), die «auf Krücken gehend» subventioniert werden müssen, und der unterentwickelte Status der entscheidenden Träger des Akkumulationsprozesses in den siebziger Jahren, der historisch neuen Industriezweige Elektronik, Weltraumforschung, Flugzeugbau, Atomenergie etc. deuten auf eine langfristige Stagnationsperiode des westdeutschen Kapitalismus hin.

Die Einschätzung der sozial-ökonomischen Situation der BRD und West-Berlins bildet die Voraussetzung für eine politisch-strategische Diskussion über den Prozeß der bundesrepublikanischen Umwälzung im Kontext der internationalen Auseinandersetzung zwischen Revolution und Konterrevolution.

Die Große Koalition als der letzte verzweifelte Versuch der herrschenden Oligarchien, die strukturellen Schwierigkeiten des Systems zu lösen, stößt immer deutlicher auf objektive Schranken in ihrer Arbeit, muß die Strukturkrise subventionistisch verschleppen (5. Subventionsbericht), bereitet damit in einem langfristigen Sinne tiefere Widersprüche vor. Wir können sie begreifen als die neue Ordnungspartei, deren direktes Geschäft es ist, die lohnabhängigen Massen in Unmündigkeit zu halten, auf sie die Kosten der Strukturkrise abzuwälzen. Marx spricht in den großartigen Entwürfen zum Bürgerkrieg in Frankreich von den Aufgaben einer solchen Form der Klassenherrschaft, daß «ihr einziger raison d'etre» die Verhinderung der «Emanzipation der produzierenden Massen» wäre. Für ihn ist diese Form die «abscheulichste aller politischen Regimes». In ihr vereinigen sich zum Zwecke der gemeinsamen Niederhaltung der Massen heute alle Fraktionen des Gesamtapparats, die ehemaligen Faschisten und bestimmte Sorten von Widerstandskämpfern, die staatlich-gesellschaftliche Bürokratie, umarmen sich die liberale Bourgeoisie, die Vertreter der Monopole, die Arbeiterverräter aus den Gewerkschaften, die Sickert und Co., richten sich die Manipulationszentren, die Augstein und Springer ein. Zusammen bilden sie die anonyme Aktienkompanie, den subtilen und - wenn nötig - manifesten Terrorismus der Klassenherrschaft des Spätkapitalismus. Die verschiedenen Fraktionen des Apparats, der Regierungsmaschine, feiern in der Großen Koalition eine Orgie des Renegatentums. Sogenannte Widerstandskämpfer wie Gerstenmaier, ehemalige Vertreter der verschiedenen Arbeiterparteien wie Brandt (SAPD), Wehner (KPD), zynisch gewordene Sozialdemokraten und Ex-Nazis wie Kiesinger & Co steigen in das gemeinsame Bett, bis die bewußtgewordenen Massen sie für immer vertreiben werden.

Die historische Aufgabe des Spätkapitalismus ist es, die Massen in ein funktional im Interesse der Herrschenden reagierendes Kollektiv zu verwandeln, sie jederzeit für militärische und zivile Zwecke verwertbar und einsetzbar zu halten. Gerade diese entscheidende Aufgabe kann er in der BRD immer weniger erfüllen. Die kulturrevolutionäre Übergangsperiode, die spätestens seit dem 2. Juni 1967 relevante Schichten innerhalb und auch außerhalb der Universität mobilisierte, ist noch lange nicht abgeschlossen, könnte nur noch durch massiven und brutalen Einsatz aller Repressionsmittel beendet werden.

