Stellungnahme zum offenen Brief "Stichwort Becklash"

von
Initiative gegen das Chipkartensystem

02/04
 

trend onlinezeitung

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Als MitbenutzerInnen des Servers partisan.net nehmen wir Stellung zu der auf der SDS-Homepage (Homepage der ehemaligen AktivistInnen des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes SDS) veröffentlichten offenen Brief »Stichwort Becklash«.

Dieser „offene Brief“ ist aus mehreren Perspektiven problematisch und in seinen Forderungen abzulehnen, die wir kurz verdeutlichen wollen.

Als »Initiative gegen das Chipkartensystem« kämpfen wir seit mehreren Jahren gegen die rassistischen Sondergesetze, die es in der BRD für Flüchtlinge und MigrantInnen gibt. Darunter verstehen wir Gesetze, deren Bestimmungen nur für eine bestimmte, staatlich definierte Gruppe gelten und deren Ziel es ist, eine Spaltung der Menschen in der BRD zu Herrschaftszwecken zu produzieren und zu stärken. Die Forderung des offenen Briefes nach Sondergesetzen, zum einen die Verpflichtung, dem Grundgesetz gesondert zuzustimmen und zum anderen sexistisches Verhalten als Abschiebegrund einzuführen, lehnen wir grundsätzlich ab und halten diese Forderung für rassistisch. Wir lehnen jegliche Art von Sondergesetzen für bestimmte Bevölkerungsgruppen ab, wobei die Auseinandersetzung mit Gesetzen, die für so genannte „Nicht-Deutsche“ eingeführt werden (sollen), inhaltlicher Schwerpunkt unserer Initiative ist.

Die Verknüpfung von juristisch definierten Straftaten und der Verweigerung eines Aufenthaltrechtes steht in keinem inhaltlichen Zusammenhang sondern dient der Abschottungspolitik der BRD (und Europas), sie schürt durch die Zuschreibung negativer Eigenschaften an willkürlich konstituierte Gruppen nach Aussehen, Herkunft oder Religion rassistische Ressentiments in der Bevölkerung und manifestiert dadurch das deutsche „Blutrecht“, nach dem Menschen in der BRD nur solange als dazugehörig betrachtet werden, wie sie funktional für das System sind. Werden sie „auffällig“, „straffällig“ oder sind nicht mehr „notwendig“, sollen sie nicht mehr berechtigt sein, hier zu leben. Diese Argumentation wird in dem „Offenen Brief“ unhinterfragt übernommen und ist die Ausgangsposition für die Forderung, sich des Problemes Sexismus auf Basis des Rassismus zu entledigen.

Neben dieser rassistischen Konnotation des „Offenen Briefes“ verschiebt er zugleich das Problem sexistischer, physischer und psychischer Gewalt gegen Frauen in der BRD aus dem Focus einer emanzipatorischen Gesellschaftskritik, indem muslimische Menschen als HauptakteurInnen von Sexismus stilisiert werden. Es wird in dem Brief keineswegs benannt, dass die BRD eine patriarchal organisierte Gesellschaft ist, in der Gewalt gegen Mädchen/Frauen alltäglich ist und die Mehrheit der TäterInnen sogenannte „Deutsche“ sind. Ohne diese Einordnung, innerhalb der es natütlich möglich ist, spezifischer Formen von Sexismus zu definieren, verdeckt der „Offene Brief“ die sexistischen Strukturen und die systematische Gewalt gegen Mädchen/Frauen in der bundesdeutschen Gesellschaft.

Indem der Sexismus von muslimischen Menschen ohne genauere Analyse der Verhältnisse in den Focus gerät, werden „deutsche“ TäterInnen, UnterstützerInnen und ProfiteurInnen bequem aus der Verantwortung genommen. Diese Art und Weise der Argumentation ist von zahlreichen FeministInnen schon Mitte der 80er Jahre angegriffen und in ihrer Wirkungsweise als Herrschaftstabilisierend benannt worden. Die Tatsache, dass zahlreiche „deutsche“ Männer diesen „Offenen Brief“ unterstützten, die keineswegs für ihr Engagement gegen den Sexismus der deutschen Mehrheitsgesellschaft bekannt sind, bestätigt uns in der Kritik, hier werde die eigene Verantwortung abgegeben und muslimische Menschen und hier vor allem die Männer als das „eigentliche Problem“ präsentiert, wobei der herrschende Rassismus hierfür die Möglichkeit eröffnet. Wir sehen keinen Grund für einen diskursiven „Backlash“, der uns als „deutsche“ Männer und Frauen der eigenen Verantwortung enthebt und die wahren Ursachen und Probleme mindestens verdeckt, im Zweifelsfall aber sogar verstärkt!

Wir solidarisieren uns hingegen mit dem Kampf von Mädchen/Frauen für Gleichberechtigung bzw. eine emanzipatorische Veränderung jeder Gesellschaft, unabhängig von der Herkunft der Akteurinnen. Auch denken wir, dass es sinnvoll und analytisch notwendig ist, die unterschiedlichen Formen von Frauenunterdrückung innerhalb verschiedener kultureller oder religiöser Praxen differenziert zu betrachten, schon allein, um eine sinnvolle Gesellschaftsanalyse als Ausgangspunkt emanzipatorischer Praxis zu ermöglichen. Jede Form von Gewalt gegen Mädchen/Frauen muss bekämpft werden, jedoch in ihrem jeweiligen Kontext und unter Federführung der Betroffenen, in all den Widersprüchlichkeiten und Unterschieden, die dabei unvermeidbar sind.

