Die Entstehungsgeschichte Israels von 1882-1948

von Nathan Weinstock

02/04
 

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2. Bedeutung und Entstehungsgeschichte des Zionismus

Innerhalb einer vorgegebenen Gesellschaft spiegelt Inhalt und Ausdruck des Gefühls der Zugehörigkeit zur jüdischen Religionsgemeinschaft die materiellen Lebensbedingungen der Juden wider. Ihre Religion wird in den vorkapitalistischen Gesellschaften zum bestimmenden ideologischen Ausdruck ihrer spezifischen sozialen Funktion. Sobald sie aufhören, ihre bestimmte wirtschaftliche Rolle zu übernehmen, verlieren sie ihre charakteristischen kulturellen, religiösen und sprachlichen Besonderheiten und vermischen sich mit der sie umgebenden Bevölkerung.

Der Fall der palästinensischen Juden nach der Zerstörung des 2. Tempels ist sicherlich, im positiven wie im negativen Sinn, eines der besten Beispiele dieser Entwicklung. Im Gegensatz zu Darstellungen zionistischer Propagandisten hatte die Eroberung Jerusalems im Jahre 70 nicht die Auswanderung des jüdischen Volkes zur Folge. Wie wir schon oben feststellten, fand die Zerstreuung des Volkes Israel lange vor diesem Ereignis statt; doch die jüdische Bevölkerung stellt nach der römischen Eroberung noch immer den größten Teil der Einwohnerschaft von Judäa und Galiläa dar. [1] Noch weniger bringt die Erhebung von Bar Kochba (132 bis 135) n.Chr.) den Untergang des palästinensischen Judentums mit sich, zumal wir sicher wissen, daß Galiläa ebenso wie andere Gebiete Transjordaniens bis zum 2. Jahrhundert unserer Zeitrechnung jüdisches Siedlungsgebiet geblieben sind. Außerhalb Galiläas jedoch, das selbst kaum durch die Revolte berührt wurde, strebt die jüdische Bevölkerung danach, sich in den Städten zu sammeln - hier stellt sie nicht mehr als ein Viertel der Gesamtbevölkerung dar (Araber und Syrer besiedeln Judäa nach der Niederlage der Aufständischen).

Im Gegensatz zur Entwicklung außerhalb Galiläas wurde in Galiläa selbst der landwirtschaftliche Familienbetrieb zur ökonomischen Grundlage des jüdischen Lebens, ohne daß man dabei die Bedeutung des Handwerks und des Handels unterschätzen darf. Das jüdische Patriarchat erwirbt eine Reihe bedeutender Ländereien und chartert Schiffe, um die Waren, vor allem pflanzliche öle, zu exportieren. Zahlenmäßig nimmt die jüdische Gemeinschaft beträchtlich ab und verschwindet gänzlich nach dem 3. Jahrhundert n.Chr. Dieser fortschreitende Zerfall des palästinensischen Judentums steht in engem Zusammenhang mit der allgemeinen Krise des römischen Reiches, das in ein naturalwirtschaftliches System zurückfällt. Im Verlaufe dieses Übergangs des antiken Imperialismus zum Feudalsystem, der sich in Palästina wie im Rest des Imperiums vollzieht, setzt der Ausleseprozeß ein, durch den die Juden sich in eine Händlergemeinschaft verwandeln.

In ganz Palästina, in den Städten wie auf dem Land, ist die gleiche verzweifelte Lage anzutreffen: auf der Flucht vor erdrückenden Steuern, Konfiszierungen, dem Zusammenbruch des Handels, dem wirtschaftlichen Elend und vor dem Hunger verlassen die Stadtbewohner ihre Städte. Auf dem Lande breitet sich die Pachtherrschaft aus, und man kann die Entstehung großer Besitzungen feststellen: die Reichen reißen den Boden der armen Bauern an sich. Diese wirtschaftliche und soziale Krise schwächt das palästinensische Judentum erheblich. Die ausgehungerte Bevölkerung emigriert in großer Zahl nach Syrien, die Schriftgelehrten verlassen das Land in Richtung Babylonien. Bezeichnendes Merkmal dieser Tendenz: zahlreiche Rabbiner emigrieren. Der Zerfall der alten sozialen Strukturen spiegelt sich in religiösem Bereich in der Geringschätzung der Landwirtschaft, in der Aufwertung des Handels in der Mischna und ebenso in der Begeisterung für das Leben in Babylonien im Gegensatz zu Palästina wider (Rabbi Juda Bar Hesekiel). Die Kolonien der Küstengebiete, der Ebene von Jesreel und von West-Galiläa machen im Verlauf des zweiten Drittels desselben Jahrhunderts eine Veränderung durch, an deren Ende sie dieselbe äußere Struktur auf weisen, wie die jüdischen Gemeinschaften derDiaspora. Im Verlauf des zweiten Drittels dieses Jahrhunderts beginnt der Zerfall der jüdischen Konzentration selbst in Galiläa. Ohne daß während dieser Periode militärische Ereignisse die jüdische-palästinensische Religionsgemeinschaft beeinflußten, und trotz des autonomen Regimes im Innern - die Juden zogen Nutzen aus dem Einfluß der Aristokratie der Patriarchen -, gehen die Juden, sowohl die palästinensischen als auch die der Diaspora als ethnische Einheit in dem gewaltigen, für das Ende der antiken Welt charakteristischen, Volksgemisch unter.

Ihre charakteristischen Züge bewahren allein diejenigen, die sich, im Vergleich zu allen anderen, durch ihre spezifischen Funktionen als (wirtschaftliche) Zwischenhändler hervorheben. Die Verwandlung des palästinensischen Judentums in eine Volksklasse schreitet, ebenso wie in den Gemeinden im Exil, schnell voran. Die Unterdrückung des jüdischen Patriarchats im 6. Jahrhundert hat ein allmähliches Aussterben durch natürlichen Tod zur Folge. Die 150000-200000 Juden im Jahre 614, gegen Ende der byzantinischen Epoche, stellen nicht mehr als 10% bis 15% der Gesamtbevölkerung dar. Die Überlebenden dieses friedlichen Absterbens repräsentieren eine Gruppe, die alle charakteristischen Merkmale der jüdischen Gemeinschaften der Diaspora aufweisen. [2] Die jüdische Bevölkerung Palästinas wird folglich von der anhaltenden Völkervermischung, die sich im Vorderen Orient vollzieht, aufgesogen. »Man kann also nicht sagen, daß die Juden sich als Juden trotz ihrer Zerstreuung erhalten haben; sondern gerade auf Grund derselben. Wenn die Diaspora nicht schon vor dem Untergang Jerusalems existiert hätte, wenn die Juden in Palästina geblieben wären, gäbe es keinen Anlaß zu glauben, daß ihr Schicksal anders verlaufen wäre als das der übrigen antiken Nationen. ... Nur die Juden erhielten sich, weit sie in der Welt der Barbaren, die Rom folgte, den Handel, wie der die Antike gekennzeichnet hatte, weitertrugen.« [3] Daher haben sich die jüdischen Bauern Galiläas, die sich nicht durch besondere wirtschaftliche Funktionen hervorhoben, mit den Nachbarvölkern vermischt, so daß die palästinensischen Araber unserer Tage wahrscheinlich zu einem Teil ihre Nachfolger darstellen. Da die feudalistische Lebensweise untergeht, verlieren die Juden ebenso ihre spezifische ökonomische Funktion. In der Phase des aufsteigenden Kapitalismus gleichen sich die Juden schnell an die sie umgebende Bevölkerung an, bis der Zusammenbruch des Systems einen Antisemitismus hervorruft, der den Anpassungsprozeß abbricht. Der Fall der Berliner Juden ist besonders beispielhaft: im Zeitraum von zwei Generationen wechseln sie von der religiösen Orthodoxie hinüber zur totalen Anpassung (erste Hälfte des 19. Jahrhunderts). Wenn dagegen die jüdischen Gemeinden die herrschende Religion angenommen haben und darüber hinaus ihre spezifischen sozio-ökonomischen Funktionen beibehalten haben, dann haben sie sich als klar von der übrigen Bevölkerung zu unterscheidende Gruppen erhalten. (z.B. christliche Chuetas der Balearen. Die Chuetas von Palma z.B. bewohnten die »Straße der Goldschmiede« und übten den Beruf des Goldschmieds, Juweliers, des Reeders oder Händlers aus.) Jedesmal, wenn in der Vergangenheit die Grundlagen des sozialen Lebens der Juden bedroht wurden, hat sich die Unsicherheit ihrer Existenzbedingungen in einer Intensivierung mystischer Vorstellungen ausgedrückt. Die Widersprüche des realen Lebens wurden durch die Flucht in die religiöse Scheinwelt aufzuheben versucht. Die (geschichtliche) Tradition der jüdischen Religion und vor allem ihre archaischen Reste, wie z.B. der Begriff des »auserwählten Volkes« mußten die spezifische Form messianischer Ideologie begünstigen, die sich analog zu den chiliastisch-christlichen Bewegungen entwickelte. Der jüdische Messianismus, der in vielfacher Gestalt aufgetreten ist, erfuhr in jeder Periode der Verfolgung eine Wiederbelebung (z.B. am Ausgang des 15. Jhd. im maurischen Spanien). Diese Ausbrüche messianischer Gesinnung drücken treffend die Hoffnung der verfolgten jüdischen Massen nach religiöser Erlösung aus. In keinem dieser Fälle aber handelt es sich um die Hoffnung auf eine Rückkehr nach Palästina. Diese »Perioden geschichtlicher Veränderungen und sozialer Spannungen« riefen nicht etwa bei den jüdischen Massen die Hoffnung auf eine Rückkehr nach Palästina hervor, sondern »intensivierten lediglich die religiös motivierten Pilgerfahrten und lieferten den frommen und gelehrten Juden die moralische Rechtfertigung für ihren ständigen Palästinaaufenthalt«. [4] In der Mitte des 18. Jahrhunderts werden eine ganze Reihe von Seminaren für Rabbiner in Palästina gegründet. Ihre Zahl vergrößert sich, und im darauffolgenden Jahrhundert sind einige zehntausend orthodoxer Juden im Heiligen Land angesiedelt; sie leben in den vier Städten (Jerusalem, Hebron, Safed und Tiberia) und ernähren sich in der Hauptsache von der Chalukah (den Almosen), die ihnen von ihren Glaubensbrüdern aus Europa geschickt wird. Es hat jedoch im Verlauf der Jahrhunderte einige Pläne gegeben, die vorsahen, in Palästina ein jüdisches Zentrum neu aufzubauen. Der bekannteste Plan stammt von Joseph Nassi, Herzog von Naxos. Er versuchte, in Tiberia ein Zentrum der Textilmanufaktur zu gründen und forderte dazu jüdische Handwerker und Arbeiter auf .Dieser Plan schlug fehl und es scheint unsinnig, in diesem Projekt einen Versuch zur Gründung eines jüdischen Staates zu sehen. [6] Die anderen Versuche, die darauf ausgerichtet waren, die Juden in ihrer legendären Heimat anzusiedeln, wie z.B. die Proklamation Bonapartes, gerichtet an die Juden Afrikas und Asiens, sind vor allem aufschlußreich, weil sie auch nicht die geringste Reaktion hervorgerufen haben.

