Die Entstehungsgeschichte Israels von 1882-1948

von Nathan Weinstock

02/04
 

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4. Die Anfänge der zionistischen Ansiedlung in Palästina

Lange schon vor ihrer Realisierung taucht die Idee, jüdische Bauernkolonien in Palästina zu gründen, in zahlreichen Köpfen auf. Es ist verständlich, daß die erniedrigende Abhängigkeit des jüdischen Gemeinwesens in Palästina von der Unterstützung nach außen den Gründern als zu gefährlich erschien. Sir Moses Montefiore, der im Laufe seines Lebens zahlreiche Reisen ins Heilige Land unternommen hat, erwirbt dort 1855 ein Stück Land, das er zur Kolonisierung vorsieht. 1870 gründet ein Repräsentant der Alliance Israelite Universelle eine Landwirtschaftsschule in der Nähe von Jaffa, Mikve-Israel. Schließlich kaufen fromme Juden aus Jerusalem 1878 Land bei Umlebes, dem späteren Petach-Tikva. Dennoch wird es erst 1882 so weit sein, daß die ersten Bauernkolonien sich tatsächlich ansiedeln. Die Pioniere der ersten Welle jüdischer Kolonisierung stammen aus Rumänien und Rußland. So begeistert und guten Willens sie auch sein mögen, so fehlen ihnen doch die einfachsten Grundkenntnisse der Landwirtschaft. Die klimatischen und geographischen Bedingungen sind hart, die Obrigkeit feindselig, die neuen Einwanderer müssen sich gegen Straßenräuber zur Wehr setzen. Die Kolonien verschulden immer mehr.

Unter solchen Bedingungen wird die zionistische Besiedlung sehr t schnell zur Katastrophe. Schon 1882, im ersten Jahr der Einwande-|rung, sind die Siedler gezwungen, das Ausland um Hilfe zu ersuchen. Dieser Hilferuf findet Gehör bei Baron Edmund de Rothschild, der sich bereit erklärt, den Großteil der Siedler von 1882/83 an unter j seinen Schutz zu nehmen.

Doch die Protektion des Wohltäters erweist sich sehr bald als eine große Belastung.

Die Tatsache, daß die Siedler nicht in der Lage sind, sich aus eigener KKräft über Wasser zu halten, hat nichts Erstaunliches. Die Kosten für i die Gründung einer Familie betragen mehrere Tausend Goldfranken. l^milanski berichtet, daß Rothschild mehrere hundert schwarze Arbei-|ter aus Ägypten kommen läßt, um die Trockenlegung der Sümpfe von Hadera durchführen zu können, [1] und der Baron stellt sehr schnell fest, daß es sich hier um ein äußerst ^kostspieliges Unternehmen handelt.

Die patriarchalische Phase Rothschild dauert bis 1899. Zu diesem Zeitpunkt sind die Kolonien noch nicht imstande, eine unabhängige Existenz zu führen. Aus dieser Kindheitsphase des Zionismus lassen sich mehrere Lehren ziehen. Die wichtigste ist wohl die, daß die ^Kolonisierung eines armen Landes durch Einwanderung aus Europa »licht möglich ist ohne die tatkräftige Hilfe von außen. 1900 stellt Achad Haam fest, daß 360 Familien durch den Baron unterstützt worden sind: seine Gesamtausgaben belaufen sich auf vier Millionen Francs. Dank der Unterstützung durch Rothschild sind zu Beginn des Jahrhunderts in Palästina 19 jüdische Siedlungen und eine landwirtschaftliche Schule auf einer Fläche von 275 000 dunams und einer Einwohnerzahl von 4983 entstanden. [2]

