Mal anders:
Der
1. Mai in Berlin-Kreuzberg

02/02   trend onlinezeitung Briefe oder Artikel info@trend.partisan.net ODER per Snail: trend c/o Anti-Quariat 610610 Postfach 10937 Berlin

«denn es kömmt darauf an sie zu verändern" Kalle

Die sich alljährlich wiederholenden „politischen" Ereignisse des 1. Mai in Kreuzberg wirken auf Außenstehende oft befremdlich oder grotesk. Die Demo zieht durch Kreuzberg, unvermeidlich scheint das Ende: dicke Tränengasschwaden, Steine fliegen durch die Luft, irgendwo schreien Menschen, Verletzte liegen auf dem Boden, knüppelschwingende Polizeihundertschaften die beliebig Menschen verhaften, oder die hektisch und planlos umherirren. Einige Stunden später trifft man sich mit Freunden in einer Kneipe, trinkt mehrere Pils und leckt sich die Wunden. Der Versuch sich an diesem Tag politisch zu äußern, hat umgekehrt proportional zur steigenden Teilnehmerzahl abgenommen. Kaum Transparente und nur wenig Flugblätter. Und noch vor dem letzten Redebeitrag liegt Kreuzberg in dichten Tränengasschwaden. Die politische Artikulation scheint ihres Sinnes enthoben.

Ähnlich einer Invasionsarmee okkupiert die Polizei den Kreuzberger Bezirk. Mit dem massiven Polizeiaufgebot wird die fundamentale Gesellschaftskritik präventiv für illegitim erklärt. Der politische Raum ist schon mit dem Ende, nämlich Steinwürfe und Massenverhaftungen definiert.

Dem will ein Bündnis entgegenwirken. Mit folgender Zielsetzung:

1.Rückeroberung der Politik; den 1.Mai in seiner Tradition der fundamentalen Gesellschaftskritik in den Vordergrund stellen.

2.Kreuzberg bleibt Polizeifrei; denn die Polizeidominanz eskalierte bewusst in den letzten Jahren die Situation.

Zugegeben ein hehres Ziel, dass sich nur schwierig verwirklichen lässt. Aber weshalb nicht das Experiment wagen. Denn die ritualisierte Auseinandersetzung wurde von vielen von uns als politische Sackgasse empfunden. Wir möchten deshalb im Vorfeld mit vielen Menschen ins Gespräch kommen und die Idee eines anderen 1. Mais diskutieren. Wir möchten die Legitimität fundamentaler Kritik einen Raum verschaffen und mit vielen Gruppen und Menschen über einen anderen 1. Mai reden. Bislang sind sehr unterschiedliche Menschen an dem Projekt beteiligt von der AAB bis zum FU-Prof.

Im Rückblick des bisherigen Geschehen wurde ein Vorschlag entwickelt der die selbstbestimmte Gestaltung dieses Tages neu anstrebt. Nur indem man im vorhinein Druck auf die politischen Entscheidungsgeber des Rot-Roten Senats ausübt wäre eine andere Tagesgestaltung möglich. Vorrausetzung für ein fernbleiben der Polizei ist eine sehr grosse Teilnehmerzahl bspw. 40.000 plus x. In einem breiten Bündnis von Anti-Globalisierungsinitiativen, Antifagruppen, Bürgerrechts- und Menschenrechtsgruppen. Bürgerinitiativen, Parteien, Migrationsprojekten, Schulen und Schülerinnen, Hochschulgruppen, Antirassistischen Initiativen, kritischen Gewerkschaftern u.v.m. wollen wir etwas anders ausprobieren unter Ausschluss politischer Parteien.

Das Projekt:

Ziel des Projektes ist es, aus dem 1. Mai 2002 eine offene Veranstaltung zu machen, auf der die politischen Inhalte wieder im Vordergrund stehen. Ohne im Sinne eines sozialarbeiterisch befriedenden Ansatzes Abstriche von den politischen Forderungen zu machen.

Es sollen möglichst viele brisante ökonomische, politische, soziale, kulturelle und individuelle Problemdimensionen behandelt werden.

Von A wie Antifaschismus bis Z wie Zapata ist alles möglich.

Nicht nur eine große Teilnehmerzahl für eine Demo und ein Fest ist entscheidend. Es kommt auf die Ausgestaltung und die Vermittlung von Kritik an.

„Wenn ich hier nicht tanzen kann, ist das nicht meine Revolution" Emma Goldmann

Bisher ist geplant ein großes Konzert am Abend vor dem 1.Mai in Kreuzberg. Am 1. Mai soll es mittags mit Diskussionen, Info, etc. beginnen, das Mariannenplatzfest geht dann nachmittags los, wie immer mit vielen Bands, Ständen etc. Zudem soll um 18 Uhr die revolutionäre 1.Mai-Demo beginnen. Während des ganzen Tages werden politische Initiativen ihre Projekte in vielfältiger Form vorstellen. Dabei soll kein Jahrmarkt der Beliebigkeiten geboten werden, stattdessen stellt ein breites politisches Spektrum der Linken die Notwendigkeit von Kritik dar. 

Auch die Kritik an einem Rot- Rotem Senat lässt man sich nicht verbieten. Wir wollen dem neuen Stadtregime nicht den Rücken frei halten durch einen befriedeten ersten Mai, sondern durch die Rückeroberung politischer Handlungsmacht Veränderung denkbar machen, bei der die Kritik der gesellschaftlichen Verhältnisse der Ausgangspunkt ist. Denn, Kritik ist bekanntlich der Kopf der Leidenschaft.

Das Projekt ist offen und in seiner Gestaltbarkeit von den Teilnehmerinnen und Teilnehmern sowie den Vorbereitenden mit einem eigenständigen Charakter bestimmbar. Wir sind gespannt auf Kritik und Anregungen. Und es kann sich jede und jeder einbringen in die Gestaltung eines anderen revolutionären 1. Mai in Berlin-Kreuzberg.

Editoriale Anmerkung:

Dieser Artikel erschien in der Interim 543 vom 7.2.2002. OCR-scan by red. trend.