Später, im Victorianischen Zeitalter, kam eine echte vor-zionistische Bewegung in den gebildeten und protestantischen englischen Schichten zum Durchbruch. Es scheint, daß sich die brennenden Fragen des Orients allen gleichermaßen stellen. Deshalb ist das Thema der Wiedererrichtung von Zion mit Begeisterung von umsichtigen Staatsmän-nern aufgenommen worden: sie ahnten, daß diese großmütigen Schwärmereien wunderbar mit den kolonialen Interessen der Metropolen übereinstimmten. Darauf werden wir noch zurückkommen. Es kommt also darauf an, zu begreifen, daß der jüdische Nationalismus, und insbesondere seine zionistische Variante, völlig neue Konzeptionen sind, die sich aus dem sozio-politischen Kontext Osteuropas im 19. Jahrhundert ergeben. Die jüdische Mittelklasse, Opfer des aggressiven Nationalismus der aufsteigenden Bourgeoisie der Länder Osteuropas, übernahm ihrerseits ganz automatisch die nationalistische Ideologie ihrer Nachbarn. Dieses Bewußtwerden, das sich in Form eines vorher nicht vorhandenen Nationalismus vollzieht, erklärt sich aus der Lage der jüdischen Massen im Verlaufe der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts in diesem Gebiet. Dort befanden sich die Juden, nach einem Ausdruck von Leon, »zwischen dem Amboß des absterbenden Feudalismus und dem Hammer des niedergehenden Kapitalismus.« [7] Der jüdische Nationalismus ist vor allem ein bloß reagierender Nationalismus, eine defensive Reaktion gegenüber der aufsteigenden Bourgeoisie. Im übrigen sollten wir festhalten, daß der jüdische Nationalismus beschränkt blieb auf das osteuropäische Judentum. Die Juden Asiens und der arabischen Welt sind davon ebenso unberührt geblieben wie die jüdischen Gemeinschaften des westlichen Europas und Nordamerikas. Die Ausbreitung des jüdischen Nationalismus folgt genau dem Verlauf der jüdischen Auswanderung - was gerade eine Folge der Krise des Judentums Osteuropas ist - und fällt mit dem Ausbreitungsgebiet des Yiddisch, der charakteristischen Sprache der Ostjuden, zusammen. Der auf die Spitze getriebene jüdische Nationalismus ist der politische Zionismus, eine Lehre, die vom Postulat der Unvereinbarkeit von Juden und anderen Nationen ausgehend, die massenhafte Auswanderung der Juden in ein unterentwickeltes Land propagiert, um dort einen jüdischen Staat zu gründen. Eine solche Ideologie konnte zweifellos nur in der Epoche des Imperialismus entstehen und schlägt sich manifest in der Fortsetzung der europäischen kolonialen Expansion nieder.

Bevor wir aber die Frage der Entwicklung des Zionismus angehen, scheint es unerläßlich, die Auswirkungen des Nationalismus auf die jüdische Arbeiterbewegung Osteuropas zu untersuchen. Im Jahre 1897, ein Jahr vor der Gründung der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Rußlands, entsteht in Vilna der Allgemeene Yiddishe Arbeterbund, der zentrale Zusammenschluß der jüdischen Arbeiter Litauens, Polens und Rußlands, allgemein bekannt unter der Bezeichnung Bund. Diese Partei ähnelt den vielen kleinen jüdischen Arbeitergruppen, die in den neunziger Jahren begonnen hatten, sich im zaristischen Reich zu bilden. Anfänglich führt die Organisation ihre Arbeit in russischer Sprache durch; ihr Umfang aber zwingt sie, darauf zu verzichten, denn »die Organisierung der jüdischen Arbeiter war ohne das Yiddische nicht möglich«. [8] Seit dem Jahr 1910 erkennt die Partei offiziell Yiddisch als die jüdische Nationalsprache an. Die Krise der Arbeiterbewegung nach der Revolution von 1905 und die polizeiliche Verfolgung haben den Bund beträchtlich geschwächt. Während er 1903 4000 Mitglieder zählte, vereinigte er 1908 nicht mehr als 500. Unter heftigen Kämpfen gegen den Zionismus bezieht der Bund, dem Angriff des erwachenden Nationalismus der osteuropäischen Völker ausgesetzt, immer nationalistischere Positionen. Während seiner 3. Konferenz in Kovno im Jahre 1899, verwirft der Bund entschieden jede nationalistische Forderung und unterstreicht, daß nationalistische Agitation die Gefahr in sich trägt, die Arbeiter dem Klassenkampf zu entfremden und die internationale Solidarität zerbrechen kann. Aber diese Frage taucht auf der Tagesordnung des Kongresses von Bialystok im Jahre 1901 wieder auf, und diesmal erklärt der größte Teil der Versammelten, daß der Begriff Nationalität sich gleichfalls auf das jüdische Volk anwenden ließe, ohne aber eine separate Organisation für die jüdischen Arbeiter zu fordern. Dieser Schritt wird erst 1903 vollzogen werden. Die Auswanderung der jüdischen Arbeiter hat die Verbreitung des Bundes außerhalb seines unmittelbaren Einflußbereichs zur Folge; vor allem in den Vereinigten Staaten. Seine russische Sektion, die sich 1917 gewaltig vergrößert, wird später in ihrer Mehrheit der Kommunistischen Partei beitreten. Die Entwicklung des Bundes in Polen verläuft ganz anders: er verwirft die 21 Aufnahmebedingungen der Kommunistischen Internationale und schließt sich danach der II. Internationale an. [9] Die jüdische Arbeiterpartei erfaßte hauptsächlich jüdische Handwerker und Arbeiter, die für jüdische Unternehmer in Fabriken geringen Umfangs arbeiteten. Diese besondere Zusammensetzung der Basis macht den Bund sehr anfällig gegenüber den ideologischen Einflüssen des Kleinbürgertums. Der Bund schließt sich der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Rußlands auf deren I.Kongreß an. Er spaltet sich allerdings 1903 wieder ab, da der zweite Kongreß der Partei es ablehnt, den Bund als einzigen Vertreter der jüdischen Arbeiterklasse anzuerkennen. Diese Forderung mußte übertrieben erscheinen, zumal in vielen Landstrichen, besonders im Süden, jüdische Arbeiter unmittelbar der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Rußlands angehörten. Lenin führt in seiner Kritik der »partikularistischen und isolationistischen« Politik, die der Bund betrieb, aus: »Dieser Fehler des >Bund< (der Austritt aus der SDAPR auf dem II. Parteitag 1903, d. Hrsg.) ist das Resultat seiner prinzipiell unhaltbaren nationalistischen Ansichten, das Resultat eines unbegründeten Anspruchs auf das Resultat auf das Monopol der alleinigen Vertretung des jüdischen Proletariats, aus dem sich unvermeidlich das föderalistische Organisationsprinzip ergibt...« [10]

