Kritik am Neoliberalismus
Interview mit Joseph Stiglitz


geführt von Sonia Mikich

02/04

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Mikich: Sie sind für viele Menschen ein Wortführer. Für Menschen, die fundamentale Kritik an der Weltbank, am Internationalen Währungsfonds oder an der Welthandelsorganisation üben. Sie fordern eine Reform dieser Institutionen, mehr Demokratie. Was hat Ihnen die Fehlentwicklungen vor Augen geführt?

Stiglitz: Nun, entscheidend war, dass ich als Vizepräsident und Chefökonom der Weltbank diese Institutionen von innen her beobachten konnte. Vor allem hatte ich Gelegenheit zu sehen, wie der Internationalen Währungsfonds, funktioniert. Mir fiel auf, wie schwierig es war, Reformen durchzusetzen, die mir doch sehr sinnvoll erschienen. Noch schwieriger erwies es sich, über diese Reformen offen zu sprechen.

In allen demokratischen Gesellschaften muss man zunächst einen offenen Dialog führen, bevor man weitreichende politische Massnahmen ergreift. Vor allem, wenn sie mit grosser Wahrscheinlichkeit einen gewöhnlichen konjunkturellen Abschwung in eine Rezession, und dann in eine Depression führen. So funktioniert es in demokratischen Ländern wie Amerika und in der restlichen Welt. Aber es gab keine offene Debatte über diese politischen Maßnahmen.

Der Grund dafür, liegt meines Erachtens, in der Art und Weise, wie diese Institutionen geführt werden. Wer trifft denn die Entscheidungen? Die Spitze des IWF: Sie besteht nur aus Finanzministern und Zentralbankchefs. Nur diese Interessensgruppe hat eine Stimme. Wenn es ja nur darum ginge, sagen wir mal, Verrechnungsverfahren zu verbessern, also um technische Angelegenheiten, würde das niemand anfechten. Aber die Entscheidungen des IWF haben unmittelbare Auswirkungen auf die Arbeitslosenquote, die Umwelt, und auf das Gesundheitswesen.

Ein Beispiel: das Eingreifen des IWF in Thailand führte zu Budgetkürzungen und zu einem Anstieg der Arbeitslosigkeit. Die Regierung musste die Ausgaben für AIDS-Vorbeugungsmassnahmen reduzieren, nachdem sie zuvor enorme Fortschritte bei der AIDS-Bekämpfung erzielt hatte. Als der IWF abzog, stieg die Anzahl der AIDS-Fälle wieder. ALLE Teile der Gesellschaft sind von den IWF-Programmen betroffen, obwohl nur auf die Finanzwelt gehört wird. Andere Srimmen sind gar nicht gefragt.

Mikich: Würden Sie den IWF immer noch als Fahnenträger des Neoliberalismus bezeichnen?

Stiglitz: Ja, in der Tat. Wobei ihm keine zusammenhängende Philosophie zugrundeliegt. Obwohl der Neoliberalismus von sich behauptet, ganz und gar auf die freie Marktwirtschaft zu setzen, das bedeutet: keine staatliche Intervention, habe ich früher, als führender ökonomischer Berater von Präsident Clinton, ganz andere Erfahrungen gemacht. Nämlich, dass alle die freie Marktwirtschaft befürworten. Ausser in ihrer eigenen Sparte. Und dass alle gegen Subventionen sind, ausser in ihrem eigenen Sektor.

Nun, schauen Sie, wie das neoliberale Doktrin der freien Marktwirtschaft auf dem Devisenmarkt angewendet wurde. Was machte der IWF, als die Ostasienkrise ausbrach? Er benutzte einen Fonds von Milliarden und Abermilliarden Dollars, um amerikanischen, westeuropäischen und westlichen Banken aus der Klemme zu helfen.

Mikich: ... Also doch Interventionismus?

Stiglitz: Er greift ein, aber selektiv. Er verfügt über Milliarden, damit er die Banken unterstützen kann. Aber als die Armen in Indonesien um ein paar Millionen Dollar für Nahrungsmittel baten, behauptete der IWF, es gebe kein Geld dafür.

Mikich: Wo sehen Sie die grösste Gefahr des Neoliberalismus?

Stiglitz: Erstens, kurbelt er den Wirtschaftswachstum nicht an; und zweitens, steigert er nicht die Leistungsfähigkeit.

Mikich: Es gibt Experten, die dies bestreiten würden?