Aber wie menschenfreundlich auch immer, ist der Baron doch vor allem ein gerissener Kapitalist. So äußert sich seine väterliche Fürsorge beispielsweise in der Einführung einer bürokratischen Verwaltung, die die Kolonien in bester kolonialer Tradition regieren soll: »Jeder Siedler verpflichtet sich, nach besten Kräften zu arbeiten und der Verwaltung zu gehorchen.«[3] 1887 und 1888 brechen Revolten aus. Die Siedler erheben sich gegen die Repräsentanten der Verwaltung. Die Bevollmächtigten wenden sich an Polizei und Militär, weisen die Unzufriedenen aus und erzwingen die Unterwerfung der ändern durch die Drohung, der Baron werde ihnen die Unterstützung entziehen. [4] Die »Umklammerung« der Kolonien durch den Baron erzeugt heftige Konflikte mit der Verwaltung, aber ebenso eine durch die ständige Subventionierung bedingte, weitverbreitete Korruption. Die Idealisten von ehedem bürgern sich ein, schicken ihre Kinder nach Frankreich, um deren Erziehung zu vervollständigen, und, was das wichtigste ist, sie werden zu Pflanzern. [5]

Arabische Arbeitskraft ist so billig, daß es unklug wäre, das Land selbst zu bearbeiten! Deshalb kann Achad Haam, als er die jüdischen Kolonien besucht, feststellen, daß Pächter auf den Gehöften sitzen. In Yessod-Hamaale z.B. lassen 32 Siedler 50 Fellachenfamilien sich in ihrem Dienst abrackern. Dennoch entwickelt sich die Kolonisation, hauptsächlich auf den Weinanbau gestützt.

Die Periode Rothschild geht 1900 zu Ende, als der Baron die Kolonien, deren Schutzherr er war, an die Jewish Colonization Association (J.C.A.) des Barons Maurice de Hirsch überträgt. Dank der Hilfe Rothschilds hat die zionistische Kolonisierung solide Grundlagen erhalten. Nicht ganz ohne Grund geben ihm die Zionisten den Titel »Vater des Yischuw« (das jüdische Gemeinwesen in Palästina). Und dennoch ist Rothschild kein Zionist. In seinen Augen sind die jüdischen Siedler einfach geeignet, französischen Interessen zu dienen. Ohne seine Investitionen wäre die jüdische Kolonisierung zum Scheitern verurteilt gewesen. Welcher Einwanderer wäre wohl imstande gewesen, die Einfuhr von Eukalyptus zu finanzieren, um die Sümpfe zu entwässern?

Von 1900 bis 1914 vollzieht sich die zionistische Kolonisierung unter drei Aspekten: die Errichtung neuer, auf Getreideanbau eingestellter Bauernkolonien, die vom J.C.A. finanziert wurde; die ersten Schritte zu einer planvollen Kolonisierung, die durch die Zionistische Organisation eigenhändig in die Wege geleitet wurde; der Aufbau von Orangenpflanzungen durch jüdisches Privatkapital. In allen drei Fällen erfordert die zionistische Kolonisierung beträchtliche Ausgaben. Die Kosten für die Ansiedlung einer Familie betragen einige tausend Pfund Sterling. Überdies kann der europäische Siedler mit gehobenem Lebensstandard auf dem Gebiete der Produktion von Gemüse, Eier und Geflügel nicht mit dem genügsamen und fleißigen Fellachen konkurrieren. Seine Stärke ist es vielmehr, neue Bereiche zu schaffen, wie z.B. eine intensive und mechanisierte Landwirtschaft; gerade die aber erfordert Kapital. [6] Gemäß der objektiven Tendenz des Profits kommen die jüdischen Bauern folgerichtig dahin, die Arbeitskraft der einheimischen Bauern auszubeuten. Und das um so mehr, als die J.C.A. »zwar jedem Bauernhof große Parzellen Land zugeordnet hatte, es jedoch versäumt hatte, die Bauern mit modernen landwirtschaftlichen Geräten auszustatten«. [7]

Mit anderen Worten, hier ist ein Prozeß zu beobachten, der sich in Palästina periodisch wiederholt: die sozio-ökonomischen und politischen Realitäten gewinnen die Überhand über den zionistischen Voluntarismus; Die jüdischen Einwanderer, die 1904 im Gelobten Land ankommen, »sehen, daß die jüdischen Kolonien nur dem Namen nach jüdisch waren, und daß in Wirklichkeit auf einen Juden etwa zehn Araber kamen«. [8]

