Topographie der Grausamkeit
von Etienne Balibar
02/04 trend onlinezeitung
Briefe oder Artikel info@trend.partisan.net ODER an die Postanschrift trend c/o Anti-Quariat 610610 Postfach 10937 Berlin Der Nationalstaat schuf, was die Menschenrechte angeht, lange Zeit eine Art Teufelskreis. Zum einen bot er den einzigen »positiven«, institutionellen Horizont für die Achtung von Menschenrechten, doch zugleich war dieser Horizont »unmöglich«, insofern der Staat die universellen Werte zerteilte und zerstörte. Heute müssen wir fragen, ob dies überhaupt noch die Bedingungen sind, unter denen wir leben und arbeiten. Was bedeutet das »Recht, Rechte zu haben« (Hannah Arendt) in der heutigen Situation? Diese Frage wird um so dringlicher, da, obwohl die Form der Nation nicht einfach verschwindet, die Voraussetzungen der Politik, der Ökonomie und der Kultur wie auch die materielle Verteilung von Macht und Möglichkeiten zunehmend supranational geworden sind. »Postnationale« Formationen und quasi-staatliche Institutionen entstehen unter den Bedingungen der Globalisierung. Die »europäische Einigung« ist ein wichtiges Beispiel für diese Entwicklung. Die Gewalt der Grenzen
Ich halte es für wichtig, zu sehen, dass wir parallel zur Entwicklung einer formalen »europäischen Staatsbürgerschaft« mit einer entstehenden »europäischen Apartheid« konfrontiert sind. Auf der institutionellen Ebene wird dadurch die Entwicklung eines demokratischen Europa behindert, ja entschieden blockiert. Und über kurz oder lang wird es auch die europäische Einigung überhaupt, da es heute keine Möglichkeit gibt, die supranationale Gemeinschaft auf autoritäre Weise - à la Bismarck - zu konstituieren; auch nicht um der Macht Willen, der Konstituierung einer regionalen Macht, die sich mit der einen ökonomischen, politischen und militärischen Supermacht auf der Welt messen könnte. Eine supranationale Europäische Gemeinschaft kann es nur geben, wenn im Vergleich zu den bestehenden Verfassungen dabei für die Mehrheit ein »demokratischer Surplus« entsteht.
Doch ich möchte zunächst zwei Fragen klären. Warum spreche ich von einer europäischen Apartheid? Und warum von Apartheid in Europa?
Europäisch
Der Grund, von einer europäischen Apartheid zu sprechen, kann nicht einfach sein, dass Migranten (oder genauer: den Arbeitsmigranten und Asylsuchenden aus dem Osten und Süden, die legal oder illegal die Grenzen überquert haben, mit denen sich die wohlhabenden »Zivilisationen« Europas schützen) weniger Rechte zugestanden werden. Es muss etwas qualitativ Neues geben. Für die Entwicklung Europas ist dies seit 1993, seit der Unterzeichnung des Vertrags von Maastricht, tatsächlich der Fall. In jedem der europäischen Nationalstaaten existieren diskriminierende Strukturen, insbesondere solche aus der kolonialen Vergangenheit, die den Anspruch auf Bürgerrechte und/oder Staatsbürgerschaft ungleich regeln. Jedoch kommt mit der Gründung der Europäischen Union (nach der bloßen Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft) das Problem hinzu, dass der Begriff eines Civis Europeanus mit einem spezifischen Inhalt gefüllt werden muss: mit neuen individuellen und kollektiven Rechten, die Schritt für Schritt in Kraft treten (beispielsweise die Möglichkeit, europäische Gerichte gegen nationales Recht anzurufen).
Die entscheidende Frage ist nun, wem die neuen Rechte garantiert werden. Entweder der gesamten europäischen Bevölkerung oder einem stärker begrenzten europäischen Volk (ich beziehe mich hier auf eine Debatte über die Unterscheidung zwischen Volk und Bevölkerung, die in Deutschland virulent ist; dieses Dilemma ist jedoch für ganz Europa relevant und kann als paradigmatisch betrachtet werden). Es erweist sich als sehr problematisch, das europäische Volk als die symbolische, rechtliche und materielle Basis Europas zu definieren. Der Vertrag von Maastricht löst das Problem einfach durch die Bestimmung, dass nur diejenigen, die bereits im Besitz der Staatsbürgerschaft eines der konstituierenden Nationalstaaten der EU sind, automatisch europäische Staatsbürger werden. Damit aber - und die Debatte erinnert vielleicht an Diskussionen der »Gründungsväter« über die US-amerikanische Verfassung - ist bereits eine Richtung vorgegeben. Angesichts der quantitativen wie qualitativen Bedeutung der permanent in Europa lebenden Einwanderer (die französische Politologin Catherine de Wenden sprach von ihnen als »dem 16. Mitgliedsstaat«) wird das Projekt des Einschlusses sofort in ein Programm des Ausschlusses umgewandelt. Diese Transformation führt zu drei »Metamorphosen«:
- Ausländer werden zu Fremden, zu Bürgerinnen und Bürgern zweiter Klasse, die dazu verdammt sind, nicht dazuzugehören.