Tatsächlich handelt es sich bei der Polemik im wesentlichen um die Organisation der Partei. Der Bund und nach ihm die kaukasischen Sozialisten befürworten seit 1901 eine Reorganisation der Partei auf föderalistischer Ebene. Beiläufig gilt es noch festzustellen, daß die Menschewiki ebenfalls 1903 gegen den Bund Stellung genommen haben. Auf dem Kongreß von Stockholm im Jahre 1906 trat die jüdische Arbeiterpartei indessen mit Unterstützung der Bolschewik! wieder in die russische Sozialdemokratie ein. Lenin greift mit Nachdruck das »Sektierertum« des Bundes an, und er weist nach, wie die »Bundisten«, indem sie die Parole von der »nationalen Kultur« ausgeben, »in Wirklichkeit als Schrittmacher des bürgerlichen Nationalismus innerhalb der Arbeiterschaft« auftreten. [11] Diese Beurteilung ist durchweg richtig. Aber wenn man sich einige der Vorwürfe der Bolschewik! gegenüber dieser Arbeiterpartei genauer ansieht, begreift man das Ausmaß der jüdischen Tragödie, den Antisemitismus und die furchtbare Unterdrückung, die den Weg zum Spaltertum geebnet haben. Ein Beispiel: Die Arbeitslosigkeit ruft häufig antisemitische Reaktionen bei den nicht-jüdischen Arbeitern hervor. Aus diesem Grund sehen sich die jüdischen Arbeiter aus den polnischen Fabriken ausgeschlossen. Sie antworten darauf mit gleichen Mitteln: die polnischen Arbeiter werden aus den Handwerkerberufen verdrängt. [12] Ebenso versucht Lenin während einer Auseinandersetzung mit dem Bund 1903, diese Partei davon zu überzeugen, daß der Antisemitismus eng mit den Interessen der bürgerlichen Klasse verknüpft ist und »daß der soziale Charakter des Antisemitismus sich heute nicht dadurch verändert hat, daß dutzende, ja selbst hun-derte von unorganisierten Arbeitern, von denen neun Zehntel völlig unaufgeklärt sind, an einem Pogrom teilgenommen haben«. [13] Unter diesen Voraussetzungen kann man verstehen, daß der Druck des Antisemitismus der Arbeiterschichten den Bund dazu getrieben hat, nationalistische Positionen zu beziehen. Gleichwohl sollten wir festhalten, daß der Bund die erste jüdische Partei war, die die Selbstverteidigung gegen Pogrome organisierte (Homel 1903); dieser Widerstand wurde zusammen mit sozialistischen, nicht-jüdischen Arbeitern organisiert.

Der Antisemitismus untergräbt so das proletarische Bewußtsein der jüdischen Arbeiter und öffnet das Tor zum bürgerlichen Nationalismus, eine Abweichung, die um so natürlicher ist, als der Boden dafür schon durch die kleinbürgerliche Struktur des jüdischen Handwerkertums vorbereitet ist. Die Führer der Bolschewik! wußten um diese Realitäten, wie das Vorwort Lenins zum Bericht über den III. Kongreß der SDAPR beweist, das auch in jiddischer Sprache herausgegeben wurde. »Die jüdischen Arbeiter leiden nicht nur unter dem allgemeinen wirtschaftlichen und politischen Joch, das sie als eine rechtslose Nationalität niederdrückt, sondern außerdem noch unter einem Joch, das sie der elementaren Bürgerrechte beraubt (...) Je eifriger die räuberische zaristische Selbstherrschaft bestrebt ist, Zwietracht, Mißtrauen und Feindschaft unter den von ihr unterdrückten Nationalitäten zu säen, je widerlicher ihre Politik der Aufhetzung der unaufgeklärten Massen zu bestialischen Pogromen ist, um so mehr haben wir Sozialdemokraten die Pflicht, daran zu arbeiten, daß sich alle zersplitterten sozialdemokratischen Parteien der verschiedenen Nationalitäten zu einer einheitlichen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Rußlands vereinigen.« [14]

Die Stärke der Widerspiegelung des Nationalismus in den Reihen der jüdischen Arbeiterbewegung ermöglicht es, die zunehmende Einflußnahme der zionistischen Ideologie zu verstehen. Man kann Moses Hess, Jugendfreund von Marx und Engels, als den ersten zionistischen Theoretiker ansehen. [15] Im Gegensatz zu Marx blieb Hess ganz entscheidend unter dem Einfluß seiner jüdischen Kindheit. Jiddisch-sprechend erzogen brauchte er eine geraume Zeit, um deutsch zu erlernen. In einer seiner ersten Schriften, - Die europäische Triarchie (1841) -, vertritt er die These, die Emanzipation der Juden setze ihre Assimilation voraus. In einem Aufsatz über die Rolle des Geldes, der drei Jahre später erschien, vertritt er Positionen in Zusammenhang mit der Judenfrage, die anscheinend Marx unmittelbar beeinflußt haben. Hess verfaßt nicht früher als im Jahre 1860 die Schrift >Rom und Jerusalem<, ein zionistisches Glaubensbekenntnis, das er 1862 veröffentlicht. Seine veränderte Position steht offensichtlich in Zusammenhang mit den ersten Ausbrüchen des modernen Antisemitismus in Deutschland. [16] Hess' Vorstellungen über die Rückkehr des jüdischen Volkes in das Land seiner Väter wurden durch eine 1860 erschienene Schrift von Ernest Laharanne, persönlicher Sekretär Napoleons III., beeinflußt. Diese Schrift nimmt die Auflösung des türkischen Reiches vorweg; schon der Titel faßt ein ganzes politisches Programm zusammen: >Die neue Orientfrage - Ägypten und die arabischen Staaten - Wiederaufbau eines jüdischen Nationalstaates<. Hess wurde von der Aussicht auf ein Bündnis zwischen dem französischen Imperialismus und den Juden im Nahen Osten in seinen Auffassungen nachhaltig beeinflußt. Diese Möglichkeit beeindruckte ihn so sehr, daß er bei der Übertragung der Aufforderung Laharannes ins Deutsche: »Schreitet voran! Bei Eurem Verjüngungswerke werden unsere Herzen Euch folgen, unsere Armen Euch helfend zur Seite stehen ...« Das Wort »Arme« als »Armeen« übersetzte. [17] Seine Faszination von der kolonialistischen Epoche sieht man in den Befürchtungen, die er in >Rom und Jerusalem< bzw. in seinem >Plan zur Kolonisation des Heiligen Landes< äußert: man solle dafür sorgen, daß die Siedler sich militärisch organisieren, damit sie in der Lage seien, sich gegen die Beduinen "zur Wehr zu setzen. [18]

Am erstaunlichsten ist die Tatsache, daß seit diesem ersten, in seinen Anfängen stehenden zionistischen Plan die Rückkehr ins Heilige Land als integrierender Bestandteil der europäischen Kolonisation aufgefaßt wurde. In einem Brief vom l. Dezember 1865 an Dünner, Groß-Rabbiner von Amsterdam, berichtet Hess von Verlautbarungen hochgestellter Persönlichkeiten, die ihm mitgeteilt hätten, daß man »mit großem Wohlwollen« der Gründung jüdischer Kolonien in Palästina und Umgebung gegenüberstehen würde. Der Wortlaut dieser Erklärung entspricht fast dem Wortlaut der Balfour-Deklaration des Jahres 1917 und stellt in seinen Einzelheiten eine Vorwegnahme des Chamberlain-Plans von der jüdischen Kolonisierung El-Arish's im Jahre 1902 dar. [19]

Hess wendet sich bei der Befürwortung dieses Plans, der die »parasitären Strukturen« der jüdischen Wirtschaft zerschlagen würde, besonders an die Juden Osteuropas. Die Westjuden, sagt er, passen sich an und »fühlen sich in den Ländern wohl, in denen sie seit Jahrhunderten leben«. Deshalb werden sie nicht nach Palästina auswandern, »selbst wenn das Land eines Tages dem jüdischen Volk zurückgegeben würde«. Denn, soviel ist sicher: »eines Tages werden die Ereignisse im Orient einen günstigen Ausgangspunkt für den Aufbau des jüdischen Staates... in Palästina zeitigen«. Im folgenden ein Abschnitt aus >Rom und Jerusalem<, der im Kern das ganze zionistische Unternehmen enthält - von der Emigration der Juden aus Osteuropa über die kollektivistischen Kolonien bis zum Plan eines jüdischen Nationalfonds.