Und nach dem klassischen Siedlungsmechanismus wird jüdisches Land bearbeitet von der Klasse arabischer Bauern ohne Land, die sich nach dem Ankauf von Land durch die Zionisten erheblich vergrößert. Hier die Beschreibung einer jüdischen Siedlung in Palästina im ersten Jahrzehnt des zwanzigsten Jahrhunderts, die ein zionistischer Siedler gegeben hat: [9]

»Auf dem großen Marktplatz in der Nähe der Arbeiterunterkünfte versammeln sich Hunderte von Arabern; sie warten hier seit Sonnenaufgang. Es sind Saisonarbeiter. Unter ihnen befinden sich zahlreiche der festangestellten arabischen Arbeiter, die auf dem Bauernhof der Siedler wohnen und direkt zu der Orangenpflanzung gehen. Zusammen sind es jeden Tag etwa 1500. Und wir, einige-zig jüdische Arbeiter bekommen oft keine Arbeit. Auch wir kommen zum Markt und lauern darauf, daß man uns einen Tag Arbeit anbietet. Und dann kommt der Arbeitgeber, ein Sohn deines Volkes. Er reitet auf einem Esel, satt und selbstzufrieden. Er hält eine Peitsche in der Hand, seine Sprache ist roh, er ist ganz in weiß gekleidet.« Wenn das zionistische Unternehmen auf dieser Basis forgeführt worden wäre, wäre es ganz natürlich auf eine der typischen kolonialen Situationen hinausgelaufen, wie in Algerien oder Rhodesien. Aber genau hier tritt ein Faktor ins Spiel, der die Situation grundlegend ändern soll. Die zionistischen Siedler und die jüdischen Einwanderer werden Gegner auf der Suche nach Arbeit. Der anspruchsvolle westüdische Landarbeiter mit gehobenem Lebensstandard hat keine Chance, sich durchzusetzen gegen die Masse der arabischen Proletarier, die ihre Arbeitskraft verkaufen. Und selbst wenn es ihm gelänge, müßte er einsehen, daß er, der keine landwirtschaftlichen Erfahrungen hat, ungeschickt und unbeweglich ist. 1904 setzt die zweite Welle zionistischer Einwanderung ein und verstärkt sich nach dem Scheitern der russischen Revolution, die zahlreiche junge Juden dem Zionismus zuführt (das Zusammentreffen einer Periode der Niederlage in der Arbeiterbewegung mit der Verstärkung der zionistischen Bewegung ist wohl bezeichnend). Die jungen zionistischen Pioniere, stark beeinflußt durch die russischen Volkstümler und den Zionisten und Tolstoi-Anhänger Aaron David Gordon, predigen die Rückkehr zur Scholle.

Diese Einwanderer gehören zum großen Teil zu der jüdischen Jugend kleinbürgerlicher Herkunft, die gezwungen war, Osteuropa aus Mangel an Arbeitsplätzen in ihren jeweiligen Heimatländern zu verlassen. Noch 1927 stellt die jüdische Arbeiterklasse in Palästina eine außerordentliche Besonderheit dar, insofern nämlich, als sie sich zu 44% aus Arbeitern zusammensetzt, die auf Universitäten, Oberschulen und Fachschulen studiert haben. Ein Prozentsatz, der unter den Arbeitern der landwirtschaftlichen Gruppen sogar 57% erreicht. [10] Bestürzt über die Wendung, die die zionistische Kolonisierung genommen hat, und ihre Pläne zunichte macht, »beschließen sie, die jüdische Kolonie - diese einzige Verwirklichung des Zionismus - zu retten, indem sie die jüdische Arbeit wiedereinführen«. [11] Ihre Losung ist »Kibbusch Haawoda« die Eroberung der Arbeit. Dieser Richtungswechsel ist von ganz entscheidender Bedeutung für die zionistische Kolonisierung. Er läuft hinaus auf die Gründung einer jüdischen Arbeiterklasse, »die im weiteren Verlauf der Kolonisierung« [12] dadurch Gestalt annimmt, daß es ihr gelingt, nach und nach alle Zweige einer autarken Wirtschaft durch jüdische Arbeit in ihre Hand zu bekommen. Das bedeutet: eine jüdische Wirtschaft, die die Beschäftigung der Einwanderer nur dadurch sichert, daß sie die Araber ausschließt.