- Schutz wird zu Diskriminierung: Seit es Gruppen von Einwanderern gibt, die zwar ihrer politischen Rechte beraubt sind, aber auf gewisse soziale Rechte ein Anrecht haben, ist es das zentrale Thema und regelrecht die Obsession konservativer Kräfte, die Migrantinnen und Migranten von der Sozialhilfe und anderen wohlfahrtsstaatlichen Sicherheiten auszuschließen. Der französische Front National hat das als »Préférence nationale« bezeichnet. Weil aber solche »Vorrechte« zu einem gewissen Grad bereits in allen nationalen Institutionen existieren, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass daraus auch eine »Préférence européenne« abgeleitet wird.
- Kulturelle Differenz wird zu rassistischer Stigmatisierung, sie ist der Kern des »Neorassismus», der sowohl postkolonial als auch postnational ist.
Apartheid?
Kann von Apartheid zu sprechen mehr als nur eine überflüssige Provokation sein? Ist es denn sinnvoll, zu behaupten, dass Apartheid in Europa (und vielleicht nicht nur dort) wiederauftaucht, während sie in Südafrika offiziell beseitigt ist? Ist das ein weiteres Beispiel aus der Reihe »The Empire strikes back« (Paul Gilroy)? Denkbar wäre doch auch der Vergleich mit anderen historischen Formen des institutionellen Rassismus, beispielsweise in den USA, wo die Jim Crow- Gesetzgebung noch nicht vergessen ist und in wiederkehrenden Abständen sogar erneuert zu werden scheint, wenn konservative Politik gerade aktuell ist. Oder ein anderer historischer Vergleich: Mein Kollege Helmut Dietrich, der lange Zeit über Flüchtlinge und Migranten an den östlichen Außengrenzen Europas gearbeitet hat, sprach in diesem Zusammenhang vom Hinterland des neuen europäischen Reichs.
Konzentriert man sich nun auf die Strukturen statt auf das Ausmaß des Leids, das das eine oder andere System hervorgebracht hat, so gibt es wenigstens zwei einander ergänzende Gründe, aus einer historischen Perspektive von Apartheid zu sprechen und die Situation der Regionen in Afrika, Asien oder anderen Teilen Europas, aus denen die meisten Migranten kommen, mit den südafrikanischen Homelands zu vergleichen. Zum einen verschärfen und brutalisieren die europäischen Staaten stetig die »Sicherheitskontrollen«, die sich mit einer Kombination aus moderner Erfassungstechnik und altbewährten »Rassenprofilen« (so genannten Gesichtskontrollen) in der gesamten Gesellschaft ausbreiten. Dies geschieht mit Blick auf Arbeitskräfte, die sich auf der einen Seite der Grenze »reproduzieren«, während sie auf der anderen Seite »produzieren«, und die somit weder Inländer noch Ausländer sind (doch für viele von uns Inländer sind), offiziell aber als Ausländer betrachtet werden. Darum geht es im Abkommen von Schengen. Zum anderen löst die Existenz von Migrantenfamilien, ihre Zusammensetzung und ihr Way of life wahre Zwangsvorstellungen in der Einwanderungspolitik und in der Öffentlichkeit aus. Sollte man Migrantenfamilien trennen oder zusammenführen, wird da gefragt. Und auf welcher Seite der Grenze sollte das geschehen, welche Formen der Familie (traditionell oder modern) sollte man im Blick haben, wie sollte die Familie zusammengesetzt sein (Eltern und Kinder?), und welche Rechte sollte man ihr zugestehen? Wie ich in dem Buch Rasse, Klasse, Nation bereits gezeigt habe, ist die Familienpolitik, oder allgemeiner ausgedrückt, die Politik der Genealogie, durch die autoritäre Bildung einer nationalen »Gemeinschaft« strukturell ein wesentlicher Mechanismus in der Funktionsweise des (historischen) Rassismus. Das ist selbstverständlich auch dann noch richtig, wenn aus der nationalen Gemeinschaft eine multinationale wird.
