Die Furcht vor Gottes Strafe
Von der Schwierigkeit, ein neues Leben außerhalb der Ultraorthodoxie zu finden

von Annabel Wahba

02/04

trend
onlinezeitung

Briefe oder Artikel
info@trend.partisan.net
ODER an die
Postanschrift
trend c/o Anti-Quariat 610610 Postfach 10937 Berlin

Das Leben in der Welt des ultraorthodoxen Glaubens ist für Außenstehende schwierig zu verstehen. Ohne es bewerten zu wollen, erzählt unsere Mitarbeiterin in Israel, Annabell Wahba, die persönliche Geschichte einer jungen Frau, der die Grenzen der Orthodoxie zu eng geworden waren.

In der letzten Zeit, sagt Ruthi Berger, fühle sie sich immer so glücklich. Sie weiß nicht genau, woran das liegen könnte. Und wenn man ihr momentanes Leben betrachtet, dann hat sie wirklich keinen Grund dazu. Der Bankautomat spuckt kein Geld mehr aus, ihr Freund hat sie verlassen, und jetzt hat auch noch ihre Tante den Kontakt zu ihr abgebrochen. Mit ihrem Vater hat Ruthi schon seit drei Jahren kein Wort mehr gewechselt. „Wenn ich eine Liste aufstellen würde, was ich im Leben habe, und was mir fehlt“, sagt sie, „dann müßte ich eigentlich den Kopf in den Sand stecken“.

Es ist nicht ganz leicht zu verstehen, wie sich im Leben einer 26 Jahre alten Frau so viele Probleme anhäufen können. Ruthi ist nicht etwa drogensüchtig und hat auch sonst nichts Schlimmes angestellt. Aber Ruthi hat die Welten gewechselt und leidet sozusagen noch unter dem jet-lag. Ihre Reise ins moderne Israel begann vor etwa zehn Jahren. Damals hörte Ruthi auf zu beten. Als sie mit 22 zum ersten Mal an einem Shabbat mit dem Auto fuhr, war sie von ihrem Weg schon nicht mehr abzubringen. Sie saß steif neben ihrer neuen Freundin Chedva, und krallte ihre schweißnassen Hände in den Sitz. Sie wußte nicht, was jetzt passieren würde, aber sie glaubte fest daran, daß die Sache Konsequenzen haben würde. Schließlich, so hatte Ruthi gelernt, ist es eine schwere Sünde, am Shabbat Auto zu fahren. Chedva blickte Ruthi noch einmal lange in die Augen, bevor sie den Zündschlüssel drehte. Dann fuhr sie langsam an. Nichts passierte.

Es hat viele solcher Mutproben gebraucht, bis Ruthi lernte, sich nicht mehr vor Gottes Strafe zu fürchten. In ihrer alten Welt, setzten die 613 Gebote der Torah die Grenzen des Alltags. Und wer aus diesen Grenzen ausbrechen wollte, so hatte man Ruthi gesagt, müsse mit unangenehmen Folgen rechnen. Sieben Jahre hat Ruthi gebraucht, bis sie sich traute, ihr altes Leben aufzugeben, und ein neues als Chilonit zu wagen .

Wie alle Charedim hatte Ruthi zuvor dreimal täglich ein Gebet gesprochen, dazwischen – vor dem Aufstehen, beim Essen und beim Händewaschen – dutzende von Brachots. Bis zu ihrem 20. Lebensjahr hat sie nie mit einem männlichen Wesen außer ihren Brüdern und ihrem Vater gesprochen. Niemals hat sie die langen Haare ihrer Mutter gesehen, die stets unter einer Perrücke oder einem Tuch verborgen waren. Zärtlichkeiten zwischen den Eltern gab es nicht, keine Berührungen, keine Küsse.

Ruthi ging noch zur Schule, als sie am Sinn ihres ultrareligiösen Leben zu zweifeln begann. Sie bemerkte, daß sie die Gebete als Pflichtübung betrachtete und sie aufsagte, ohne an deren Sinn zu glauben. Was man da betet, geht ja ohnehin nicht in Erfüllung, dachte sie. Und an Yom Kippur bittet man um Vergebung für Sünden, die man danach dann doch wieder begeht.