»Die Erwerbung eines gemeinschaftlichen vaterländischen Bodens, das Hinarbeiten auf gesetzliche Zustände, unter deren Schutz die Arbeit gedeihen kann, die Gründung von jüdischen Gesellschaften für Ackerbau, Industrie und Handel nach mosaischen d. h. sozialistischen Grundsätzen, das sind die Grundlagen, auf welchen das Judentum im Orient sich wieder erheben, aus welchen das unter der Asche eines toten Formalismus glimmende Feuer des altjüdischen Patriotismus wieder hervorbrechen, durch welche das ganze Judentum neu belebt werden wird.« [20]

Diese erste Schilderung einer zionistischen Utopie trägt implizit die Grundlagen des palästinensischen Dramas in sich: und zwar die Gründung eines jüdischen Staates in Palästina, zugunsten des europäischen Kolonialismus in Klein-Asien. Aber »das Buch von Hess, veröffentlicht zu einem Zeitpunkt, als die Emanzipationsbewegung auf ihrem Höhepunkt war, am Vorabend der juristischen Gleichstellung der Juden Deutschlands, stieß überall auf Skepsis und Unverständnis«. [21] Die Reaktion auf das Buch von Hess schlägt aber unter dem Eindruck einer Welle von Pogromen, die sich in Rußland seit 1881 rasend schnell ausbreitet, in ihr Gegenteil um. Innerhalb weniger Monate verwandelten sich 160 Städte und Dörfer in einen Schauplatz antisemitischer Unruhen; die Massaker griffen auf Polen und andere Länder über. Diese Ausbrüche moderner Barbarei werden zum Trauma des russischen Judentums: Leon Pinsker schreibt in Odessa - die Ausschreitungen dauerten hier fünf Tage lang an - das Buch >Auto-Emanzipation<, in dem er darlegt, die einzige Lösung des Problems des Antisemitismus liege in der Zusammenfassung der Juden in einem geschlossenen nationalen Gebiet, einem »ständigen Asyl«. Hebräische Sprachforscher wie Lilienblum und die Kreise der Hovevei-Zion (Die Geliebten von Zion), - seit Jahren erfolglose Vertreter des Planes, nach Palästina zurückzukehren - wurden plötzlich von vielen ernstgenommen. Junge Studenten gründeten eine Organisation, die nach den Anfangsbuchstaben des biblischen Wortes »Haus Jakobs, erhebe Dich und Gehe (BILU)«, benannt wurde. Der Hauptvertreter der zionistischen Ideologie kommt jedoch aus Westeuropa. Im Jahre 1896 veröffentlicht der Wiener Journalist und Dramaturg Theodor Herzl - tief beeindruckt von der Dreyfus-Affäre - eine Kampfschrift mit dem Titel: >DerJudenstaat<. Noch zwei Jahre vorher hatte Herzl in einer Besprechung des Buches >La femme de Claude< von Alexandre Dumas mit den folgenden Worten die zionistischen Träumereien ironisch belächelt: »Der brave Jude Daniel möchte seine verlorene Heimat wiederfinden und seine in alle Winde zerstreuten Brüder wieder vereinen. (. . .) Ein solcher Jude aber sollte wissen, daß er den Seinen kaum einen Dienst erweist, wenn er ihnen ihre ehemalige Heimat wiedergibt. (. ..) Und wenn die Juden tatsächlich dorthin zurückkehrten, würden sie schon am folgenden Tag feststellen, daß sie nicht viel miteinander zu tun hätten. Sie sind seit Jahrhunderten in ihrer neuen Heimat verwurzelt, haben die alte Nationalität aufgegeben, sich an andere Bedingungen angepaßt, und das Wenige an Gemeinsamkeit, das sie noch von anderen Menschen unterscheidet, dient nur der Unterdrückung, der sie überall ausgesetzt waren.« [22]

Im Gegensatz zu vorangegangenen zionistischen Schriften ruft >Der ]udenstaat< sofort ein außerordentliches Interesse hervor und begeistert die jüdischen Massen Osteuropas. Herzls These lautet schlicht: der Antisemitismus, eine bestimmte Form des Rassenhasses, kann nur durch die Neuorganisation der Juden innerhalb eines autonomen Gebiets ausgerottet werden. Dieses autonome Gebiet wäre der Zufluchtsort der Verfolgten, es wäre der Staat der Juden. Wie begeistert Herzl sich auch gebärdet, er bleibt vor allem ein Mann, der praktisch denkt und handelt. In seiner Schrift vernachlässigt er auch nicht das kleinste Detail. Ebenso wie Pinsker, aber im Gegensatz zu den hebräischen Sprachforschern, vertritt Herzl nicht nur formal die Entscheidung, nach Palästina zu gehen. Er beabsichtigt die Rückkehr nach Zion entsprechend dem Modell der englischen Kolonial-Gesellschaften durchzuführen, und zwar durch die Gründung einer >Jewish Companys< .

Nach der Veröffentlichung des >Judenstaates< bedarf es zu allererst einer Charta, die den zukünftigen Siedlern zugestanden wird. Der Zweck dieses Unternehmens gestattet jedoch keine zweideutigen Stellungnahmen. Bei der Beschreibung des zu gründenden Staates führt Herzl begeistert aus: »Für Europa würden wir dort ein Stück des Walls gegen Asien bilden, wir würden den Vorpostendienst der Kultur gegen die Barbarei besorgen.« [23] - Ohne Zweifel ist diese Aussage kennzeichnend für ein kolonialistisches Abenteuer. - Man sollte noch hinzufügen, daß Herzl nicht gerade von der Demokratie überzeugt war, daß er von einer »aristokratischen Republik« träumte. Herzl rechnet insbesondere mit dem Wunsch der westjüdischen Kapitalisten, ihre ostjüdischen Glaubensbrüder loszuwerden, weil der Zustrom der Ostjuden nach Westeuropa die Assimilation des Westjuden gefährdete und den Antisemitismus wiederbelebte. Von dieser Seite erhält er auch tatsächlich einige Unterstützung. Aber die Einwände gegen Herzls Vorstellungen sind zahlreich und kommen aus den verschiedensten Kreisen. Man sollte hier nicht vergessen, daß der Titel des Buches >Der Judenstaat< und nicht >Der jüdische Staat< lautet; dieser Unterschied ist keineswegs belanglos. Der stärkste Widerstand aber wird vpn den Rabbinern und Oberhäuptern der jüdischen Gemeinden Westeuropas, der USA und, allerdings weniger heftig, von den Oberhäuptern der jüdischen Gemeinden Osteuropas geleistet.

Der Zionismus vollzog seinen entscheidenden Schritt während des ersten zionistischen Kongresses im Jahre 1897, zu dem 204 Delegierte aus aller Welt nach Basel gekommen waren. Seit diesem Kongreß ist der Zionismus keine diffuse, philantropische oder religiöse Strömung mehr, sondern eine nationale und politische Bewegung. Das Ziel des Zionismus ist nach der von der Versammlung angenommenen Definition, »dem jüdischen Volk eine durch das öffentliche Recht garantierte Heimstatt zuzusichern«. Um dieses Ziel zu erreichen, empfiehlt der Kongreß folgende Maßnahmen:

»I. Das systematische Vorantreiben der Kolonisation Palästinas durch die Ansiedlung von jüdischen Bauern, Handwerkern und Arbeitern.

II. Die Organisation und verbandsmäßige Zusammenfassung des ganzen Judentums mit Hilfe lokaler Vereinigungen und Dachorganisationen, im Rahmen der gesetzlichen Möglichkeiten der Länder, in denen sie gegründet werden.

III. Die Stärkung des jüdischen Zusammengehörigkeits- und Nationalgefühls.

IV. Vorbereitende Schritte, um die notwendige Zustimmung der Regierungen zur Erreichung des zionistischen Ziels zu erhalten.« [24]

Der zionistische Zusammenschluß ruft vor allem in Osteuropa eine massive Zustimmung hervor, vor allem bei denjenigen Juden, »die unter politischer Zwangsherrschaft oder in Gebieten lebten, in denen der politische und soziale Druck sehr groß war«. [25] Herzl macht sich sofort auf die Suche nach einer politischen Macht, die geeignet wäre, die politischen Garantien für die geplante Heimstatt zu übernehmen. Trotz unzähliger diplomatischer Schritte erhält er die Urkunde für eine staatlich sanktionierte Kolonialisierung nicht, die er so sehr begehrt. Dennoch unternimmt er alles, um sein Ziel zu erreichen: er bemüht sich um eine Unterredung mit dem deutschen Kaiser, mit dem Sultan Abdul-Hamid II. (Palästina war Teil des türkischen Reichs); er bittet um Audienzen bei dem Innenminister des zaristischen Rußlands, von Plehve, einem großen Organisator von Pogromen, und bei Wirte, einem weiteren Minister des Zaren und fanatischer Antisemit; er tritt an den Papst heran, an Victor Emanuel und an Chamberlain, den britischen Kolonialminister. Er erreicht nichts. Die Kolonialmächte zeigen zu diesem Zeitpunkt nur geringes Interesse für die zionistischen Pläne.