Die Ideen der Einwanderer sind jedoch nicht ohne Kampf durchzusetzen. In Petach-Tikva rufen die Siedler 1906 einen Generalboykott der jüdischen Arbeiter aus. Dieser Boykott ist eine Folge der politischen Auseinandersetzungen, die sich aus den zwei verschiedenen Konzeptionen vom Zionismus ergeben hatten: der Standpunkt des »reinen Kolonialismus«, der von den Siedlern vertreten wurde, und der der »Eroberung der Arbeit«, zentraler Bestandteil der Ideologie der zionistischen Arbeiter. Schließlich gewinnt der linke Flügel des Zionismus die Oberhand, und die Arbeiterkolonisierung erweist sich als die dominierende Richtung innerhalb der zionistischen Kolonisierung, und das nur dank der zionistischen Kapitalvorräte, deren wichtigste Funktion es ist, die Unterschiede zwischen jüdischen und arabischen Löhnen auszugleichen. In den zionistischen Bauernkolonien drängt der jüdische Arbeiter den Fellachen allmählich zurück. Die große Bedeutung dieser Umorientierung der Bewegung wurde von militanten israelischen Sozialisten hervorgehoben: »Als die organisierte zionistische Einwanderung sich zu Anfang dieses Jahrhunderts über Palästina zu ergießen begann, war es nicht mehr möglich, die überraschende Tatsache zu übersehen, daß das Land bereits bevölkert war. Wie jede andere Siedlungsgesellschaft mußten die zionistischen Siedler ihre Politik nach der einheimischen Bevölkerung ausrichten. Und hier kommen wir zu dem spezifischen Charakter des Zionismus, der ihn von allen anderen Kolonisierungsmodellen unserer Epoche unterscheidet. Die europäischen Siedler anderer Kolonien haben versucht, die Reichtümer der jeweiligen Länder auszubeuten (einschließlich des Arbeitskräftepotentials der >Eingeborenen<. Sie haben überall die vorhandene Bevölkerung in die proletarische Klasse einer neuen, kapitalistischen Gesellschaft verwandelt. Der Zionismus dagegen strebte nicht nur nach den Ressourcen Palästinas (die in jedem Fall nicht sehr bedeutend waren), sondern nach dem Land selbst, das zur Gründung eines neuen Nationalstaates dienen sollte. Diese neue Nation sollte ihre eigenen sozialen Klassen, und damit auch eine Arbeiterklasse, haben. Infolgedessen waren die Araber nicht dazu ausersehen, ausgebeutet, sondern in ihrer Gesamtheit ersetzt zu werden.