Außerdem sah sie sich die nicht-religiösen Leute auf der Straße an, die täglich die Regeln der Torah brachen, und trotzdem nicht vom Blitz getroffen wurden. Sie sprach mit ihrem Vater darüber. Der antwortete ihr, die Chilonim wüßten nicht was sie tun. Sie als Charedit kenne aber die Gesetze Gottes, und für sie würde die Bestrafung schlimm ausfallen, wenn sie sich weigere, ihnen Folge zu leisten. Dennoch begann Ruthi Schritt für Schritt, immer mehr der Brachots wegzulassen, sie bedankte sich nach dem Essen nicht mehr bei Gott. Anfangs kam sie sich vor wie eine Diebin, die unrechtmäßig Essen stiehlt. Sie fürchtete sich. Aber dennoch war sie davon überzeugt, daß es keinen Sinn macht, zu beten, wenn sich innerlich alles dagegen sträubt. Ruthi hörte auf zu beten.

Das war erst der Anfang. Heute sagt Ruthi, sie hätte niemals geglaubt, daß es so schwer sein würde, die Religion zu verlassen und eine Chilonit zu werden. „Es ist nicht nur eine andere Welt, es ist auch eine andere Mentalität. Alles was du tust, jeder Tag ist schwer, weil er so viel Neues bringt“. Der Entschluß, die alte Welt zu verlassen ist das eine, aber bis man in der neuen Welt ankommt – das dauert viele Jahre.

Eine Hilfe bei ihrem Neuanfang fand Ruthi in der „Association for Jews Leaving the Ultraorthodox Community“. Die nicht-staatliche humanitäre Organisation hat zwei Hotlines eingerichtet für junge Orthodoxe, die säkular werden wollen. Nach einigen Gesprächen am Telefon wird ein Treffen vereinbart mit einem der ehrenamtlichen Mitarbeiter. Ein Psychologe ist auch dabei. „Bei dem ersten persönlichen Treffen wollen wir herausfinden, ob es den jungen Leuten wirklich ernst ist“, sagt Ami Dolev, Vorsitzender der „Association“. Die Organisation überredet niemanden zu dem Schritt. Im Gegenteil. „Wir erklären jedem, was ihn erwartet“, sagt Dolev. In der ultraorthodoxen Gemeinschaft verläuft das Leben nach einem vorgezeichneten Plan. Die Mädchen gehen nach der Religionsschule auf ein spezielles Seminar, die Jungen studieren in der Yeshiwa. Die Eltern oder eine damit beauftragte Frau sucht den geeigneten Ehepartner. Verläßt man diese eingeschworene Gemeinde, dann ist plötzlich alles erlaubt. Und es ist nicht immer einfach, mit dieser neuen Freiheit zurechtzukommen. „Den jungen Orthodoxen fehlen bestimmte Voraussetzungen, um in der säkularen Gesellschaft zu funktionieren“, sagt Dolev. Die Jungen lernen in den Religionsschulen der Charedim vorwiegend Torah und Gemora. Einfaches Rechnen steht auch auf dem Programm. Aber Mathematik, Biologie, Geographie oder Fremdsprachen werden nicht gelehrt. Die Mädchen erhalten eine etwas weltlicher orientierte Ausbildung, aber auch sie können mit ihrem Abschlußzeugnis an keiner staatlichen Universität studieren. Wenn ein Charedi seine Gemeinschaft verläßt, dann steht er also meist ohne Arbeit und ohne Chancen auf eine Ausbildung da. Schlimmer zu verarbeiten für die Aussteiger ist aber, daß die Familie in der Regel den Kontakt zu ihnen abbricht. „Wenn doch noch ein Kontakt da ist, dann meist heimlich über die Mütter“, sagt Dolev. Wird in der Gemeinde bekannt, daß eines der Kinder die Religion verlassen hat, dann mindert das den Status der Familie. Es verschlechtert die Chancen, einen Ehepartner für die Geschwister zu finden. Und wenn der Vater eine ehrbare Stellung in der Synagoge oder Yeshiwa hat, vielleicht sogar Rabbiner ist, dann wirft das kein gutes Licht auf seine Fähigkeiten als Religionsgelehrter. Schließlich konnte er nicht mal sein eigenes Kind auf den richtigen Weg führen.