Die zionistischen Führer hegten die Hoffnung, den Sultan mit verführerischen Finanzierungsplänen locken zu können, aber vergeblich! Die Verhandlungen mit Abdul-Hamid im Jahre 1901 scheitern und Herzl gesteht in einem Brief vom 18. April 1901 traurig ein: »... ich bin mit meinen Bemühungen an einer schäbigen Geldfrage gescheitert«.

Herzl verfolgt unablässig, ohne sich entmutigen zu lassen, sein Ziel. Seit dem 28. März 1899 sind Subskriptionslisten hinsichtlich der Gründung einer jüdischen Kolonialbank im Umlauf. Man hatte die Hoffnung, daß dieses zionistische Finanz-Institut über ein Kapital von 2000000 englischen Pfund verfügen werde. Nach dreijähriger Bemühung liegen aber erst die Bürgerschaften für 10% dieser Summe vor, [26] - die zionistische Bewegung stößt zudem auf den Widerstand orthodoxer Kreise, vor allem in Deutschland und Amerika. Im Jahre 1901 wird der Jüdische Nationalfonds gegründet. Es handelt sich dabei um einen zentralen Fonds zum Ankauf von Boden und zur Finanzierung der Kolonisierung. Die Erwerbungen dieses Fonds sollten das unveräußerliche Eigentum des jüdischen Volkes sein. Mangels einer »Kolonial-Charta« begnügt sich die zionistische Bewegung mit den praktischen Aufgaben, die aus der Kolonisierung hervorgehen, obwohl die Initiatoren dieser Bewegung sich für einen »politischen Zionismus« ausgesprochen haben. Im Jahre 1902 schlägt die britische Regierung den Zionisten das Gebiet von El-Arish auf der Sinai-Halbinsel als Kolonisationsgebiet vor. Nach einer Besichtigung dieses Gebiets lehnen die zionistischen Führer diesen Vorschlag ab.

Im Jahre 1903 kommt es zum Pogrom von Kischinev, das die vorangegangenen Pogrome an Grausamkeit weit übertrifft. Unter stillschweigender Duldung, ja vielleicht sogar unter aktiver Beteiligung der staatlichen Gewalt folgen Massaker, Verfolgung und Quälereien aufeinander. Die britische Regierung, die sich für die schutzsuchende, zionistische Bewegung zu interessieren beginnt, schlägt Herzl unter dem Eindruck dieser schwerwiegenden Vorfälle ein Kolonisierungs-gebiet in Kenia (»Uganda-Projekt«) vor. Der zionistische Führer wäre bereit gewesen, diesem Plan zuzustimmen, aber die russischen Zionisten lehnen es ab, davon auch nur zu sprechen. In Charkov fordern sie Herzl auf, diesen Plan fallenzulassen: Kein Zionismus ohne Zion. Zionistische Organisationen hatten auch schon mehrmals Pläne einer Kolonisierung benachbarter Gebiete Palästinas ins Auge gefaßt. Der Gedanke zu diesen Plänen stammt von Nathan Birnbaum, der die Ansiedlung in den Grenzländern des Heiligen Landes zwei Jahre vor Erscheinen des >Judenstaats< befürwortete. Birnbaum ist im übrigen als der Begründer des Begriffs >Zionismus< anzusehen. [27] Der Vater des Zionismus stirbt im Jahr 1904. Die Bewegung verliert dadurch zu einem kritischen Zeitpunkt einen großen Führer. Nach dem Tod von Herzl verstärken sich die inneren Widersprüche und die Auflösungstendenzen, die schon vorher aufgebrochen waren. Der aktionistische Flügel der Zionisten, der eine sofortige Kolonisation befürwortet, ohne die berühmte >Charta< abwarten zu wollen, steht in Opposition zum >politischen Zionismus^ Wenn auch die Bewegung viel von ihrer politischen Kraft verloren hat, so schreitet doch die Kolonisierung des Heiligen Landes voran; sie wird verstärkt durch eine Welle von Einwanderern, die aus Osteuropa kommen. In vieler Hinsicht legen diese Siedler schon die Grundsteine für den zukünftigen jüdischen Staat. Die sozialistische Färbung ihrer Ideen und die Art und Weise, die Kolonisierung durchzuführen, wird die zukünftige Entwicklung der zionistischen Bewegung festlegen. Im Jahre 1908 wird die Palestine Land Development Company gegründet, die an den jüdischen Nationalfonds angeschlossen ist. Seit dieser Zeit verfügt der Zionismus über eine politisch gegliederte Organisation, über Wirtschafts- und Finanzeinrichtungen und über Grund und Boden. Es fehlt noch die berühmte Charta, die die Kolonisierung sanktionieren soll. Großbritannien wird sich darum bemühen.

Es ist schwierig, sich eine genaue Vorstellung von der Entwicklung und Ausbreitung der zionistischen Bewegung seit ihren Anfängen zu machen. Trotz der »allgemeinen Zurückhaltung« [28] und dem relativen Scheitern der Subskriptionskampagne kaufen 114000 Personen im Jahr 1899 den Schekel, eine jährlich zu entrichtende symbolische Steuer, die von all jenen freiwillig bezahlt wird, die die Grundsätze des ersten Kongresses von Basel billigen. Es scheint, als ob die zionistische Bewegung von Anfang an eine nicht zu unterschätzende Basis gehabt habe.

Man kann den Zionismus als Ergebnis zweier eng miteinander verbundenen wirtschaftlich-politischen Entwicklungen im 19. Jahrhundert definieren: zum einen als Ergebnis der Auflösung der feudalen Strukturen des zaristischen Reiches und Österreich-Ungarns, zum anderen als Ergebnis des Niedergangs des Kapitalismus. Die erstgenannte Entwicklung hat die sozio-ökonomischen Grundlagen des Lebens der Juden Osteuropas untergraben; die letztgenannte hat die Proletarisierung und Assimilation der Juden verhindert. Diese spezifische historische Verbindung wirtschaftlich-sozialer Widersprüche in Ost- und Westeuropa stellt die Grundlage eines jüdischen Nationalismus dar, den es vorher nicht gab. »Solange das Judentum innerhalb des Feudalsystems seinen festen Platz hatte, war der >Traum von Zion< nichts anderes als* ein Traum ohne irgendeinen realen Interessenhin -tergrund. Der jüdische Gastwirt oder Pächter im Polen des 16. Jahrhunderts dachte ebensowenig an eine >Rückkehr< nach Palästina, wie heute der jüdische Millionär Amerikas daran denkt«. [29] In diesem Sinne ist die Entstehung des Zionismus als eine Folge des Antisemitismus anzusehen, und seine Entwicklung erweist sich in letzter Konsequenz als Folge der Nichtentstehung des Sozialismus. Der kausale Zusammenhang zwischen den rassistischen Verfolgungen und dem Fortschritt des jüdischen Nationalismus ist nicht zu übersehen: jede Einwanderungsphase nach Palästina entspricht einer Phase verschärften Antisemitismus'. Die Einwanderungswellen, die 1882 und 1904 einsetzen, sind direkte Folgen der Pogrome. Die weitverbreitete Zustimmung zum Zionismus steht in umgekehrtem Verhältnis zur Existenzsicherheit der jüdischen Massen. Die religiöse Tradition der Juden, die die spezifische Geschichte einer »Volks-Klasse« widerspiegelt, hat seit der Antike eine Art Stammesdenken in sich aufbewahrt, das auf den Zionismus einen starken Einfluß ausgeübt hat. Das zionistische Unternehmen geht aus der Säkularisierung des traditionellen jüdischen Messianismus hervor. [30]