Gewalt, die Grenzen hinter sich lässt
Aus all dem könnte man den Schluss ziehen, dass ein desegregiertes Europa, das heißt ein demokratisches Europa, in weiter Ferne liegt. Tatsächlich ist die Situation viel widersprüchlicher, da es Tendenzen gibt, die in beide Richtungen weisen. Wir befinden uns an einem historischen Scheidepunkt, der nur ansatzweise und sehr zögerlich als solcher wahrgenommen wird. Ich möchte jedoch auf etwas anderes hinaus, auf die Tatsache, dass diese Fragen ein Problem verdeutlichen, das typisch global und lokal (»glokal«) ist. Das widersprüchliche und evolutionäre Muster eines »Europäischen Staatsbürgerrechts-cum-Apartheid« ist einerseits eine Reaktion auf reale und imaginäre Effekte der Globalisierung. Andererseits ist es eine reine Projektion solcher Effekte, obgleich nicht ohne historische Spezifik.
Ich möchte nun direkt auf dieses Thema kommen. Es ist das Thema einer »globalen präventiven Aufstandsbekämpfung«. Es geht dabei nicht nur um die Gewalt der Grenzregime, sondern um Gewalt ohne Grenzen, um Gewalt, die Grenzen hinter sich lässt.
Ein Schweizer Wissenschaftler, Pierre de Senarclens von der Universität Lausanne, hat in einer Studie auf die Relevanz der offiziellen Definitionen von Gewalt hingewiesen und darauf, wie diese Definitionen dafür herangezogen werden, Ausmaß und Reichweite so genannter »humanitärer Interventionen« zu rechtfertigen. Der Autor zeigt, wie nach 1989 der Zusammenbruch der Ordnung des Kalten Kriegs, was den Einsatz politischer Gewalt angeht, die Grenzen zwischen Krieg und Frieden verwischte.
Unter diesen Bedingungen sind zwei ganz unterschiedliche Schlüsse möglich. Entweder glauben wir, dass das Phänomen massiver und extremer Gewalt in all seinen Facetten generell die Politik abgelöst hat, einschließlich der inneren und äußeren Machtverhältnisse von Staaten. Oder wir erkennen an, dass die Bereiche der Politik und der Gewalt - einer Gewalt, der jegliche Rationalität zu fehlen scheint und die vor Selbstzerstörung nicht zurückschreckt - nicht länger getrennt sind; sie haben einander vielmehr zunehmend durchdrungen. Das beschreibt genau die Bedingung, unter der etwas, das »humanitäre Aktion« oder »Intervention« genannt wird, ob staatlich oder privat, zum notwendigen Substitut von Politik wurde. Es würde zu weit führen, diese Veränderung in all ihren Aspekten zu diskutieren; ich beschränke mich auf drei Fragen, die mir für das Konzept des Politischen selbst wichtig scheinen.
Ist die Ausbreitung extremer Gewalt noch nie da gewesen?
Ich will versuchen, an diesem Punkt, der eine Reihe von Problemen aufwirft - Fragen der alten und neuen Kriegsführung bis hin zu der hochsensiblen ethischen Frage, in welcher Form Genozide miteinander verglichen werden dürfen -, besonders vorsichtig zu sein. Was vielleicht bisher ohne Beispiel ist, ist die neue Sichtbarkeit extremer Gewalt, insbesondere in dem Sinne, dass moderne Technologien medialer Berichterstattung und Bildübertragung sowie der Bearbeitung von Bildern extreme Gewalt in eine Show verwandeln, die simultan dem Weltpublikum präsentiert wird - letztlich so, wie wir es zum ersten Mal während des Golfkriegs als virtuelle Realität sehen konnten. Wir wissen auch, dass der Effekt solcher Technologien zugleich darin besteht, Gewalt oder grausame Szenen aufzudecken (beispielsweise durch Bilder von verstümmelten Kindern in Angola oder Sierra Leone), andere Gewalt wiederum zu verdecken (zum Beispiel, indem Bilder von verhungernden Babys in Bagdad vorenthalten werden). Es sind ideologische Winkelzüge, wenn die mediale Darstellung extremer Gewalt Ereignisse wie den politischen Übergang vom »Gleichgewicht des Schreckens« während des Kalten Kriegs zum »Kampf zwischen den Opfern« präsentiert und sie dabei in die undifferenzierte Formel »Verbrechen gegen die Menschheit« kleidet, die zwar rechtlich und moralisch kodifiziert, aber im höchsten Maße unpolitisch ist. Letztlich wird deutlich, dass die alltägliche Darstellung von Gewalt insbesondere in den relativ wohlhabenden und behüteten Gegenden der Erde einen sehr ambivalenten Effekt produziert: Sie erweckt Mitleid, aber auch Abscheu, und verstärkt so die Idee, dass die Menschheit als solche tatsächlich in qualitativ unterschiedliche Kulturen oder Zivilisationen gespalten ist, die sich, folgt man den Vorstellungen eines gewissen Politologen, zwangsläufig bekriegen müssen.