Junge Aussteiger stehen also in der Regel ohne Geld, ohne Familie und ohne Freunde da, denn Freundschaften werden auch nicht außerhalb der Gemeinde geschlossen. Das Schwierigste ist aber, daß sie nie gelernt haben, sich alleine, ohne festgelegte Verhaltensregeln, zurechtzufinden. „Sie wissen, daß es richtig ist, auf den Rabbiner zu hören, denn der hat immer recht, aber sie haben nicht gelernt, auf sich selbst zu hören“, sagt Dolev. Die Intuition fehlt ihnen und oft auch die moralische Urteilsfähgikeit zwischen gut und schlecht. „Ich habe bei mir einen Jungen aufgenommen, und am Anfang hat er mich immer gefragt: Warum tust du das alles für mich, wenn du nicht daran glaubst, daß Gott dich dafür belohnt“, erzählt Dolev. Er mußte dem Jungen erst einmal erklären, daß auch nicht-religiöse Menschen moralisch gut handeln sollen, daß die Gebote, nicht zu stehlen, und nicht zu töten universell sind. „Das Wichtigste ist, daß wir den jungen Aussteigern die mentale und emotionale Unterstützung geben, um sich ein Selbstbewußtsein aufzubauen“, sagt Dolev, „sie sollen nicht das Gefühl haben, völlig alleine dazustehen, sondern wissen, daß sie sich selbst ein neues Leben aufbauen können“. Dabei hilft ihnen ihr persönlicher Ansprechpartner bei der „Association“. Sie können auch die Hilfe eines Psychotherapeuten annehmen.

Ruthi hat ihr religiöses Elternhaus zunächst ohne die Organisation verlassen. Als sie dann aber schon einige Monate alleine in Tel Aviv gelebt hatte, erzählte ihr jemand von der „Association“ und Ruthi war sehr dankbar für deren Hilfe. Sie vermittelten ihr eine nette ältere Frau, bei der sie umsonst wohnen kann. Außerdem geht sie seit einem Jahr zur einer Psychologin der Organisation. „Ich wüßte garnicht, wie ich es finanziell schaffen sollte, wenn ich auch noch die hohe Miete in Tel Aviv bezahlen müßte“, sagt Ruthi. Ruthi jobbt zwar in einer Computerfirma, aber ihr Unterricht – sie macht das staatliche Abitur nach – ist teuer. Das Zeugnis braucht sie, um an der Musikakademie Klavier, Gitarre und Flöte studieren zu können. Das ist ihr Traum, seit sie 16 ist.