Stiglitz: ... die Beweislage ist aber eindeutig. Nehmen wir als Beispiel Lateinamerika, das als die grösste Erfolgsgeschichte des neoliberalen Doktrins schlechthin gilt. Früher genoss Argentinien eine vom IWF zugewiesene Bonitätseinschätzung von A+. Schauen Sie sich das Land jetzt an, nachdem es jahrzehntelang die vom IWF diktierten Reformen geschluckt hat. Die Zahlen sind klar: Die Wachstumsraten der letzten Jahrzehnte sind halb so gross wie die der 50er, 60er und 70er Jahre - also vor den Reformen.

Und es kommt noch schlimmer: Dort, wo Wachstum zu verzeichnen Da gab es Wachstum, aber vor allem die oberen 10 Prozent profitierten davon. Die Ärmsten der Gesellschaft gingen leer aus. Den meisten isr es sogar schlechter ergangen. Fazit: Neoliberalismus: erzeugt keinen Wachstum und schafft soziale Ungleichheit.

Mikich: Sie behaupten, dass der Neoliberalismus gewissen Interessensgruppen, zum Beispiel dem Finanzwesen, dem Kapital, den reichen Eliten in manchen Ländern als eine Art Mantra dient. Wie ist es politisch möglich, dass diese Interessensgruppen den Entwicklungsländern solche Bedingungen aufzwingen können?

Stiglitz: Erstens möchte ich noch einmal betonen: er ist eine Art Mantra? eine Art Religion. In meiner Arbeit, für die ich den Nobelpreis bekam, stellte ich fest, dass auf sich allein gelassene Märkte, vor allem in Entwicklungsländern, ineffizient sind. Der Staat muss also bei solchen "unvollständigen" Märkten eingreifen.

Die "unsichtbare Hand", die für grössere Effizienz sorgen soll, ist deshalb unsichtbar, weil sie gar nicht existiert. Daher hat die Theorie des Neoliberalismus gar keine Basis. Die Liberalisierung der Kapitalmärkte setzt die Entwicklungsländer einem enormen Risiko aus. Ausserdem gelingt es Ländern wie China auch ohne Liberalisierung Investitionen ins Land zu ziehen. Ohne sich den spekulativen Geldströmen zu öffnen, die über Nacht ein- und ausfliessen. Mit einem solchen Kapital kann man keine Fabriken bauen.

Mikich: Verstehen Sie, warum sozialdemokratische Regierungschefs wie Tony Blair oder Gerhard Schröder die Institutionen IWF oder Weltbank so zurückhaltend kritisieren? Im Gegenteil: sie geben sogar Bekenntnisse zu einem Neoliberalismus mit menschlichem Antlitz ab.

Stiglitz: In vielen Ländern haben die Sozialdemokraten inzwischen Angst vor den Finanzmärkten entwickelt.

Mikich: Weil sie sie nicht verstehen?

Stiglitz: Weil sie sie nicht verstehen. Und weil man ihnen sagt, dass Regierungen verantwortungslos sind, wenn sie die Finanzmärkte kritisieren. Und die Märkte reagieren darauf mit einer Erhöhung der Zinssätze, was wiederum die finanzielle Lage und das Haushaltsdefizit eines Landes noch weiter verschärft. Folglich können die Politiker nur schwerlich ihre sozialpolitischen Ziele erreichen.

Mikich: Und werden abgewählt?

Stiglitz: Und werden abgewählt. Aber auch wenn es ihnen nicht um ihre Wiederwahl geht, auch wenn sie ihre sozialpolitischen Ziele aufrichtig verfolgen, müsste man die Ausgaben um Milliarden erhöhen, um die Zinszahlungen leisten zu können, weil die Finanzmärkte ihr Vertrauen in ihnen verloren haben. Dadurch wird der Spielraum in Haushaltsfragen wesentlich eingeschränkt. Deshalb lassen sich Politiker überall auf der Welt, trotz guter Absichten, einschüchtern. Und deshalb tragen die jenigen, die keiner Regierung angehören, eine besondere Verantwortung, ihre Stimme zu erheben.

Mikich: Jeden Tag sind ungefähr 1.5 Billionen US Dollar im Umlauf um die Welt im spekulativen Handel. Davon sind 80 Prozent kurzfristige bzw. "heisse" Gelder. Inzwischen werden Stimmen lauter, die eine Besteuerung dieser Kapitalbewegungen fordern. Wie stehen Sie dazu?

Stiglitz: Ja, die Tobinsteuer. Es handelt sich um eine Steuer auf Kapitalströme. Dafür gibt es zwei Begründungen: Erstens brauchen wir eine Einnahmequelle, um notwendige Weltgemeinschaftsgüter bezahlen zu können. Mit der zunehmenden Globalisierung steigen nämlich auch die globalen Bedürfnisse.