Ich bin mir all dieser Schwierigkeiten bewusst, würde aber daran festhalten wollen, dass Realität hinter der Vorstellung von etwas noch nie Dagewesenem liegt. Vielleicht ist es einfach die Tatsache, dass eine Reihe heterogener Praktiken oder Prozesse der Vernichtung oder Extermination (womit ich die Tötung einer großen Zahl von Individuen meine, insofern sie zu bestimmten objektiven oder subjektiven Gruppen gehören) selbst global geworden ist, das heißt solche Praktiken laufen überall auf der Welt auf ähnliche Weise ab und bilden so zunehmend eine Kette, die das, was Edward P. Thompson vor zwanzig Jahren als »Exterminismus« antizipiert hat, Realität werden lässt. In diese Serie miteinander verbundener Ereignisse müssen wir, eben weil die Ereignisse so heterogen sind, das heißt nicht ein und dieselbe Ursache haben, aber kumulativ wirken, folgende miteinbeziehen:
- Kriege, sowohl Bürgerkriege als auch Angriffskriege, eine Unterscheidung, die in vielen Fällen nicht leicht zu treffen ist (man denke an Jugoslawien oder Tschetschenien);
- regionale Aufstände, die sich Ideologien der ethnischen und/oder religiösen Säuberung bedienen;
- Hungersnöte und andere Formen absoluter Armut, entstanden durch den Zusammenbruch traditioneller wie nichttraditioneller Ökonomien;
- so genannte Naturkatastrophen, die in Wirklichkeit Formen der Massenvernichtung sind, da sie von sozialen, ökonomischen und politischen Strukturen überdeterminiert werden. Also beispielsweise Seuchen (man denke an die unterschiedliche geographische Ausbreitung von Aids und die Behandlungsmöglichkeiten in Europa und Nordamerika einerseits sowie Afrika und Teilen von Asien andererseits), Dürren, Flutkatastrophen oder Erdbeben, die sich ereignen, ohne dass Hilfsorganisationen anwesend sind.
Letztlich lässt sich konstatieren, dass die Globalisierung unterschiedlicher Formen extremer Gewalt eine Teilung der globalisierten Welt in Zonen des Lebens und Zonen des Todes hervorgebracht hat. Zwischen diesen Zonen (deren Grenzen in der Tat diffus sind und einzelne Staaten oder Städte auf vielfältige Weise durchziehen) existieren fragile ultimative Grenzen, die neue Fragen hinsichtlich der Einheit und Fragmentierung der Welt aufwerfen - etwas wie globale und lokale Enmitylines, analog zu den Amitylines, den Freundschaftslinien zwischen den europäischen Kolonialmächten zu Beginn ihrer Eroberung der Weltherrschaft. Diese Supergrenzen werden gleichzeitig zur Bühne permanenter Shows und zum vorrangigen Interventionsgebiet, aber auch zum Ort der Nicht-Intervention. Es ist die Frage, ob zurzeit der beunruhigendere Aspekt internationaler Politik die »humanitäre Intervention« oder die generelle »Nicht-Intervention« ist, oder eine Abfolge von beidem.
Ist extreme Gewalt aus der Sicht des neoliberalen Kapitalismus rational oder funktional?
Das ist eine schwierige Frage, die sich dennoch nicht vermeiden lässt. Auch hier sollte man vor der Paralogie warnen, Konsequenzen mit Zielen oder Absichten zu verwechseln. (Kann man wirklich Absichten sozialer Systeme ausmachen? Lässt sich andererseits vermeiden, über die immanenten Ziele einer Struktur - des Kapitalismus - oder über deren Logik zu reflektieren?) Doch das Auftreten der Kette extremer Gewalt zeitigt, schematisch gesprochen, zwei globale Folgen - vergleichbar etwa der Situation, die Marx als ursprüngliche Akkumulation bezeichnete, den Prozess also, der die Voraussetzungen für die kapitalistische Akkumulation schuf; Marx stellte diesen Prozess durch die Beschreibung der Gewalt und der Unterdrückung der Armen dar.