Die Kolonisierung Rothschild geriet nur in einem einzigen Punkt in Konflikt mit den Arabern: dem Besitz an Land. Der Baron kaufte das Land von den Feudalherren, manchmal nur dadurch, daß er die osmanische Verwaltung mit Schmiergeldern bestach, und verjagte die Fellachen von eben diesem Land. Die enteigneten Fellachen wurden dann als Landarbeiter in den Siedlungen des Barons angestellt, getreu dem üblichen Kolonisierungsablauf. Die zionistische Kolonisierung dagegen gab die Parole >jüdische Arbeit< aus, weil sie eine jüdische Arbeiterklasse als festen Bestandteil einer neuen Nation schaffen wollte. Sie propagierte manuelle Arbeit für die Angehörigen der Mittelschicht und bestand darauf, daß jüdische Arbeitgeber ausschließlich jüdische Arbeiter einstellten. Infolgedessen stießen die Zionisten nicht nur auf den Widerstand der enteigneten arabischen Bauern, sondern auch auf den der Siedler des Barons, denen die viel billigeren arabischen Arbeitskräfte bedeutend lieber waren. Dieses Problem stand während der ersten drei Jahrzehnte des Jahrhunderts ständig im Vordergrund der Auseinandersetzungen innerhalb des jüdischen Gemeinwesens.«[13] Hinzukommt, daß der >Siedler< aus der Zeit Rothschilds häufig auf den Araber trifft, mit ihm arbeitet und ihn versteht, während der Chalutz (Pionier) kaum eine Beziehung zu den Palästinensern hat, schon allein auf Grund des Prinzips der getrennten Wirtschaft. Das wichtigste Instrument der landwirtschaftlichen Kolonisierung wurde durch eine Entscheidung des 5. zionistischen Kongresses (im Dezember 1901) geschaffen: der Keren Kayemet Leisrael (Jüdischer Nationalfonds). Der K. K. L. wird finanziert durch die individuellen Beiträge von Millionen jüdischer Familien überall in der Welt (die >kleirie blaue Kasse<) und nimmt die Tradition der Wohltätigkeitssammlungen für Palästina wieder auf. »Die Verwirklichung dieses Projekts setzt die Haupttriebfeder in Gang, die den gesamten Ablauf der Kolonisierung bestimmen wird.« [14] Die Aufgabe dieses Hilfswerkes ist es, den Ankauf von Land in Palästina zu zentralisieren. Der Grund und Boden, der auf diese Weise erworben wird, - die Transaktionen werden vom Jewish Colonial Trust durchgeführt - wird »unveräußerliches Eigentum des jüdischen Volkes«. Die Siedler erhalten Nutzungsrechte durch Erbpachtverträge. So wird jedes Stück Land, das im Hinblick auf die zionistische Kolonisierung erworben wird, für immer der Bodenspekulation entzogen.

Unterstützt durch die anderen Institutionen, die durch die zionistische Organisation aufgebaut worden sind,- die Anglo-Palestine Bank, die Palestine Land Development Company, der Keren Hayessod (Wiederaufbaufonds) -entfaltet der K. K. L. seine Aktivitäten von 1907/08 an in engem Zusammenhang mit der Arbeiterkolonisierung, die die vorwiegende Form der jüdischen Ansiedlung auf dem Lande wird. Die Bedeutung des jüdischen Nationalfonds liegt darin, daß nur diese Art und Weise des Erwerbs von Land, das zum unveräußerlichen jüdischen Nationaleigentum erklärt wird, »einer Gruppe von Arbeitern ohne alle finanziellen Mittel« auf Grund der günstigen Vertragsbedingungen »erlaubt, eine Siedlung zu gründen«. [15] Im Prinzip sehen die Pachtverträge über den »nationalen Grund und Boden« vor, daß die jeweilige Siedlerparzelle vom Bauern selbst, unter Ausschluß jeder fremden Arbeitskraft, bestellt werden muß. Dennoch scheint das Verbot der Lohnarbeit nicht immer befolgt worden zu sein.

Den berühmten Artikel 4 im Pachtvertrag des Keren Kayemet Leisrael, der »auf diesem Land die Beschäftigung von jüdischen Arbeitskräften vorsieht« kommentiert Granovsky (Granott), indem er seine Bedeutung folgendermaßen beschreibt: »(. . .) das Prinzip der Ausschließlichkeit jüdischer Arbeit wird diktiert durch die ökonomischen Notwendigkeiten. Der Unterschied zwischen dem Lebensstandard des jüdischen und dem des arabischen Arbeiters ist so groß, daß er eine ernsthafte Bedrohung der Interessen des jüdischen Arbeiters darstellt, der nicht in der Lage ist, gegen die Löhne der Araber anzukämpfen (. . .) Der jüdische Arbeiter braucht einen sicheren Arbeitsmarkt, unabhängig von rein kommerziellen Erwägungen, wie z.B. den von Lohnunterschieden.« [16] Aus der Verbindung zwischen der Revolte der neuen jüdischen Einwanderer gegen die Politik der »Pflanzer« und dem einzigartigen Grund-und-Boden-System, das der K.K.L. zugunsten der zionistischen Bauern aufgestellt hat, entsteht die Arbeiterkolonisierung. Gleichzeitig mit der zionistischen Kolonisierung treten die ersten Arbeiterorganisationen in Erscheinung. Bereits die Revolte von Rischon-Lezion im Jahre 1887 gegen den Verwaltungsapparat des Baron Rothschild wird von einer Arbeiterassoziation, der Agudat-Hapoalim, angeführt.