Wir brauchen Mittel, um den Kampf gegen AIDS und andere weltweite Krankheiten, um den Krieg gegen Terror, gegen Umweltzerstörung und gegen Armut in den Entwicklungsländern zu finanzieren. Allein für die Entwicklungsländer brauchen wir etwa 50 Milliarden Dollar, um nur minimale Ziele zu erreichen.

Also brauchen wir zusätzliche Einnahmen zur Finanzierung dieser wichtigen globalen Bedürfnisse, die uns allen einen Vorteil bringen.

Noch verfügen wir nicht über solch eine Einnahmequelle. Gegenwärtig befinden wir uns in einer Situation, in der die USA die restliche Welt erpressen können. Nur weil den USA die eine oder andere Entscheidung der UN nicht gefiel, weigerten sie sich weiter Beiträge zu zahlen. So kann man aber nicht mit einer internationalen Institution umspringen.

Für mich besitzt die Tobinsteuer einen enormen symbolischen Wert, weil sie besagt, dass die Welt in den letzten Jahren von den Finanzmärkten beherrscht wurde. Die Finanzmärkte haben uns jede Menge Instabilität beschert und zwar auf Kosten der armen Bevölkerungen in den Entwicklungsländern.

Die Tobinsteuer ist deshalb sogar mehr als ein Symbol, weil sie nämlich etwas tatsächlich bewirkt. Und sie könnte als Einnahmequelle dienen zur Finanzierung von Weltgemeinschaftsgütern. Das ist mehr als symbolisch.

Es ist ein Bekenntnis dazu, dass wir in dieser Ära der Globalisierung gemeinsam auf globaler Ebene handeln müssen. Dass wir Ressourcen brauchen, um eine sinnvolle Entwicklungspolitik zu betreiben, um Armut zu lindern und um gesundheitspolitische und umweltpolitische Fragen in Angriff zu nehmen.

Daher dient die Tobinsteuer zwei Zielen: Sie schafft eine Basis, auf der wir diese Probleme auf globaler Ebene bekämpfen können; und sie versucht, das durch den freien Kapitalverkehr entstandene Ungleichgewicht zu beheben, das soviel viel Unheil auf der Welt angerichtet hat.

Mikich: Auch Befürworter der Tobin-Steuer sagen, dass sie für sich alleine wenig bewirken kann, weil es zu viele Schlupflöcher gibt, durch die Kapital abfliessen kann. Ist Ihrer Meinung nach Europa gross genug, um im Alleingang eine solche Steuer einzuführen?

Stiglitz: Auf jeden Fall. Diese Steuer verursacht keinen Schaden, auch wenn sie die Finanzmärkte nicht ganz stabilisieren kann. Der Versuch solche spekulative Aktivitäten zu unterbinden, wird die Welt nicht ins Verderben stürzen. Die globale wirtschaftliche Effizienz wäre dadurch nicht beeinträchtigt.

Europa muss dafür sorgen, dass die Abwicklung solcher Transaktionen nicht ausserhalb Europas verlagert wird. Daher ist es entscheidend, dass diese Steuer für Transaktionen gilt, die von EU-Bürgern getätigt werden - ungeachtet dessen, WO sie abgewickelt werden.

Dafür müsste aber eine ganz neue Besteuerungsgrundlage geschaffen werden als sie zur Zeit in Europa gilt. Deshalb bleibt für mich die Schlüsselfrage: Ist sie durchführbar? Ich halte das für eine rein technische Frage.

Mikich: Technisch oder politisch?

Stiglitz: Technisch und politisch. Kann man das Gesetzeswerk so gestalten, dass es nicht umgangen werden kann? Zur Zeit habe ich noch Probleme mit der Umsetzung der Tobin-Steuer, vor allem im Bezug auf Derivativ- und Optionsgeschäfte. Allerdings sind sie bei sorgfältiger Vorbereitung zu lösen.

Die Akteure auf den Finanzmärkten sind sehr erfinderisch bei der Umgehung von Steuern. Das habe ich während meiner Zeit im Weissen Haus festgestellt. Diese Steuer soll nicht nur symbolisch sein. Ich will eine Steuer, die etwas bewirkt.

Mikich: Ist es jetzt an der Zeit für einen Paradigmenwechsel? In den letzten 20 Jahren hat man erlebt, wie die Ökonomie die Politik abgedrängt hat. Ist jetzt die Zeit gekommen, wo die Politik als gesellschaftliches Gestaltungsinstrument wieder die Oberhand haben soll? Brauchen wir nicht auch eine moralische Umwälzung?