Die herrschende Klasse hat sich sehr stark gewandelt. Sie ist längst nicht mehr identisch mit den nominellen Eigentümern der Produktionsmittel. Schon Marx (5. o.) hatte die Heraufkunft einer neuen «Klasse» der «industriellen Bürokratie» analytisch in Ansätzen gesehen. Diese beseitigt nicht den Grundwiderspruch der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft, treibt ihn vielmehr auf die Spitze, leitet die letzte Phase der bürgerlichen Gesellschaft ein. In ihr sind alle Kapitalfunktionen «vergesellschaftet» worden, an bestimmte Gruppen und Institutionen delegiert: «Je mehr eine herrschende Klasse fähig ist, die bedeutendsten Männer der beherrschten Klassen in sich aufzunehmen, desto solider und gefährlicher ist ihre Herrschaft» (Karl Marx: Das Kapital, Bd. 3, S.649). Die Entwicklung ist über diese Phase hinweggegangen, hat die repressive Vergesellschaftung des Kapitals vervollständigt. Darin liegt die Stärke und Schwäche des spätkapitalistischen Systems. Sie läßt in der Tat keine Gruppen außerhalb des repressiven Gesamtzusammenhanges, versucht alle zu beherrschen durch ein «System von Konzessionen im kapitalistischen Rahmen» (Sering). Dieser strukturelle Rahmen wird durch den «stummen Zwang der Verhältnisse», durch die verinnerlichten Normen und Ideen der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft gewährleistet. Sprengt nun aber eine gesellschaftlich relevante Fraktion der Unterprivilegierten außerhalb der «Interessentenbörse», an der das Sozialprodukt politisch «verteilt» wird, diese «selbstverständliche Beschränkung der Interessen und Bedürfnisse auf den herrschenden Rahmen», so wird das ganze System in Frage gestellt: «So kann das Durchbrechen des falschen Bewußtseins den archimedischen Punkt liefern für eine umfassendere Emanzipation - an einer allerdings unendlich kleinen Stelle, aber von der Erweiterung solcher kleinen Stellen hängt die Chance einer Änderung ab» (Herbert Marcuse: , Frankfurt a. M. 1966, S.122).

Gerade diese Durchbrechung des falschen Bewußtseins haben wir begonnen. Die Kontrolle und Verwaltung der Individuen durch das System wird durch unsere politische Arbeit, durch unsere Aufklärung, durch unsere Provokationen und Massenaktionen strukturell in Frage gestellt. Gerade darum beginnen auch die linksliberalen Kritiker des Systems vom Spiegel bis zur Zeit eine klare politische Wendung gegen uns. Sie begreifen die heraufziehende Gefahr für den Spätkapitalismus, die zur tödlichen wird, wenn es uns gelingt, die durch die Parteien vernichtete Spontaneität der lohnabhängigen Massen durch eine immer effektivere Dialektik von Aufklärung und Massenaktion zu wecken: «Daß nach dem Verrat der eigenen Bürokratie seit 1914, nach der Entwicklung der Parteien in weltumspannende Maschinerien zur Vernichtung der Spontaneität, nach der Ermordung der Revolutionäre die Arbeiter sich gegen die totalitäre Ordnung neutral verhalten, ist kein Zeichen der Verblödung» (Max Horkheimer: Die Juden und Europa, in Zeitschrift für Sozialforschung, 1939, S.122). Die Erinnerung an die letzten 50 Jahre der deutschen Arbeiterbewegung hat nur Reiz für den kontemplativen Intellektuellen. Für die Massen stellen sie eine bisher ununterbrochene Kette des Verrats der linken und rechten Intelligenz dar.

Unsere historisch richtige Beschränkung auf die Arbeit in der Universität darf nicht fetischisiert werden. Eine revolutionäre Dialektik der richtigen Übergänge muß den langen Marsch durch die Institutionen als eine praktisch-kritische Tätigkeit in allen gesellschaftlichen Bereichen begreifen, hat die subversiv-kritische Vertiefung der Widersprüche zum Ziel, die in allen Institutionen, die an der Organisierung des Alltagslebens beteiligt sind, möglich geworden ist. Es gibt keinen Bereich in der Gesellschaft mehr, der in der kulturrevolutionären Phase unserer Bewegung ausschließlich privilegiert wäre, die Interessen der Gesamtbewegung auszudrücken.