Der Zionismus, der auf der messianischen Tradition aufbaut, behält dadurch einen mythischen und irrationalen Charakter. Die Sentimentalität und die Sehnsucht nach der Rückkehr in die Heimat, mit denen das Verhältnis zu Palästina betrachtet wird (Eretz Israel), ziehen sich durch alle pseudomaterialistischen Rationalisierungen. In der zionistischen Sprache »zieht« man nach Palästina, wie der ehemalige Pilger, der sich ins Heilige Land begibt. (Die Einwandererwellen werden als »alyot« bezeichnet, was soviel wie Himmelfahrt bedeutet.) Ebenso ist es wahr, daß die sogenannten marxistischen Zionisten Gott de facto, wenn nicht gar de füre anerkannten. Die atheistischen Pioniere der Kibbuzim gingen sogar so weit, völlig neue weltliche Versionen der traditionellen jüdischen Texte einzuführen. Der Zionismus dient mit seinen permanenten Hinweisen auf die biblische Geschichte und mit seinen ständigen Bezugnahmen auf die Verheißungen als religiöser Ersatz. Nebenbei sollte man noch hinzufügen, daß nach dem jüdischen orthodoxen Glauben die Ankunft des Messias ausschließlich vom Willen Gottes abhängt. »Gott allein weiß, wann diese glücklichen Zeiten Wirklichkeit werden«, sagt der Großrabbiner A. Deutsch, und er fügt an die Adresse der Zionisten gerichtet hinzu: »Es nützt überhaupt nichts, seine Ankunft schnell durch andere Mittel herbeiführen zu wollen, außer durch ein Leben, das vom Glauben und dem Vertrauen in Gott geprägt ist.« [31] Die oben beschriebene Strömung ist aber vor allem als Produkt ihrer Epoche anzusehen. Sie steht unter direktem Einfluß des europäischen Nationalismus des 19. Jahrhunderts, und die Lösungsmöglichkeiten, die sie anbietet, liegen in der westeuropäischen kolonialistischen Expansion. Im Gegensatz jedoch zu anderen nationalistischen Strömungen Europas macht sich der oben genannte Einfluß nicht während der Phase des sich entfaltenden Kapitalismus bemerkbar - d. h. innerhalb des Zeitraums, in dem sich die jüdische Bourgeoisie assimiliert-, sondern später, und zwar zu dem Zeitpunkt, zu dem sich der Zusammenbruch des Kapitalismus .vorbereitet. Die Verdrängung der Juden aus der kapitalistischen Gesellschaft und der moderne Antisemitismus rufen den Zionismus hervor, der so gesehen, »ein Produkt der imperialistischen Epoche« ist. [32] Genauer gesagt, die zionistische Bewegung ist der Ausdruck der Krise des jüdischen Kleinbürgertums, das seine traditionellen ökonomischen Funktionen verloren hat, und dem es nicht mehr gelang, im Rahmen der gesamten vor dem Zusammenbruch stehenden kapitalistischen Wirtschaft sich in die industrielle Lohnarbeit zu integrieren. Wenn auch der extreme Druck des Antisemitismus eine Begründung für den Erfolg der zionistischen Ideologie unter den jüdischen Massen, hauptsächlich Kiembürger und Handwerker, zu geben vermag, so entbindet uns die Erklärung jedoch nicht von einer generellen Einschätzung der Bedeutung des Zionismus. Der Grundgedanke des Zionismus liegt zweifellos in der Überzeugung, daß der Antisemitismus eine immerwährende und unvermeidliche Tatsache sei. Pinsker schrieb in diesem Zusammenhang: »Der Judenhaß ist eine Psychose. Als Psychose ist er eine erbliche Krankheit und als Krankheit, die seit zweitausend Jahren besteht, ist er unheilbar.« [33] Dieser grundlegende Pessimismus führt zum Defätismus. Weil der Antisemitismus unabänderliches Übel, ewige Plage ist, hat es keinen Sinn, gegen die Bedingungen, die ihn hervorrufen, zu kämpfen. Letzten Endes unterliegt der Zionismus dem Einfluß des Rassismus. Indem er nicht auf der Besonderheit, sondern auf der wesentlichen Verschiedenheit der Bedingungen für die Juden besteht, übernimmt er die antisemitischen Thesen, sei es auch nur, indem er die Vorstellungen des antijüdischen Rassismus in ihr Gegenteil verkehrt. Als Antwort auf seine Verfolger betrachtet der Zionismus die Existenz von Juden in einer nichtjüdischen Gesellschaft »als problematisch« und bezeichnet sie damit implizit als Störfaktor des sozialen Friedens. Er treibt die Selbstaufgabe so weit, daß er den rassistischen Grundsatz annimmt: »Der Jude muß von der Bildfläche verschwinden.« Zionistische Maßnahmen und antisemitische Gegenmaßnahmen ergänzen einander und sind sich strukturell ähnlich. Das Wiederaufleben des Gedankens vom »auserwählten Volk«, losgelöst von seinen ursprünglich archaischen Zusammenhängen, stellt nichts anderes dar, als die Umkehrung des Mythos vom ewigen Juden. Aus diesen Tatsachen resultiert eine unbestreitbare Übereinstimmung von Interessen, die der Biograph von Herzl in der folgenden Passage aufdeckt:

«Der widersprüchlichste diplomatische Schritt Herzls, der ihm von seinen Gegnern, ja selbst von Zionisten, am entschiedensten zum Vorwurf gemacht wurde, war seine Reise nach Rußland, sein Besuch bei Plehve... bei dem Mann, der nicht zu Unrecht von den Juden als der Verantwortliche des Pogroms von Kischinev angesehen wurde. Aber Herzl war überzeugt davon, daß es möglich sei, auch mit den größten Feinden zu verhandeln, weil ihre Interessen mit denen der Zionisten übereinstimmten . . .« [34]  , Im Gegensatz zu den jüdischen Sozialisten, die den revolutionären Kampf als Mitglieder der Arbeiterparteien oder des Bundes führten, verzweifeln die linken Zionisten an der Solidarität der Arbeiter und geben den Kampf auf. Man kann dies als Folge der überwiegend kleinbürgerlichen Struktur der jüdischen Gemeinschaft ansehen. Man sollte noch hinzufügen, daß die jüdischen Arbeiter oft in jüdischen Fabriken beschäftigt waren, so daß es der Bourgeoisie gelingen konnte, das Gefühl der Klassenzugehörigkeit dieser Arbeiter in andere Bahnen zu lenken. Selbst der arbeiterorientierte Teil der zionistischen Bewegung verzichtete auf den Kampf für den Sozialismus zugunsten eines Kampfes, der erst in einem, in seiner sozialen Struktur schon gefestigten, jüdischen Palästina geführt werden soll. Global gesehen ist der Zionismus eine Bewegung, die vom Klassenkampf absieht, anstatt ihn zu intensivieren - dies ist im übrigen eine Interpretation, die Herzl einige Male bewußt gegenüber staatlichen Machthabern zugunsten des Zionismus anführte [35] -, und die solche Leute wie von Plehve brennend interessieren mußte. Zudem weist die zionistische Ideologie auf die zukünftigen charakteristischen Merkmale der Kolonisation Palästinas hin. Der Plan, einen jüdischen Staat in Palästina unter dem Schutz einer imperialistischen Macht zu errichten, deutet die zukünftige Allianz zwischen den zionistischen Führern und Großbritannien an und weist auf die Unterwerfung, Ausbeutung oder Aussiedlung der einheimischen Bevölkerung hin. Seit der Entstehungszeit des Zionismus konnte man voraussehen, daß die zionistischen Siedler - entsprechend den Wünschen von Herzl - den Vorposten des europäischen Kolonialismus darstellen würden und notwendig mit dem arabischen Nationalismus in Konflikt geraten müßten. Die immanente Logik der Entwicklung des Zionismus verdammt ihn von Anfang an dazu, sich bei der Durchsetzung seiner Ziele am klassischen Kolonialismus zu orientieren. Wenn Herzl nach dem ersten zionistischen Kongreß von Basel stolz in den Spalten seiner Zeitung vermerken konnte: »Ich habe in Basel den jüdischen Staat gegründet«, so hat er in einem weitergehenden Zusammenhang bei der gleichen Gelegenheit auch die Grundlagen zum palästinensischen Drama geschaffen. Im Zentrum der zionistischen Bewegung wird sich sehr schnell ein quasi-sozialistischer Flügel bilden, der versucht, die zionistisch-nationalistische Utopie mit einer proletarischen Perspektive zu vermitteln. Diese proletarische Richtung hatte einen bestimmenden Einfluß auf den Verlauf der Kolonisation in Palästina. Der zionistische Arbeiterflügel wurde durch die Poalei-Zion-Partei (Arbeiter Zions) repräsentiert, deren wichtigster Theoretiker Ber Borochow (1881-1917) war.

Es ist wichtig festzustellen, daß die Aufrichtigkeit der Überzeugungen der linken Zionisten außer Frage steht. Es kann kein Zweifel daran bestehen, daß sie sowohl Zionisten als auch Revolutionäre sein wollten. Die Richtigkeit dieser Einschätzung ergibt sich schon aus dem entschieden revolutionären und antiimperialistischen Verhalten der russischen Poalei-Zion während des l. Weltkrieges und aus der Teilnahme einer zionistischen Einheit, des Regiments Borochow, an den Kämpfen der Roten Armee. [36] Die Dritte Internationale hat deshalb den Zionismus nicht weniger scharf angegriffen.