Die eine Folge besteht darin, eine Situation materieller und moralischer Unsicherheit für Millionen potenzieller Arbeitskräfte zu verallgemeinern, das heißt eine massive Proletarisierung bzw. Reproletarisierung voranzutreiben. (Vorausgesetzt, dass die Unsicherheit der Existenz strukturell proletarisches Leben charakterisiert, dann handelt es sich um eine neue Phase der Proletarisierung, die ein Zurück zu Verhältnissen bedeutet, denen viele bereits entkommen zu sein glaubten.) Dieser Prozess findet zurzeit statt, in Verbindung mit einer zunehmenden Liberalisierung des Kapitalverkehrs und dem Zwang zur Mobilität. Er überschreitet Grenzen und nimmt dabei, in historischer Perspektive betrachtet, mehrere politische Varianten an:
- im Norden umfasst er den teilweisen oder vollständigen Abbau sozialstaatlicher Sicherungen und Institutionen, die den Wohlfahrtsstaat oder vielmehr das, was ich »national-sozialen Staat« nenne, gekennzeichnet haben. Und damit auch den gewaltsamen Umbauprozess von Welfare zu Workfare, vom Sozialstaat zum Strafstaat (die USA sind dabei richtungsweisend, wie Loïc Wacquant in Les prisons de la misère überzeugend gezeigt hat);
- im Süden umfasst er die Zerstörung und Umkehrung von Entwicklungsprogrammen und -politik, die zwar nicht ausreichten, um einen Take-Off herbeizuführen, wohl aber, zum Teil, Verelendung verhinderten;
- in der Semiperipherie, um den Begriff Immanuel Wallersteins zu verwenden, war er verbunden mit dem Zusammenbruch der als Realsozialismus bezeichneten diktatorischen Strukturen, die auf Entbehrung und Korruption basierten, die aber die Polarisierung zwischen Reichtum und Armut auch in gewissen Grenzen hielten.
Die formale Gemeinsamkeit dieser Prozesse, die alle die Reproletarisierung der Arbeitskraft zur Folge haben, liegt darin, dass sie die Formen und Möglichkeiten der Repräsentation der Subalternen innerhalb der Staatsapparate selbst, oder, wenn man so will, die Möglichkeiten einer mehr oder weniger effektiven Gegenmacht unterdrücken oder zumindest einschränken. Ich möchte hiermit lediglich den politischen Aspekt von Prozessen betonen, die auf den ersten Blick als überwiegend ökonomische Prozesse erscheinen.
Ich denke, die politische Dimension tritt noch stärker hervor, wenn wir uns der anderen Seite zuwenden, dem zweiten Resultat extremer Gewalt, auch wenn der Mechanismus hier sehr unklar ist. Unklar, aber zweifellos real. Ich denke hier an eine noch destruktivere Tendenz, destruktiv nicht in Bezug auf soziale Sicherungssysteme oder traditionelle Lebensformen, sondern in Bezug auf die sozialen Beziehungen als solche und letztlich in Bezug auf das »nackte Leben« (Giorgio Agamben). Ich erinnere an Michel Foucault, der bekanntlich unterschied zwischen leben lassen (laisser vivre) und sterben lassen (laisser mourir). Angesichts der kumulativen Effekte unterschiedlicher Formen extremer Gewalt oder Grausamkeit, die in dem, was ich »Zonen des Todes« für die Menschheit genannt habe, sichtbar werden, besteht Grund zu der Annahme, dass die gegenwärtige Form der Produktion und Reproduktion eine Form der Produktion zur Eliminierung ist: eine Reproduktion von Bevölkerungsgruppen, die produktiv vermutlich nicht nützlich sind oder nicht ausgebeutet werden können, sondern immer schon überflüssig sind und deshalb nur eliminiert werden können, sei es auf politischem oder anderem Wege. Lateinamerikanische Soziologen haben diese Bevölkerungsgruppen provokant als »Población chatarra« bezeichnet, als »menschlichen Abfall«, Menschen, die existieren, um weggeworfen zu werden, raus aus der Global City. Wenn es tatsächlich so ist, stellt sich erneut die Frage nach der Rationalität dieser Form. Oder feiert der Irrationalismus gerade seinen absoluten Triumph?