Weitere organisierte Gruppen, die die Drucker, die Lehrer, die Angestellten und die Metallarbeiter zusammenfassen, bilden sich von 1897 an überall. [17]

Inzwischen entwickeln sich in Europa von 1901 an die ersten Anfänge der Poale-Zion-Partei, die 1903 in Österreich-Ungarn gegründet wird. Der sie konstituierende Kongreß findet 1906 statt; 1907 schließt sie sich auf dem Stuttgarter Kongreß der Sozialistischen Internationale an. Die palästinensische Sektion der Bewegung tritt am l. Mai 1906 zum ersten Mal in Erscheinung; unter ihrer Fahne marschieren einige Dutzend von Arbeitern. Poale-Zion ist eine weltweit verbreitete zionistisch-sozialistische Partei. Dennoch tritt 1905 eine weitere zionistisch-sozialistische Partei in Palästina auf den Plan, die Hapoel-Hatzair (Der Junge Arbeiter), die kein Programm im eigentlichen Sinn hat, sondern die vielmehr die Erwartungen der jungen zionistischen Einwanderer bei der Arbeitssuche widerspiegelt. Aus dem Zusammenschluß dieser beiden Organisationen geht später die zionistische Sozialdemokratie hervor. Hier eine kurze Beschreibung der kolonialen Besonderheiten dieser Parteien, die ausschließlich jüdische Arbeiter in Palästina zum Schutz ihrer korporativen Interessen zusammenfassen.

Die zionistische Arbeiterbewegung löst, vor das Problem der Konkurrenz mit arabischer Arbeitskraft gestellt, diese Schwierigkeit, indem sie »eine neue jüdische Wirtschaft aufbaute, weil die alte ihr nicht zugänglich war«. [18]

Der Prozeß der Selbstkonstituierung einer jüdischen Arbeiterklasse vollzieht sich auf dem Hintergrund der Vertreibung arabischer Arbeitskräfte aus den jüdischen Siedlungen, durch den Aufbau einer neuen zionistischen Wirtschaft auf der Grundlage der Arbeiterkolonisierung mit Hilfe des K.K.L. und der ihm angegliederten Institutionen.

1907 wird der Haschomer (Wächter) gegründet, eine Organisation der jüdischen Garde, die die Ersetzung der nichtjüdischen Wächter zum Ziel hat, und zwar mit dem Slogan: »Jüdisches Eigentum kann nur durch Juden geschützt werden.« Das gelingt ziemlich schnell, zunächst in Galiläa, dann in Samaria und Judäa. Die Anfänge der zionistischen Streitmacht sind damit geboren. [19] Zu dieser Zeit werden auch die ersten Arbeitersiedlungen errichtet. 1908 erscheinen die ersten Kooperativdörfer (Moschawim, sing. Moschaw). Zwei Jahre später, nach einer Phase der Vorbereitung, gründet ein jüdisches Arbeiterkollektiv im Um-Junieh Degania, den ersten Kibbuz. Heute ist Kibbuz faktisch der Oberbegriff für alle zionistisch-kollektivistischen Siedlungen, die auf dem Prinzip des »Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen« aufbauen. Sie unterteilen sich in kibbuzim (plur. v. kibbuz) im eigentlichen Sinne und in die etwas kleineren kwutzot(smfkwutzd). Diese zwei Formen kollektivistischer Ansiedlungen - der Moschaw und der ausschließlich kollektivistische Kibbuz - sollen nach dem 2. Weltkrieg einen überwältigenden Aufschwung erleben. Während der Periode aber, mit der wir uns beschäftigen, behalten sie noch ihren experimentellen Charakter. 1914 sind bereits etwa 40 jüdische Siedlungen in Palästina zu finden; das jüdische Land umfaßt insgesamt mehr als 40000 ha; davon gehören 3,9% dem K.K.L., d.h., daß die jüdische Kolonisierung im wesentlichen den Charakter privater Aneignung bewahrt hat. Die jüdische Bevölkerung wird auf ungefähr 85 000 geschätzt, davon kommen 1200 Siedler auf eine Gesamteinwohnerzahl, die die halbe Million überschreiten muß. Man zählt zu diesem Zeitpunkt etwa 5 000 arabische Lohnarbeiter auf jüdischem Land. [20]