Die historische Entwicklung des linken Zionismus scheint ein exemplarisches Beispiel für die Zerstörung proletarischen Bewußtseins durch kleinbürgerlichen Nationalismus zu sein. Borochow geht von der Feststellung aus, daß die Juden entsprechend einem Ausdruck von Nordau, in ökonomischer Hinsicht »Luftmenschen« seien, buchstäblich in der Luft hängen. Diese Feststellung erinnert an das berühmte Wort von Marx über die polnischen Juden, die »in den Poren der Gesellschaft« lebten. Borochow folgert, daß die jüdische Arbeiterklasse durch die anormale soziale Struktur des Judentums in außerordentliche Widersprüche verstrickt sei. Die jüdischen Arbeiter, unter ihnen vor allem die ruinierten Handwerker und die Arbeiter der kleinen Manufakturen, auf der untersten Stufe der kapitalistischen Produktionsweise konzentriert, sind wirtschaftlich ganz besonders durch die kleinste ökonomische Krise gefährdet. Außerdem läuft die Tendenz der kapitalistischen Entwicklung auf die Ausrottung aller kleinen industriellen Unternehmen hinaus, und die jüdischen Arbeiter sehen sich demzufolge einer gnadenlosen Konkurrenzsituation auf dem heimischen Arbeitsmarkt ausgesetzt. Unter diesen Voraussetzungen kann das jüdische Proletariat, mangels einer angemessenen Strategie, den Klassenkampf nicht aufnehmen, und die kleinbürgerlichen Massen können sich nicht proletarisieren. Es gilt daher, die soziale Struktur des Judentums zu »normalisieren«, der Zionismus erscheint zur Erreichung dieses Ziels eine historische Notwendigkeit zu sein. [37]

Die Entwicklung eines jüdischen Bauern- und Industrieproletariats wird nur unter der Bedingung möglich sein, daß die Juden zu einer politischen und territorialen Unabhängigkeit gelangen. Dies wird nur in einem unterentwickelten Land mit überwiegend landwirtschaftlichen Strukturen möglich sein, »denn nur in einem solchen Land kann das kleine und große jüdische Kapital und die jüdische Arbeitskraft nach der Emigration Fuß fassen«. [38] In einem solchen Land, das noch keine geschlossene ökonomische Struktur aufweist, braucht man keine Konkurrenz zu fürchten. Dies wäre dann der Zeitpunkt, zu dem das jüdische Proletariat den offenen Klassenkampf aufnehmen könnte.

Warum aber gerade Palästina kolonisiert werden muß, vermag auch Borochow nicht klar zu beantworten.

Der Autor begnügt sich damit, an dieser Stelle zuzusichern, daß »Palästina eben dieses Land sei«, ohne eine andere Erklärung zu geben. [39]

Und zwar aus verständlichen Gründen: denn seine theoretischen Vorstellungen sind nichts anderes als die Rationalisierung sentimentaler und irrationaler Bedürfnisse. Selbst der Theoretiker des »Arbeiter-Zionismus« vermag es nicht, die Rückkehr nach Zion aus der im weitesten Sinne gefaßten »historischen Notwendigkeit« abzuleiten.

Dieses großartig entwickelte Gedankengebäude kann nur mühsam den Mangel einer Analyse der Genesis des jüdischen Problems verschleiern und verrät das grundlegende Unverständnis Borochows bezüglich der nationalen Frage. Dies kann man deutlich anhand der Schrift >Klasse und Nation< nachweisen, in der Borochow den Begriff der nationalstaatlichen Konkurrenz auf die Ebene aller Klassen anwendet, ein Versuch also, die nationale Frage durch die »Solidarität nationaler Interessen« zu lösen, die »dem Proletariat einen annehmbaren Arbeitsplatz und die Möglichkeit, für seine Interessen zu kämpfen, anbietet«. [40]

Klasse und Nation sind für ihn unvereinbare Gegensätze, und er begreift nichts von der Möglichkeit, daß der nationale Kampf eines unterdrückten Proletariats in eine soziale Befreiungsbewegung übergehen kann. Man muß in diesem Zusammenhang noch einmal die zweifelhafte These hervorheben, das jüdische Proletariat könne nicht für den Sozialismus kämpfen, da ihm eine strategische Grundlage fehle. Diese These bezieht aber nicht die Rolle des Bundes innerhalb der russischen Arbeiterbewegung mit ein, ohne dabei die große Anzahl sozialistischer Führer jüdischer Herkunft wie Rosa Luxemburg, Axelrod, Martow, Sinovjew, Kamenjew und Trotzki etc. in Erinnerung bringen zu wollen. Es ist unbegreiflich, wie Borochow vergessen konnte, daß das Manifest des Gründungskongresses der SDAPR in einer geheimen Druckerei des Bundes gedruckt wurde, daß die aktiven Genossen des Bundes an den Massenstreiks 1903-1904 teilgenommen hatten, daß sie die Mehrheit derjenigen Arbeiter darstellten, die in Lodz die ersten Barrikaden gegen das zaristische Reich errichteten.

Das Unternehmen Borochows ist schon von seinen Grundlagen her falsch: die Suche nach einer illusorischen Position der Stärke der Juden allein, als ob die jüdischen Arbeiter völlig abgeschlossen, total isoliert von den anderen Produktionszweigen arbeiteten. Man kann beim Ideologen der Poalei-Zion-Bewegung so etwas wie Sehnsucht nach der »spezifischen Funktion« antreffen, die die jüdischen Arbeiter in gewisser Hinsicht wegen der historischen Tradition des jüdischen »Klassen-Volks« bewahrt hatten. Am fragwürdigsten aber ist Borochows Unverständnis gegenüber den besonderen Erscheinungsformen des zusammenbrechenden Kapitalismus, und das Fehlen einer konkret sozialistischen Perspektive, um die Krise innerhalb der Gesellschaft lösen zu können. Anstatt die Genesis und das Wesen der Probleme der jüdischen Massen zu analysieren und sie im Rahmen der allgemeingesellschaftlichen Probleme zu betrachten, erheben die »marxistischen Zionisten« die nationale Konkurrenz zu einem Fetisch und verallgemeinern auf unzulässige Weise partielle Erscheinungen, die eigentlich einer bestimmten historischen Phase des Kapitalismus zugerechnet werden müssen. Wir sollten jedoch anerkennen, daß Borochow das Verdienst zukommt, das Problem der Umstellung der jüdischen Massen auf die Arbeit im Produktionssektor durchsichtig gemacht zu haben. Es handelt sich dabei aber keinesfalls um ein »jüdisches Problem«, sondern um eine weitaus allgemeinere Fragestellung: um die Integration bestimmter sozialer Gruppen in den Produktionsprozeß, die durch die wirtschaftliche Entwicklung ihre frühere ökonomische Funktion verloren haben.

Die jüdische Frage wird aber in gewisser Hinsicht zu oberflächlich betrachtet, als Ausgangspunkt, losgelöst aus ihrem sozio-ökonomi-schen Zusammenhang. Es ist kein Zufall, daß Borochow unfähig ist, etwas zur historischen Analyse des Überlebens des jüdischen Volkes beizutragen. Eine solche Untersuchung hätte die mystischen Grundlagen seiner zionistischen Überzeugungen in ein Nichts aufgelöst. Bezeichnend ist, daß seine Schüler den Fortbestand der jüdischen Gemeinschaft mit dem »Überlebenswillen« erklären oder als »historisches Rätsel« bezeichnen. [41]

Borochow erwähnte in einigen seiner Schriften die Fellachen Palästinas. Die Erwähnung der eingeborenen Bevölkerung dieses Landes stellt eine Besonderheit in der zionistischen Literatur der damaligen Zeit dar, für die es charakteristisch war, die Existenz der bereits ansässigen Bevölkerung zu leugnen. Es gibt Ausnahmen, wie Achad Haam (Asher Ginsberg), ein hebräischer Schriftsteller, der enttäuscht aus Palästina zurückkehrt und den Vorschlag macht, anstelle des Staats nur ein religiöses Zentrum zu gründen. Buber hat berichtet, wie sehr der Helfer Herzls, Max Nordau, durch die Entdeckung (!) erschüttert war, daß Palästina von Arabern bewohnt war, und daß die Zionisten an ihnen ein Unrecht begingen. [42] Borochow propagiert die Solidarität mit den Fellachen, achtet dabei aber besonders auf die praktischen Aufgaben der Kolonisation, die sich faktisch auf deren Kosten vollzieht. Seltsamerweise scheint dieser fanatische Gegner der Assimilation der Juden zu glauben, daß es den palästinensischen Arabern gelingen werde, sich in die zionistische Gesellschaft zu integrieren. Er schreibt 1906, daß die Integration der Araber in das jüdische Wirtschaftsleben und in die Politik es ermöglichen werde, einen solidarischen Kampf gegen die Türken zu führen. [43]

«Verwirrt durch das Argument, daß der Zionismus mit Notwendigkeit auch die Unterdrückung der Araber bedeute, antwortet Borochow, daß dank der neuen Arbeitsmethoden Platz für alle vorhanden sein werde, und daß sich die Beziehungen zwischen Juden und Arabern »normal« gestalten werden. [44] Die Ansichten Borochows haben seine Anhänger grundlegend beeinflußt. Seine Partei, die Poale-Zion, wird sich vergeblich um den Anschluß an die Kommunistische Internationale bemühen, die allerdings den Anschluß von Bedingungen abhängig macht, die für die Zionisten unannehmbar sind. Die weitere Entwicklung der zionistischen Linken führt zwangsläufig zu ihrer allmählichen Kapitulation vor der nationalen Bourgeoisie. 