Diese Form ist ökonomisch irrational, da sie letztlich die Akkumulationsrate begrenzt, aber sie ist politisch rational - oder anders ausgedrückt, sie kann in politischen Begriffen interpretiert werden. Tatsache ist, dass sich Geschichte nicht einfach zyklisch bewegt und den Bewegungszyklen der Akkumulation folgt. Es gab im 19. und 20. Jahrhundert ökonomische und politische Klassenkämpfe, die dazu führten, die Möglichkeiten der Ausbeutung einzuschränken und ein gewisses Gleichgewicht zwischen den gesellschaftlichen Kräften herzustellen. Diese Ereignisse bleiben dem System sozusagen im Gedächtnis. Das System (und vermutlich auch einige seiner Theoretiker und Politiker) weiß, dass es keine Ausbeutung ohne Klassenkämpfe gibt, keine Klassenkämpfe ohne Organisation und Repräsentation der Ausgebeuteten, keine Repräsentation und Organisation ohne die Intention, politische und soziale Rechte zu erkämpfen. Genau das kann sich der gegenwärtige Kapitalismus nicht leisten: Technologische Revolutionen schaffen zwar günstige, aber unzureichende Voraussetzungen für die Entproletarisierung der tatsächlichen oder potentiellen Arbeitskraft. Ein »globaler Sozialstaat«, der mit den »national-sozialen Staaten« in einzelnen Teilen der Welt im 20. Jahrhundert vergleichbar wäre, ist ausgeschlossen. Es gibt keine politische Möglichkeit, ihn zu realisieren. Entsprechend gibt es politische Repression, verbunden mit extremer Gewalt, gegen jeden Schritt in diese Richtung. Aber politische Repression reicht dieses Mal unter Umständen nicht aus. Eliminierung oder Exterminierung muss stattfinden, wenn möglich passiv, wenn nötig aktiv; gegenseitige Eliminierung wäre die beste Lösung, sie muss jedoch von außen unterstützt werden.
Genau das bewegt mich zu der Annahme (und führt mich zu meiner dritten Frage), dass die »Ökonomie globaler Gewalt«, wenn sie nicht funktional ist (weil ihre immanenten Ziele tatsächlich widersprüchlich sind), in einem gewissen Sinne zielgerichtet bleibt. Dieselben Bevölkerungsgruppen, auf die hier abgehoben wird, assimilieren sich zunehmend, sie unterscheiden sich nicht mehr. Sie sind in qualitativer Sicht deterritorialisiert, wie Deleuze sagen würde, eher in einem intensiven als in einem extensiven Sinne. Sie leben am Rande der Stadt, unter der permanenten Drohung, eliminiert zu werden; umgekehrt leben sie aber auch - und so werden sie auch wahrgenommen - als »Nomaden«, selbst wenn sie aus ihren Homelands nicht weg können, das heißt ihre bloße Existenz, ihre Quantität, ihre Bewegungen, ihre virtuellen Forderungen nach Rechten und nach Staatsbürgerschaft werden als Bedrohung der »Zivilisation« wahrgenommen.
Gibt es ein globales System extremer Gewalt?
Gewalt kann höchst unpolitisch sein, trotzdem aber ein System bilden oder als systematisch aufgefasst werden, wenn die unterschiedlichen Formen von Gewalt sich gegenseitig verstärken, wenn sie dazu beitragen, die Voraussetzungen für ihr Fortbestehen und ihre Erweiterung zu schaffen, wenn sie letztlich eine Abfolge menschlicher Katastrophen bilden, bei denen all jene Handlungen, die darauf abzielen, die Ausbreitung von Gewaltanwendung zu verhindern oder deren Auswirkung zu begrenzen, systematisch behindert werden. Genau diese Teleologie möchte ich ganz objektiv als präventive Konterrevolution bezeichnen, oder vielleicht besser als präventive Aufstandsbekämpfung. Nur dem Anschein nach eine Anspielung auf Hobbes, da die Waffe, die im »Krieg aller gegen alle« zum Einsatz kommt, ein neuer Krieg ist (Le Monde bezeichnete das Vorgehen in Kolumbien als »Krieg gegen die Bevölkerung«, den der Staat zusammen mit der Mafia führt). Politik als Antipolitik, aber sie erscheint als System aufgrund der vielen Verknüpfungen zwischen den heterogenen Erscheinungsformen der Gewalt (Waffenhandel, der unentbehrlich für den Staatshaushalt ist, ist ohne Korruption nicht denkbar; Korruption nicht ohne Kriminalität; Drogenhandel, Organhandel und moderner Sklavenhandel nicht ohne Diktatur; Diktatur nicht ohne Bürgerkrieg und Terror ...). Vielleicht auch deshalb, weil es eine Politik extremer Gewalt gibt, die alle Unterschiede zwischen den Formen verwischt, um eine Figur des Bösen zu konstruieren (humanitäre Interventionen sind nicht selten daran beteiligt); aber auch deshalb, weil es eine Ökonomie extremer Gewalt gibt, durch die sowohl die Berichterstattung als auch die Interventionen zu einem profitablen Geschäft werden.