Dabei darf man nicht vergessen, daß die jüdische Bevölkerung nur ein Residuum ist: bis zu 90% der jüdischen Einwanderer der zweiten Einwanderungswelle haben das Land wieder verlassen, da sie den schwierigen Lebensbedingungen nicht gewachsen sind. [21] 1901 spricht sich der zionistische Kongreß in Basel für den Gebrauch der hebräischen Sprache in Palästina aus. Dieses Wiederaufleben der Bibelsprache ist weniger außergewöhnlich, als es auf den ersten Blick erscheint. Man kann in der Tat nicht sagen, daß das Hebräische eine wirklich tote Sprache geworden wäre. Abgesehen von seiner liturgischen Funktion - jeder praktizierende Jude betet auf hebräisch - ist es in allen jüdischen Gemeinschaften die Wahlsprache für Gerichtsakten und Literatur geblieben. Die hebräische Literatur, die im maurischen Spanien schon eine außerordentliche Blüte erlebte, hat in Osteuropa eine ganz offenkundige Erneuerung erfahren, al/s die Haskala-Bewegung (Aufklärung) zunächst in Mitteleuropa, dann im Osten, die ideologischen Mauern des mittelalterlichen Ghettos niedergerissen hatte (1780 bis 1880). Im Gegensatz zu dem, was gleichzeitig in Deutschland geschah, hält die Flut von Pogromen ganz eindeutig die allmähliche Integration der jüdischen Intelligenz in das allgemeine kulturelle Leben der Nation auf. Auf diese Weise ist das moderne Hebräisch im letzten Jahrhundert in Rußland entstanden, bevor die zionistische Bewegung in Erscheinung trat. Die hebräische Presse - die erste Zeitung wurde 1856 gegründet - und das hebräische Theater sind gleichermaßen Gründungen, die außerhalb von Palästina und lange vor den Anstrengungen von Elieser Ben-Yehuda vorgenommen werden, dem es später gelingen wird, den Gebrauch der biblischen Sprache im Yischuw einzuführen. Bialik, den man mit Recht als den größten der modernen hebräischen Dichter betrachtet, hat in Rußland gelebt.

Das israelische Nationaltheater Habima wird bis 1926 in Moskau aufgebaut. Das berühmteste Werk dieser Truppe, der Dibbuk von Ansky, ist in der UdSSR uraufgeführt worden, und zwar unter der Leitung von Wachtangow, einem Schüler Stanislawskis. Der Vorschlag des zionistischen Kongresses stützt sich gleichzeitig auf diese offenkundige Wiedergeburt der hebräischen Kultur in der intellektuellen jüdischen Elite Osteuropas und auf die Aktivität der jüdisch-palästinensischen Lehrer um Elieser Ben-Yehuda herum. 1892 fordern sie, daß alle Fächer auf hebräisch unterrichtet werden. Nach und nach wird Hebräisch zur Unterrichtssprache in Palästina; vorangetrieben wird dieser Vorgang dadurch, daß die zionistische Weltorganisation die Verwaltung des jüdisch-palästinensischen Schulsystems übernimmt. 1913 stellt die Bewegung zur Erneuerung der hebräischen Sprache ihre Vitalität unter Beweis: als nämlich die deutschen Juden vorschlagen, in dem von ihnen in Haifa gegründeten Technischen Institut deutsch als Unterrichtssprache einzuführen, werden die Schulen des Hilfsvereins boykottiert. Der Waad Hachinuch (zionistischer »Erziehungsrat«) nimmt alle bereits existierenden jüdischen Schulen in seine Hand. Von jetzt ab ist hebräisch die einzige Unterrichtssprache. Die Gründung eines hebräischen Schulsystems hat weitgehend dazu beigetragen, die verschiedenen jüdischen Einwanderergruppen zu vereinheitlichen. Nach einer während des l. Weltkriegs im jüdischen Gemeinwesen von Palästina (ohne Jerusalem) erhobenen Statistik sprechen 53,7% der palästinensischen Juden hebräisch. Darüber hinaus verrät diese Untersuchung, daß der Anteil je nach nationaler Herkunft schwankt (er ist besonders hoch onter den Westjuden europäischer Herkunft) und unter den Jugendlichen am höchsten ist. Der Prozeß der Hebräisierung ist also auf bestem Wege. [22]