Die laue Oppositionsbewegung ist tot, der spontane Widerstand, sehr oft noch in völlig unorganisierter Form, hat begonnen, ob nun in Frankfurt oder in Bremen, in Berlin oder in Hamburg, beherrschen wir, das heißt das antiautoritäre Lager, schon die für die Bewußtwerdung der Menschen entscheidenden Kettenglieder, die Aufklärungsveranstaltungen außerhalb der Universitäten, die Vollversammlungen der Studenten in den großen Universitäten, die Schülerversammlungen in den Schulen. Die Fülle der Schüler- und Studentenzeitungen ist ein mobilisierendes und aufklärendes Moment der Gesamtbewegung. Überall bilden sich selbsternannte Avantgarden, die völlig autonom und von keiner Zentrale organisiert beziehungsweise manipuliert den von ihnen als notwendig erkannten Kampf gegen Manipulation und Unterdrückung der schöpferischen Fähigkeiten des Menschen begonnen haben. Darin liegt die Stärke dieser antiautoritären Bewegung, daß die praktisch-kritische Tätigkeit der Antiautoritären der reale Ausdruck der eigenen Bedürfnisse und Interessen der Individuen ist. Das Praktisch-Werden der eigenen Bedürfnisse, Interessen und Leiden verhindert die Monopolisierung der historischen Interessen der Menschen in einer die Massen Mitgliederpartei. Wir beherrschen auch schon die Straßen der großen Städte, finden uns im «Dickicht der Großstädte» (Brecht) schon ganz gut zurecht, aber die wirkliche Vermassung der Idee der sozialrevolutionären Befreiung steht noch aus.

In den Industriebetrieben bilden sich die ersten autonomen Basisgruppen, die - locker koordiniert mit den anderen Gruppen nach dem Prinzip der gegenseitigen Hilfe - die auf der Straße und in den Aufklärungsveranstaltungen gelernten antiautoritären Methoden in die Betriebe hineintragen, die autoritären Zwänge der Hierarchie der Betriebsstruktur zu bekämpfen versuchen.

Die staatlich-gesellschaftliche Bürokratie ist in allen Sphären völlig hilflos. In den gesellschaftlich vermittelten Konflikten sieht sie das Werk von Rädelsführern oder einen zeitweiligen Generationskonflikt. Sie muß die Probleme personalisieren, besteht für sie Geschichte doch nur als Werk von großen Persönlichkeiten, sind die Massen nur Material der Eliten.

Die Linken wiederum stehen oft in der Gefahr, das Proletariat oder die Massen schier metaphysisch zu verabsolutieren, nicht die konkrete und schwierige Dialektik der Bewußtmachung der Massen zu begreifen, nicht zu begreifen die temporäre Trennung zwischen minoritären radikalen Bewußtseinsgruppen und den breiten Massen. Die andere Gefahr bei uns ist die intellektuelle Überheblichkeit, in letzter Konsequenz die Furcht vor der schöpferischen Fähigkeit der bewußt gewordenen Massen. Zwischen diesen falschen Alternativen liegt die Praxis der historisch richtigen Emanzipationsarbeit.

Die alten Konzepte des Sozialismus müssen kritisch aufgehoben, nicht vernichtet und nicht künstlich konserviert werden. Ein neues Konzept kann noch nicht vorhanden sein, kann nur im praktischen Kampf, in der ständigen Vermittlung von Reflexion und Aktion, von Praxis und Theorie erarbeitet werden. Revolutionäre Wissenschaft ist heute nur noch möglich innerhalb der antiautoritären Bewegung, als Produktivkraft der Befreiung des Menschen von den unbegriffenen und unkontrollierten Mächten der Gesellschaft und der Natur.

Heute hält uns nicht eine abstrakte Theorie der Geschichte zusammen, sondern der existentielle Ekel vor einer Gesellschaft, die von Freiheit schwätzt und die unmittelbaren Interessen und Bedürfnisse der Individuen und der um ihre sozial-ökonomischen Emanzipation kämpfenden Völker subtil und brutal unterdrückt.