Eine Instrumentalisierung spezifisch islamischer Formen von Frauenunterdrückung im Rahmen rassistischer Diskurse unter der Glorifizierung der bundesdeutschen »Freiheitlichen Demokratischen Grundordnung« lehnen wir ab. Denn die kapitalistischen Produktionsverhältnisse sind die ökonomische Basis dieser Gesellschaft und innerhalb dieser ist eine emanzipative Gesellschaftsordnung ohne Unterdrückungsstrukturen nicht möglich. Um die Frage zu klären, wie die Position aller Mädchen/Frauen in der BRD verändert und verbessert werden kann, ist es deshalb notwendig, die unterschiedlichen Unterdrückungsstrukturen in der BRD gerade in ihrer Verschränkung deutlich zu machen und deren Funktion zur Stabilisierung der kapitalistischen Gesellschaftsordnung aufzuzeigen.

Eine emanzipative Politik muss sich gerade der möglichen gegenseitigen Instrumentalisierungen bewusst sein, um dem Ausspielen der verschiedenen ausgebeuteten Gruppen entschieden entgegen treten zu können. Patriarchale Gewalt kann nicht ohne gesellschaftlichen Zusammenhang und Kontext erklärt und/oder verändert werden, eine Reduzierung der Erklärungsmuster spielt denen in die Hände, die von der Gewalt profitieren.
Wir wissen nicht, warum die VerfasserInnen und UnterstützerInnen diesen „offenen Brief“ in der Form veröffentlich haben. Die Kritik daran ist vielfältig und die erste Reaktion, die von Frigga Haug in der TAZ vom 17.1.04 vorgenommene Relativierung des Inhaltes als Provokation und deren Übernahme von Seiten der SDS-Homepage, finden wir inhaltlich schwach. Hierzu sei gesagt, dass „Offene Briefe“ gerade wegen ihrer Öffentlichkeit niemals außerhalb der HERRschenden Diskurse zu sehen sind und so zwangsläufig eine Eingliederung in bestimmte Debatten und Argumentationslinien geschieht. Die „Kopftuchdebatte“ wird politisch schwierig und inhaltlich verkürzt geführt, aber darauf mit einer „Provokation“ zu reagieren, die in ein konservatives Horn bläst und die Argumentation der unterschiedlichen Kulturen und deren Unvereinbarkeit bei nicht geleisteter Assimilation an die »FDGO« unterstützt und eine Ausweisung der „Nichtassimilierbaren“ fordert, finden wir höchst problematisch. Das dieser „Offene Brief“ sich nahtlos in den konservativen, rassistischen und letztlich eben auch sexistischen Diskurs eingliedern läßt und nicht ohne ihn denkbar ist, sollte den AutorInnen und UnterstützerInnen eigentlich klar gewesen sein.

Die Tatsache, dass viele der „deutschen“ Unterzeichnerinnen aus der feministischen Bewegung kommen und sich in anderen Äußerungen, Schriften und Aktionen vor allem mit dem Sexismus der „deutscher“ Männer, Frauen und, zum Teil Gesellschaft an sich befasst haben, kann keineswegs eine Erklärung und/oder Entschuldigung dafür sein, den Sexismus und patriarchale Gewalt in diesem Brief bei Flüchtlingen und Migrantinnen zu verorten. Eben durch die Öffentlichkeit des Briefes wäre eine Einordnung in gesellschaftliche Verhältnisse, eine Differenzierung der Machtverhältnisse und eine kritische Reflexion der eigenen Forderungen zwingend notwendig gewesen.

Das Patriarchat gilt es überall anzugreifen, aber von „Deutschen“ erst einmal in der BRD, wenn sie keine reaktionär verwertbare und zugleich paternalistische StellvertreterInnenpolitik machen wollen, denn Gewalt gegen Frauen ist keine Randerscheinung islamischer EinwanderInnen sondern strukturiert hegemonial die bürgerliche Gesellschaft.

Abschließend sei bemerkt, dass wir eine etwas längere Stellungnahme zu diesem Brief deshalb für sinnvoll erachten, weil auch die Diskussionen innerhalb der KritikerInnen dieses Briefes nicht frei von problematischen Momenten sind. Kein Thema ist auch in der radikalen Linken weniger beachtet und wenn doch, Schauplatz von derart heftigen Auseinandersetzungen, wie die Frage des patriarchalen Sexismus. In der Regel von Frauen thematisiert, kommt es ungleich schneller zu Bündnissen zwischen sonst „verfeindeten“ Positionen, um feministischer Kritik die Berechtigung abzusprechen oder andere (Haupt-)Widersprüche als zentraler zu deklarieren. Die Ignoranz der realen Verhältnisse in ihrer sexistischen Wirkungsweise zeigt sich auch in der Kritik an dem „Offenen Brief“, wenn zwar der Bezug auf Grundgesetz und Nationalität, Rassismus und Ausgrenzung berechtigt angegriffen, das eigentliche Thema (Sexismus) jedoch weder diskutiert noch in der eigenen Arbeit und Analyse reflektiert wird. Die analytischen Leerstellen im Bezug auf die problematische Verknüpfung von Sexismus und Rassismus, die eigene innerlinke Unfähigkeit, Positionen zu erarbeiten und umzusetzen, in denen beide Unterdrückungsmechanismen wie vorläufig und kritikwürdig auch immer in ihrem Verhältnis aufgebrochen werden könnten, sind und werden nicht ausreichend gefüllt. Bei aller Kritik an diesem „Offenen Brief“ ist zumindest dieses Problem der radikalen Linken mal wieder offensichtlich geworden und auch hier gilt es, bei sich selbst anzufangen und die Widersprüche nicht bei den anderen zu belassen, sondern die eigene Widersprüchlichkeit zu reflektieren.

Für die Auseinandersetzung, für das bessere Leben;
Die Hölle sind nicht nur die Anderen!

 

Editorische Anmerkung

Der Artikel ist eine Spiegelung von
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Datum: 06.02.104 18:10