Stiglitz: Wir müssen bei unserer Entscheidungsfindung nachhaltige Wertvorstellungen mit einbeziehen.

Einigen Entscheidungen, die zur Zeit in den USA getroffen werden, nebenbei bemerkt, fehlt nicht nur eine ökonomische, sondern, meines Erachtens, auch eine moralische Grundlage, vor allem im Bezug auf Menschenrechte.

Als Wirtschaftswissenschaftler geht es mir nicht darum, dass das Ökonomische dem Politischen übergeordnet sein soll. Sondern, dass der wirtschaftspolitische Ansatz vor allem auf wissenschaftlicher Grundlage fusst. Was heutzutage als Wirtschaftswissenschaft verkauft wird, ist in Wirklichkeit eine Ideologie, eine Religion.

Daher wäre es ein grosser Schritt vorwärts, wenn wirtschaftswissen-schaftliche Aspekte grössere Beachtung im Entscheidungsprozess finden würden. Die Wirtschaftswissenschaft betont die Notwendigkeit von sogenannten Tradeoffs; d.h. dass sie erkennt, dass einige politische Massnahmen die eine oder andere Gruppe begünstigen, andere wiederum nicht. Sie analysiert die Risiken, die Kosten und die Vorteile und dann überlässt sie es den Politikern - nach Abwägen dieser Tradeoffs - die richtigen Entscheidungen zu treffen. Also, die Wirtschaftswissenschaft ordnet sich doch der Politik unter, wenn sie sinnvoll handelt.

Leider stellt die Ideologie, die sich gegenwärtig als Wirtschaftswissenschaft ausgibt, eine Aushöhlung von ökonomischen Prinzipien dar. Indem sie darauf beharrt, dass es nur einzige Lösung gibt, und zwar die neoliberale.

Mikich: Sie sind also auch dafür, dass sich der einfache Bürger mit solchen ökonomischen Fragen inhaltlich beschäftigt?

Stiglitz: Ja, in der Tat. Viele dieser Frage sind einfach zu verstehen. Man muss kein promovierter Akademiker sein, um begreifen zu können, dass, wenn man beim konjunkturellen Abschwung auch noch die öffentlichen Ausgaben kürzt, was wiederum die Nachfrage bremst, das alles den Abschwung noch verschärft.

Mikich: Liege ich richtig in der Annahme, dass Sie Bedenken gegen soziale Bewegungen hegen, die die Globalisierungskritik auf die Strasse tragen?

Stiglitz: Nein, ich bin der Meinung, dass sie eine sehr wichtige Funktion erfüllen, indem sie solche hochbrisanten Themen in die Öffentlichkeit bringen - Themen, die nicht genügend Beachtung finden und die das Leben von Milliarden von Menschen auf der Welt beeinflussen. Das kann man nicht hoch genug einschätzen.

Nun, am Ausgang unserer Diskussion habe ich meinen Glauben an demokratischen Dialog bekräftigt. Manche dieser Themen sind hoch kompliziert und müssen wissenschaftlich angegangen werden. Was aber die Wertvorstellungen dieser Globalisierungskritiker anbelangt, finde ich sie sehr sympathisch.

Ich will auch ein wesentlich demokratischeres, internationales Gefüge, das den armen Menschen in den Entwicklungsländern hilft. Ich mache mir auch Sorgen um die Umwelt. Deshalb liegen wir 100 Prozent auf der gleichen Linie, was unsere Wertvorstellungen anbelangt.

Natürlich ist es mir wichtig als Wirtschaftswissenschaftler, die Beweislage und die Anwendbarkeit solcher Ansätze genau zu untersuchen, um abwägen zu können, ob sie tatsächlich funktionieren könnten. Nur darauf zu hoffen, dass sie funktionieren, reicht nicht aus.

Editorische Anmerkung
Nobelpreisträger Joseph Stiglitz war führender Wirtschaftsberater der Clinton-Administration (1993-1997), außerdem Vize-Präsident der Weltbank (1997-2001). In dieser Zeit wandelte er sich zum Kritiker einer unregulierten Globalisierung. Seine öffentliche Kritik am Neoliberalismus und an der Politik des Internationalen Währungsfonds (Die Schatten der Globalisierung. Berlin 2002) machten ihn zum ideologischen Stichwortgeben der Antiglobalisierungsbewegung. Er war im Januar 2004 einer der Hauptredner auf dem 4. Weltsozialforum in Bombay/Indien.
Der Text ist eine Spiegelung von
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