Außerdem hat Ruthi enorme Schulden bei der Bank zurückzuzahlen. Als sie ihren Eltern am Telefon sagte, daß sie, seit sie nach Tel Aviv gezogen ist, den Shabbath nicht mehr einhalte, wußte ihr Vater nur noch ein Mittel. Er ging auf die Bank und hob von Ruthis Konto, daß auch auf seinen Namen lief, 60.000 Schekel ab. „Mein Vater dachte, daß er mich so zurückholen kann“, sagt Ruthi. Er habe das wohl nicht aus Bosheit getan, sondern, weil er davon überzeugt ist, daß seine Tochter eine falsche Entscheidung getroffen hat. Und weil er sie zurückholen will. Seither hat Ruthi kein Wort mehr mit ihrem Vater gesprochen.
Das ist nun drei Jahre her. Mit ihrer Mutter führt sie noch manchmal kühle Telefonate. Bis vor kurzem telefonierte sie auch noch täglich mit ihrer Tante, doch die Gespräche werden immer seltener. Letzte Woche sagte eines der 15 Kinder zu Ruthi am Telefon: „Mit Chilonim spreche ich nicht“. Der Junge ist Ruthis Lieblingscousin und gerade einmal 4 Jahre alt.
Dennoch bereut Ruthi nichts. Sie hat sich Zeit gelassen für ihre Entscheidung. Nachdem sie aufgehört hatte zu beten, brach sie immer mehr der Regeln ihres orthodoxen Elternhauses. Als ihre Mutter ihr eröffnete, sie müsse endlich heiraten, war Ruthi 20 Jahre alt. Für sie war damals klar, daß sie keinen orthodoxen Ehemann haben wollte. Dennoch traf sie ein paar Anwärter, und mit einem vereinbarte ihre Familie die Heirat. Ruthi hatte ihn gerade fünfmal getroffen, als das Datum festgelegt wurde. Ihre Eltern akzeptierten ihre Weigerung nicht, also tauchte Ruthi kurzerhand unter. Erst zwei Tage nach dem Hochzeitstermin rief sie ihre Eltern wieder an. In der Zwischenzeit hatte sie in Tel Aviv auf der Straße geschlafen. Zwei Wochen lang – am Strand oder in Treppenhäusern. Ruthi kannte niemanden, dem sie sich hätte anvertrauen können, denn ihre gesamte Familie lebt nach dem orthodoxen Glauben.
Sie vermißt die spezielle Stimmung am Vorabend des Shabbath.

In den Jahren danach zwangen ihre Eltern sie nie mehr wieder zu einer Heirat. In dieser Zeit führte Ruthi eine Art Doppelleben. Zu Hause hielt sie sich an die Regeln des orthodoxen Glaubens, doch bei ihrer säkularen Freundin Chedva guckte sie am Schabbat fern und fuhr sogar Auto. Mit 23 Jahren wagte sie den Schritt und zog von zu Hause aus. Alles war schwierig in ihrem neuen Leben als Säkulare. Ruthi wußte nicht, worauf man achten muß, wie man einen Mietvertrag unterschreibt. Sie fühlte sich nackt in der neuen Kleidung und bildete sich ein, die Männer starrten auf ihre unbedeckten Arme. Der Umgang mit Männern war überhaupt das Schwierigste. In ihrem Haus lebte ein junger Mann. Bevor Ruthi ihre Wohnung verließ, guckte sie jedesmal durch den Briefkastenschlitz, um dem Mann nur nicht zufällig zu begegnen. Wenn sie ihn einmal im Treppenhaus erspähte, wartete sie, bis sie sein Auto wegfahren hörte. Erst dann traute sie sich hinaus. Ihre Freundin Chedva half ihr, ihre Angst vor Männern zu überwinden. Sie nahm sie abends mit, wenn sie mit Freunden ausging. „Ich wußte nicht, daß man mit Männern einfach so befreundet sein kann, wie mit einer Frau“, sagt Ruthi. Nach mehreren Anläufen traute sich Ruthi dann sogar vor einem halben Jahr, mit einem Mann eine Beziehung einzugehen. Manchmal, sagt Ruthi, sehne sie sich sehr nach ihren Eltern zurück. „Ich vemisse diese spezielle Stimmung am Freitag abend, die Ruhe und den Frieden, den man am Shabbat spürt“, sagt sie. Auch die Gespräche mit ihrer Mutter abends in der Küche. „Aber all das kann ich nicht wieder zurückholen, denn wir haben uns nicht mehr viel zu sagen“, sagt Ruthi. Erst in den letzten Wochen habe sie begriffen, daß ihr all der Schmerz und die Trauer um die Familie nichts nützen. Auch wenn ihr die Familie fehlt, hat sie sich doch das Wichtigste bewahrt: Den Glauben an sich selbst. „Ich muß mich keinen Regeln mehr beugen, die nicht die meinen sind“, sagt sie, „Alles was ich von jetzt an erreiche, habe ich ganz alleine geschafft“. Und dieser Gedanke macht Ruthi glücklich.

Editorische Anmerkung

Der Text ist eine Spiegelung von
http://aufbauonline.com/1999/issue12/pages12/4.html