Strategien der Zivilität
Von einer Aufteilung in Zonen des Lebens und Zonen des Todes zu sprechen, zwischen denen eine fragile Demarkationslinie besteht, heißt, von der totalitären Seite der Globalisierung zu sprechen. Globalisierung lässt sich jedoch nicht darauf reduzieren. In dem Moment, in dem die Menschheit ökonomisch und in gewisser Weise auch kulturell vereint wird, wird sie biopolitisch gespalten. Eine Politik der Zivilität (oder eine Politik der Menschenrechte) kann entweder das imaginäre Substitut der zerstörten Einheit sein oder für diejenigen Initiativen stehen, die überall, und insbesondere auch an den Grenzen der Nationalstaaten, Gleichheit einfordern, den Horizont politischer Handlung.
Es gibt keine wirkliche Schlussfolgerung, lediglich den Versuch, Reflexionen und Debatten auf einige sensible Aspekte zu lenken: auf das Problem der Counter- Gewalt, das Problem internationaler Gesetzgebung, das Problem des Zugangs zur Staatsbürgerschaft und auf das, was ich als Insurrektion bezeichnen möchte.
Unterschiedliche Strategien der Zivilität sind denkbar. Ihre Grundlagen und die Möglichkeiten ihrer Implementierung zu diskutieren, wäre jedoch Gegenstand eines weiteren Aufsatzes. Ich will mich auf folgendes beschränken: Da die realen und die virtuellen Aspekte im Nexus extremer Gewalt so eng miteinander verwoben sind, fällt es sehr schwer, einen Ansatz zu finden, der weder die eine noch die andere Seite privilegiert. In gewisser Weise entspricht dies der klassischen Auffassung von politischer Praxis. Sie zielt im Wesentlichen darauf ab, entweder Gemeinschaften und ein Gemeinschaftsgefühl zu bilden (und ich stimme Benedict Anderson in jedem Fall zu, dass alle historischen Gemeinschaften vor allem fiktive Gemeinschaften sind) oder die Welt zu verändern, das heißt, materialistisch ausgedrückt, soziale Strukturen zu verändern, insbesondere Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnisse. Ich denke, dass die Art und Weise, wie extreme Gewalt in der heutigen Politik diskutiert wird, es noch dringender macht, nach einer Aufhebung dieses Dualismus zu suchen, nicht, indem man dessen duale Aspekte ignoriert, aber indem man ganz praktisch und konkret versucht, dessen Anforderungen und Beschränkungen kritisch zu kombinieren.
Deshalb wäre ich beispielsweise nicht einverstanden, wenn sich die Grundlage einer Politik der Zivilität darin erschöpfte, auf internationalem Recht zu insistieren, auch wenn es sich hierbei um ein weltweit bedeutendes Element der Demokratie handelt. Jürgen Habermas etwa hat sich kontinuierlich in diese Richtung bewegt und auf die grundlegende Bedeutung der kommunikativen Ethik insistiert. Habermas vernachlässigt jedoch die Tatsache, dass sich die Tore der Kommunikation manchmal nur mit großer Kraftanstrengung öffnen lassen, und manchmal geht es auch nur mit Gewalt, oder sie bleiben für immer verschlossen. Internationales Recht ist hier notwendig, aber nicht ausreichend. Aus einem anderen Blickwinkel spricht sicherlich vieles für die Auffassung, dass der zunehmend konterrevolutionäre oder aufstandsbekämpfende Charakter extremer Gewalt nach einer Counter-Counter-Insurrektion verlangt, einer Erneuerung der Idee der Revolution beispielsweise - dieses Mal vielleicht eine wirkliche Weltrevolution, die sich genau gegen jene globalen Strukturen richtet, die Gewalt mit Kapitalismus, Imperialismus und mit dem, was Negri und Hardt jetzt als Empire bezeichnen, verbinden. Aber auch hier gibt es eine Schwierigkeit, nämlich in genau die Symmetrie politischer Methoden und Zielsetzungen zurückzufallen, die seit dem Versuch der ersten sozialistischen und antiimperialistischen Revolutionen, die Macht im Namen einer Diktatur des Proletariats zu ergreifen, mithalf, dass extreme Gewalt zum festen Bestandteil emanzipatorischer Politik wurde und so dazu beitrug, dass das 20. Jahrhundert zu dem wurde, was Eric Hobsbawm das »Zeitalter der Extreme« nannte. Es ist nicht nur der Staat oder die Ökonomie, die zivilisiert werden müssen, sondern auch die Revolution selbst. Ich bin überzeugt, dass an vielen Orten aktiv nach einer Lösung für dieses historische Problem gesucht wird, ohne dass bisher eine klare Lösung gefunden worden ist oder aufgezeigt werden kann.