Anmerkungen

1) RoTH, vgl. S. 134-135.

2) Wir stützen uns hei diesem Abriß der Entwicklung des palästinensischen Judentums in der Epoche des Talmud auf die ausführliche Untersuchung von Michael Avryonah, Geschichte des Judentums im Zeitalter des Talmud, Berlin 1962. Ebenso kann man die veraltete aber interessante Arbeit von G. Hölscher, Die Geschichte der Juden in Palästina seit dem Jahre 70 n. Chr., Leipzig 1909, heranziehen.

3) lkon, a.a.O. S. 32.

4) S. W. baron, Histoire d'Israel, Bd. V, Paris 1964, S. 209.

5) ROTH,a.a.O.S.458.

6) jacob RECZWIK, LeDuc Joseph de Naxos, Paris 1936, S. 131-136.

7) leon, a.a.O. S. 91.

8) I. tabenkin, Chemins et detour de la Renaissance juive, Paris 1948, S. 65—66.

9) Vgl.: S. M. dubnow, Die neueste Geschichte des jüdischen Volkes Bd. III, Berlin 1923, S. 383-384; J. S. hertz, The Jewish Labour Bund; A Pictorial History 1897-1957, New York 1958, S. 187-193.

10) lenin, An die jüdischen Arbeiter, a. a. 0. S. 28.

11) lenin, , Kritische Bemerkungen zur nationalen frage, a. a. 0. S. 144.

12) Siehe auch die von Stalin zitierten Beispiele in: Der Marxismus und die Nationalfrage (1903), Moskau 1954, S. 61.

13) ber borochow, Wie kann die Verdrängung der jüdischen Arbeiter gesteuert werden, in: Sozialismus... S. 216—217. (Alle Borochow-Zitate aus dem Französischen rückübersetzt - Anm. d. Hrsg.)

14) lenin, An die jüdischen Arbeiter, a. a. 0. S. 26f.

15) Bei der Analyse der Vorstellungen von Hess stützen wir uns auf Edmund Silberner, Moses Hess, Geschichte seines Lebens, Leiden 1966; auf den von Hess' Biographen herausgegebenen >Briefwechsel<, La Haye 1959; und auf die Studie von Alexandre Manor, Le sionisme—socialisme, Tel-Aviv o. J., S. 9—31.

16) silberner, a.a.O. S. 3 93 und 3 98.

17) Ebd. S. 402, Anm. 3 (Hess-Zitat nach: »Rom und Jerusalem, die letzte Nationalitätenfrage, in: Moses Hess, Ausgewählte Schriften, hrsg. Horst Lademacher, Köln 1962, S. 282).

18) Ebd.S. 414.

19) silberner, Briefwechsel, S. 513-514.

20) hess, a.a.O. S. 289.

21) baruch hagani, Le sionisme politique et son fondateur Theodore Herzl (1860-1904), Paris 1918, S. 254.

22) Ebd.S. 48.

2)3 theodor herzl, Der Judenstaat (1896), 12. Aufl., Jerusalem 1970, S. 28.

24) Der Text des Programms von Basel wurde dem Buch von Israel Cohen, Le mouvement sioniste, Paris 1946, S. 7 entnommen.

25) Ebd.S. 17.

26) jacob zinemann, Histoire du sionisme, Paris 1950, S. 177.

27) cohen, a. a. 0. S. 75-76; martin buber, Israel und Palästina, Zürich 1955, S. 170 und 174 (Verhandlungen Herzls mit Chamberlain über eine eventuelle Kolonisation Zyperns); hagani, a.a.O. S. 180-183; andre chouraqui, Theodore Herzl, Paris 1960,S.274.

28) ROTH,a.a.O.S.463.

29 leon, a.a.O. S. 104.

30 leon,ebd.

31) A. deutsch, Manuel d'intruction religieuse israelite, Paris 1958, S. 137.

32) leon, a.a.O. S. 106.

33) leon pinsker, Autoemanäpation (1882), Jerusalem 1956, S. 37.

34) hagani, a. a. 0. S. 165; Hervorhebung durch den Autor - N. W. Diesen Grundsatz anwendend, veröffentlicht Herzl mit Zustimmung der Redaktion mehrere Artikel in der Zeitung >La Libre Parole<, einer notorisch antisemitischen Wochenschrift Vgl.: bill hillier, Israel andPalestine, London 1968,S.9.

35) bein, zitiert von Leonhard Stein, The Balfour Declaration, London 1963, S. 325.

36) Vgl. zeew ben schlomo, Soviets and Zionism, The Wiener Library Bulletin Bd XX, Nr. l (Winter 1965-1966) S. 7ff.

37) ber borochow, Die wirtschaftliche Entwicklung des jüdischen Volkes, in: Sozialismus und Zionismus, S. 23ff., und »Die Grundlagen des Poale-Zionismus« ebd.

38) Grundlagen a.a.O. S. 149. Dieser Ausschnitt ist in der Zusammenfassung des Buches mit dem Titel »Die Ideologie der Poale-Zionisten« überschrieben. Diese Zusammenfassung wurde als Anhang der Schrift »Klasse und Nation«, Schweiz 1945 (o. 0.) veröffentlicht.

39) Grundlagen a. a. 0. S. 142 und Die Ideologie .. ., a. a. 0. S. 68.

40) »Klasse und Nation «, a. a. 0. S. 53.

41) Vgl. D. barnir, Die Juden, der Zionismus und der Fortschritt in: Der israelischarabische Konflikt, Darmstadt 1969, S. 250.

42) R. J. Zwi werblowsky, Israel und Eretz-Israel in: Der israelisch-arabische Konflikt, Darmstadt 1969,S. 237.

43) Grundlagen... S. 151.

44) Palästina in unserem Programm und in unserer Taktik (1917) in: Sozialismus und Zionismus, S. 259.

Editorische Anmerkungen

Der Text wurde von der Red. trend gescannt. Als Vorlage diente "Das Ende Israels?" 1975 Berlin-West, S. 27-50. Bei diesem Buch handelte es sich um eine auszugsweise Übersetzung von „Le Sionism contre Israel" (Der Zionismus gegen Israel), dessen frz. Neuherausgabe vom Autor jetzt untersagt wurde.

"Das Ende Israels?" wurde übersetzt und bearbeitet von Eike Geisel und Mario Offenberg und in der Politikreihe (Nr. 61) bei Wagenbach 1975 in Westberlin herausgegeben. Es unterscheidet sich vom Originaltext, der 1969 erschienen, folgendermaßen:

"Zur editorischen Technik dieser Ausgabe sei noch folgendes vermerkt: es erwies sich aus mehreren Gründen als undurchführbar, die umfangreiche französische Originalausgabe ohne größere Kürzungen in deutscher Übersetzung herauszubringen. Der Mühe, sich komplizierte gesellschaftliche Prozesse begrifflich und historisch anzueignen, entsagt, wer einer um sich greifenden Tendenz sich unterwirft, die den Horizont der Aufklärung auf Umfang und Inhalt von Schulungsheften festschreibt. Der fortschreitende politische Analphabetismus, der auch für die hier untersuchten Fragen nur eine Handvoll erstarrter Formeln parat hat, ist Ausdruck dieser Entwicklung. Wichtige Bücher sind leider oft auch dicke Bücher. Weshalb die deutsche Fassung nun so drastisch ihres ursprünglichen Umfanges beschnitten ist, hat seinen Grund in der Logik des Marktes, gegen die ein progressives Verlagskonzept wenig ausrichtet. Vor der Alternative: Schublade oder Kürzung entschieden wir uns einmal für die vom Autor selbst mit erstellte Zusammenfassung von Teil II (die aus einer spanischen Ausgabe übernommen und mit geringfügigen Korrekturen versehen wurde) und eine kürzende Bearbeitung von Teil I. Die Kürzungen betreffen in der Hauptsache die Auseinandersetzung mit in der Tendenz gleichen, in der Nuancierung aber unterschiedlichen Interpretationen zionistischer Autoren, zum anderen eine ganze Reihe von aufgeführten Belegen. Wir hoffen, daß durch diese Beschränkung der wissenschaftliche Charakter und die Anschaulichkeit der Untersuchung von Weinstock keine entscheidende Einbuße erleiden. Eigennamen, politisch-organisatorische Termini, Institutions- und Ortsbezeichnungen wurden transkribiert aus dem Hebräischen bzw. Arabischen, und - soweit erforderlich - durch von den Herausgebern in Klammem eingefügte Erläuterungen erklärt. Nach Möglichkeit haben wir versucht, Zitate Weinstocks aus deutschen Quellen nach den Originalen zu zitieren, in anderen Fällen aber zugängliche deutsche Ausgaben zu benutzen. Der Anhang des französischen Originals (u.a. über marxistische Theoretiker zur Judenfrage, Grundsatzerklärungen von der I.S.O.-Matzpen) wurde nicht übernommen." (S.26)