Der Kopftuchstreit in Europa

von Bernhard Sander

02/04

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Was wir zur Zeit im Kopftuchstreit erleben, ist ein Bruch mit den Toleranz-Traditionen der bürgerlichen Demokratien von dramatischer Wirkung. Der französische Staatspräsident Chirac will das Tragen aller religiösen Insignien in der Schule verbieten lassen und übernimmt damit eine Position seines unterlegenen Gegners aus einer frühen Phase des politischen Kampfes. Le Pen hatte 1986 seinen Aufstieg mit der Forderung nach einem Verbot des "foulard islamique", dem "Islam-Lappen", begonnen.

Chirac wahrt, um die Hegemonie zu sichern, die formale Gleichheit, in dem er alle religiösen Symbole gleichermaßen einschließt, weil sie in hohem Maße eine Wertvorstellung der Zivilgesellschaft geblieben ist. Insofern bekommt er die Zustimmung selbst der größten islamischen Vereinigung in Frankreich.

In Deutschland liegt der Fall anders als in Frankreich, wie die Reaktionen auf die Äußerungen des Bundespräsidenten zeigen. Rau hatte an die Selbstverständlichkeit erinnert, dass bei Vorschriften zu religiösen Symbolen etwa in Schulen alle Religionen gleich zu behandeln seien. In den Augen der Union hat er damit "unsere Identität als christlich geprägtes Land" (Stoiber) in Frage gestellt. Das Verdikt der badenwürtembergischen Kultusministerin Schavan trifft ausschließlich die islamische religiöse Richtung. "Das Kopftuch hingegen ist ein Symbol des politisch-fundamentalen Islamismus" (CDU-Fraktionsjustiar Pofalla) Das Gesetz, das Lehrerinnen das Tragen eines Kopftuches im Unterricht verbietet, hat verheerende Wirkung in der Bevölkerung islamischen Glaubens. Ebenso wie die Razzien, die man ausgerechnet am Freitag mit ganzen Hundertschaften in Moscheen und anderen religiösen Einrichtungen durchführt.

Im heutigen Deutschland schwingt sich die politische Klasse von der badenwürtembergischen Kultusministerin bis zum Bundeskanzler in der Bild-Zeitung auf die Spitze einer breiten ausländerfeindlichen Strömung, die ihren parteipolitischen Ausdruck noch gar nicht findet und daher eigentlich keine Konkurrenz darstellt. Die Tatsache, dass ein halbes Dutzend Lehrerinnen im deutschen Staatsdienst, als Beamtinnen vereidigt auf das Grundgesetz und also auf die Grundrechte, einem religiösen, d.h. einem kulturellen Gebot entspricht, wird zum Gegenstand einer breiten Festlegung der politischen Klasse, die bewirken könnte, dass sich das Verfassungsverständnis breiter Bevölkerungsteile weiter in Richtung rechtsextremer Positionen verschiebt.

Religiöse Regeln enthalten, wie alle Vorschriften aus vorbürgerlicher Zeit, Sachverhalte, die den Vorstellungen von Freiheit, Gleichheit, Eigentum und Brüderlichkeit widersprechen, und können insofern einem aufgeklärten Zeitgenossen nicht sympathisch sein. Umgekehrt kennt die bürgerliche Gesellschaft und ihr politischer Ausdruck (das Wahlrecht usw.) von der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung und der französischen Revolution an immer auch Verstöße gegen die propagierten Ideale: Das Zensus-Wahlrecht gewichtete die abgegebenen Stimmen nach Einkommen. Ausschluss von Frauen und Sklaven bei Wahlen usw. sind nur die eklatantesten Verletzungen des formalen Gleichheitsgebots, die teilweise erst vor wenigen Jahrzehnten abgeschafft wurden. Damit kein Missverständnis aufkommt: Wer die leibliche und seelische Unversehrtheit seiner Mitmenschen aufgrund seiner angeblichen kulturellen, religiösen oder "natürlichen" Andersartigkeit angreift, gehört mit allen legalen Mitteln daran gehindert und gegebenenfalls bestraft. Dies hat aber nichts mit dem preemptiven Duktus des Gesetzes und seiner Verfechter zu tun.

Der Anti-Islamismus geht weit über die Ablehnung des Extremismus hinaus und wird zur neuen europäischen Ersatz-Ideologie, die Menschenrechte instrumentalisiert und verabsolutiert. Mit der Gleichsetzung von Europa und christlich-abendländischer Wertegemeinschaft wird nicht nur übertüncht, dass die Normen dieser Gesellschaft nicht nur allgemein hinfällig sind, sondern auch, dass die Gerechtigkeitsbeziehungen, die immer schon ziemlich relativ waren, aber die Gesellschaft zusammenhielten, durch die neoliberale Wirtschaftspolitik zerstört werden. Dies aktiviert die Rückkehr auf fiktive Gemeinschaftszugehörigkeiten, die den geplatzten Gesellschaftsvertrag ersetzen sollen.

Rechtsextremisten stellen in vielen europäischen Ländern schon heute ein Potenzial von 15-20% der Wähler dar und sie rekrutieren sich aus allen Teilen der Bevölkerung – vor allem aber aus denen, die sich von der Aufkündigung des assymetrischen Klassenkompromisses am meisten gefährdet fühlen. Aber auch die potenziellen Opfer des Rechtsextremismus entwickeln eine solche fiktive Gemeinschaft: Viele Jugendlichen aus Familien mit Ursprüngen in arabischen Ländern haben keine Einsicht in den Klassencharakter ihrer Ausgrenzung und identifizieren sich mit einem Islam-Konstrukt, das ungleich radikaler als die Religion selbst angelegt ist. Hier wird die Forderung gegenüber der eigenen Schwester oder anderen weiblichen Verwandten, ein Kopftuch zu tragen, zu einem Weg, eigene Identität zu schaffen.

Die Frauen selbst nutzen das Kopftuch, um sich von der als sexistische Zudringlichkeit empfundene Kultur weiter Teile der Gesellschaft (auch der eigenen sozialen Gruppe) abzugrenzen oder zu schützen. So machten gerade die jungen arabischen Frauen aus den Vorstädten den aktiven Kern der Bewegung "Weder Nutten noch Unterworfene" (Ni putes, ni soumises) aus, die mit großem Beifall einen Auftritt auf dem Parteitag der PS hatte.

Editorische Anmerkung
Der Artikel ist eine Spiegelung von
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