Diese radikale, weil den ganzen Menschen betreffende Dialektik des Sentiments und der Emotion (Marcuse), wobei die Theorie den bewußt gewordenen Ausdruck dieser Dialektik darstellt, hält uns heute stärker denn je gegen diese verstaatlichte autoritäre Gesellschaft zusammen, ermöglicht eine radikale Aktionseinheit der Antiautoritären, und zwar ohne Partei-Programm und Monopolanspruch.

Die subtilen und brutalen Methoden und Techniken der sozialen Integration ziehen bei uns nicht mehr. Die sentimental-emotionale Verweigerung wird im Kampf mit den Gewaltorganisationen des Systems, mit der staatlich-gesellschaftlichen Bürokratie, mit der Polizei, mit der Justizmaschine, den industriellen Bürokratien in den Oligopolen usw. zur organisierten Verweigerung, zum praktisch-kritischen Wissen, zum revolutionären Willen, die verselbständigten Produktivkräfte, die unmenschlichen Maschinerien des Krieges und der Manipulation, die tagtäglich in der Welt Tod und Schrecken verbreiten, tagtäglich ein weltweites Genocid verursachen können, zu zerschlagen. Es entwickeln sich im Kampf neue radikale Bedürfnisse, wie zum Beispiel der Wunsch, die Totalität der die Menschen von langer Arbeitszeit, Manipulation und Elend befreienden Produktivkräfte endlich von den Fesseln des Kapitals und der Bürokratie zu befreien, sie mit allen Mitteln endlich der bewußten Kontrolle der Produzenten zu unterwerfen.

Geben wir uns aber keinen Illusionen hin. Das weltweite Netz der organisierten Repression, das Kontinuum der Herrschaft, läßt sich nicht leicht aufsprengen. Der «neue Mensch des 21. Jahrhunderts» (Guevara, Fanon), der die Voraussetzung für die «neue Gesellschaft» darstellt, ist Resultat eines langen und schmerzlichen Kampfes, kennt ein sehr schnelles Auf und Ab der Bewegung; temporäre Aufschwünge werden durch nicht zu umgehende «Niederlagen» abgelöst werden. Unsere kulturrevolutionäre Übergangsphase ist im Verständnis der Revolutionstheorie eine vorrevolutionäre Phase, in der Personen und Gruppen sich noch manchen Illusionen, abstrakten Vorstellungen und utopistischen Projekten hingeben, ist eine Phase, in der der radikale Widerspruch zwischen Revolution und Konterrevolution, zwischen der herrschenden Klasse in ihrer neuen Form und dem Lager der Antiautoritären und Unterprivilegierten noch nicht konkret und unmittelbar sich auszutragen beginnt. Was für Amerika schon eindeutige Realität ist, hat auch schon für uns mit gewissen Modifikationen große Bedeutung: «Es ist keine Zeit nüchterner Reflexion, sondern eine Zeit der Beschwörung. Die Aufgabe der Intellektuellen ist mit der des Organisators der Straße, mit der des Wehrdienstverweigerers, des Diggers identisch: mit dem Volke zu sprechen und nicht über das Volk. Die prägende Literatur jetzt ist die Underground-Literatur, sind die Reden von Malcom X, die Schriften Fanons, die Songs der Rolling Stones und von Aretha Franklin. Alles übrige klingt wie der Moynihan-Report oder ein Time-Essay, die alles erklären, nichts verstehen und niemanden verändern» (A. Kopkind: Von der Gewaltlosigkeit zum Guerilla-Kampf, in Voltaire-Flugschriften Nr. ,4, S.24/25). Wir haben noch keine breite kontinuierliche Untergrundliteratur, es fehlen noch die Dialoge der Intellektuellen mit dem Volk, und zwar schon auf dem Standpunkt der wirklichen, das heißt der unmittelbaren und historischen Interessen des Volkes. Es gibt den Beginn einer Desertionskampagne in der amerikanischen Besatzungsarmee, es gibt keine organisierte Desertationskampagne in der Bundeswehr. Wir wagen es schon, den amerikanischen Imperialismus politisch anzugreifen, aber wir haben noch nicht den Willen, mit unserem eigenen Herrschaftsapparat zu brechen.