Zum Schluss möchte ich vorsichtig und vielleicht sogar aporetisch eine Überlegung des holländischen Politologen Herman van Gunsteren aufnehmen. Ich denke, van Gunsteren geht recht in der Annahme, dass heute alle politischen Gemeinschaften - einschließlich virtueller Communities, von Nachbarschaften über Städte und Nationalstaaten bis zur gesamten Erde, von Territorien bis zu Netzwerken - Communautés de destin sind. Es sind Gemeinschaften, die bereits Differenzen und Konflikte in sich tragen, in denen Individuen und Gruppen durch Geschichte und Ökonomie heterogen zusammengeworfen wurden, auf eine Weise, die es ihnen unmöglich macht, in ihren Interessen und kulturellen Idealen spontan aufeinander zu zu gehen, die es ihnen aber auch nicht ermöglicht, sich vollständig voneinander abzugrenzen, ohne zu riskieren, einander zu zerstören (oder gemeinsam vernichtet zu werden). Im Anklang an Hannah Arendts Kritik der Menschenrechte (aber auch an Kants Prinzip vom »Sich neben einander dulden müssen« aus seinem Essay Zum ewigen Frieden von 1795) stellt van Gunsteren den (zugegebenermaßen metapolitischen) Grundsatz auf: Für jedes Individuum in jeder Gruppe muss es mindestens einen Ort auf der Welt geben, wo er/sie als Bürger anerkannt wird und folglich auch Menschenrechte hat. Wenn man aber nur einen Schritt über das bloße Prinzip hinausgeht, stellt sich die Frage: Wo ist dieser Ort? Wenn Gemeinschaften Communautés de destin sind, gibt es nur eine einzige radikale Antwort: überall dort, wo es Individuen und Gruppen gibt, wo sie zufällig leben, arbeiten, Kinder zur Welt bringen, anderen helfen, Partner für jede Form des Austauschs finden ... Folgt man meinen Thesen zur Topographie der heutigen globalisierten und grausamen Welt, können wir noch genauer werden. Die Anerkennung und Institutionalisierung von Bürgerrechten, die praktisch der Entwicklung von Menschenrechten vorausgehen, muss jenseits von jeder exklusiven Zugehörigkeit zu einer Gruppe organisiert werden. Sie sollte sozusagen »an den Grenzen« stattfinden, wo so viele unserer Mitmenschen tatsächlich leben. Van Gunsteren betont zu Recht, aus einer Perspektive, die ich den Standpunkt der Zivilität nennen würde, dass es zentral ist, eine Citoyenneté imparfaite zu fordern, also unvollendete Bürgerrechte, die nicht halb sind oder sonst irgendwie beschränkt, sondern sich permanent neu konstituieren. Das Wichtige ist nicht die formale Definition von Rechten, die verfassungsmäßige Zugehörigkeit zu einem Rechtssystem oder der Anspruch auf Rechte, sondern vielmehr der permanente Zugang zu Bürgerrechten und damit zu Menschlichkeit. Van Gunsteren nennt das eine »Staatsbürgerschaft im Werden«. Das ist ein aktiver und kollektiver ziviler Prozess und erst an zweiter Stelle ein einfacher Rechtsstatus.
Editorische Anmerkung
Der Text ist eine Spiegelung von
textz.gnutenberg.net/textz/balibar_etienne_topographie_der_grausamkeit.txt
Er erschien in der Printversion bei Subtropen dem monatliches Supplement zur Jungle World, der Ausgabe Dezember 2001.