Genossen, Antiantoritäre, Menschen! Wir haben nicht mehr viel Zeit. In Vietnam werden auch wir tagtäglich zerschlagen, und das ist nicht ein Bild und ist keine Phrase. Wenn in Vietnam der US-Imperialismus überzeugend nachweisen kann, daß er fähig ist, den revolutionären Volkskrieg erfolgreich zu zerschlagen, so beginnt erneut eine lange Periode autoritärer Weltherrschaft von Washington bis Wladiwostok. Wir haben eine historisch offene Möglichkeit. Es hängt primär von unserem Willen ab, wie diese Periode der Geschichte enden wird. «Wenn sich dem Vietkong nicht ein amerikanischer, europäischer und asiatischer Cong zugesellt, wird die vietnamesische Revolution ebenso scheitern wie andere zuvor. Ein hierarchischer Funktionärsstaat wird die Früchte ernten, die er nicht gesät hat» (Partisan Nr.1, Vietnam, die Dritte Welt und der Selbstbetrug der Linken, Berlin 1967). Und Frantz Fanon sagt für die Dritte Welt: «Los, meine Kampfgefährten, es ist besser, wenn wir uns sofort entschließen, den Kurs zu ändern. Die große Nacht, in der wir versunken waren, müssen wir abschütteln und hinter uns lassen. Der neue Tag, der sich schon am Horizont zeigt, muß uns standhaft, aufgeweckt und entschlossen antreffen» (Frankfurt a. M. 1966, 5.239).

Laßt uns auch endlich unseren richtigen Kurs beschleunigen. Vietnam kommt näher, in Griechenland beginnen die ersten Einheiten der revolutionären Befreiungsfront zu kämpfen. Die Auseinandersetzungen in Spanien spitzen sich zu. Nach 30 Jahren faschistischer Diktatur ist in der Einheitsfront der Arbeiter und Studenten eine neue revolutionäre Kraft entstanden.

Die Bremer Schüler haben gezeigt, wie in der Politisierung unmittelbarer Bedürfnisse des Alltagslebens - Kampf gegen Fahrpreiserhöhungen - subversive Sprengkraft entfaltet werden kann. Ihre Solidarisierung mit den lohnabhängigen Massen, die richtige Behandlung der Widersprüche und die Auseinandersetzungen mit der autoritär-militaristischen Polizei zeigen sehr deutlich, welche großen Möglichkeiten des Kampfes im System des Spätkapitalismus liegen. An jedem Ort der Bundesrepublik ist diese Auseinandersetzung in radikaler Form möglich. Es hängt von unseren schöpferischen Fähigkeiten ab, kühn und entschlossen die sichtbaren und unmittelbaren Widersprüche zu vertiefen und zu politisieren, Aktionen zu wagen, kühn und allseitig die Initiative der Massen zu entfalten. Die wirkliche revolutionäre Solidarität mit der vietnamesischen Revolution besteht in der aktuellen Schwächung und der prozessualen Umwälzung der Zentren des Imperialismus. Unsere bisherige Ineffektivität und Resignation lag mit in der Theorie.

Die Revolutionierung der Revolutionäre ist so die entscheidende Voraussetzung für die Revolutionierung der Massen.

Es lebe die Weltrevolution und die daraus entstehende freie Gesellschaft freier Individuen!

Editoriale Anmerkung:

Bei dem Text handelt es sich um die Rede, die Rudi Dutschke auf dem Internationalen Vietnam-Kongress 17./18. Februar 1968 in Berlin gehalten hat. Der Text wurde dem Dokumentenband des Kongresses "Der Kampf des Vietnamesischen Volkes und die Globalstrategie des Imperialismus" entnommen, hrg v. SDS Westberlin 1968, S.107ff

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