Eine weitere Wandlung des Yischuw, die sich von der Jahrhundertwende an unter dem Einfluß zionistischer Einwanderung vollzogen hat, verdient Aufmerksamkeit, denn sie wird schwerwiegende Konsequenzen haben. Neben den Pionieren und den Landarbeitern entsteht im Innern der jüdischen Bevölkerung eine neue soziale Schicht, die sich grundlegend von dem alten Fundament des jüdischen Gemeinwesens unterscheidet. Dieses setzte sich im wesentlichen aus den Empfängern der Chaluka, aus armen Handwerkern und aus Kleinkrämern ' zusammen, während jetzt immer mehr Großhändler, Industrielle und Angehörige freier Berufe die Reihen der jüdischen Städter füllen. Sie werden eines Tages nicht weniger schwer auf dem Schicksal des Yischuw lasten, als die chalutzim aus dem goldenen Märchen. [23]

Anmerkungen

1) Nach NEVILLE BARBOUR, Nisi Dommus, A Survey of the Palestine Controversy, London 1946, S. 115.

2) Diese Angaben sind größtenteils der Studie von ISRAEL MARGALITHentnommen: Le baron Edmond de Rothschild et la colonisation juive en Palestine 1882-1889, Paris 1957, besonders S. 141 und 142.

3) Ebd. S. 93.

4) Ebd.S.lllff.

5) ZINEMAN, a.a.O. S. 68.

6) RUPPIN,a.a.O.I,S.421.

7 >Formes et Tendances de la Colonisation en Israel<, Ed. de la Terre Retrouvee, Paris 1950, S. 9.

8) D. KALAYI, >La deuxieme alyah< in Le mouvement ouvrier juif en Israel, edite par le Merkaz-Hechalouts de France, o. 0.1949, S. 55-56.

9) Ebd. S. 57.

10 Statistik zitiert nach E. VANDERVELDE, Le pays D'lsrael. Un marxiste en Palestine, Paris 1929, S. 31.

11) KALAYI, a.a.O. S. 56.

12) I. TABENKIN, Le caractere de notre mouvement, in Le mouvement ouvrier . .., S. 28.

13) The Palestine Problem. Theses Submitted for Discussion to the Israeli Socialist Organization, August 1966. Deutsch: Das andere Israel. Zum Palästinaproblem, in: Sozialistische Politik, Nr. 2, Berlin 1969, S. 58 f. (Hrsg.: matzpen, Tel Aviv)

14) ADOLF BÖHM, Le Keren Kayemet Leisrael, Paris o. D. (1931), S. 31.

15) Formes et Tendances..., S. 14.

16) GRANOWSKY in La Palestine de Balfour ä Bevin. Declarations et Documents, Paris 1947,S. 277-278.

17) SIONA MEIR, Le mouvement ouvrier (Collection »Israel Aujourd'hui«), Jerusalem 1961,S.5.

18) I. TABENKIN, La mission colonisatrice de notre mouvement, in, Le mouvement ouvrier.. .,S. 157.

19) KALAYI, a.a.O. S. 70-71; M. MANDEL, Propos sur la Kvoutsa, Tel-Aviv o. D., S. 22; DAVID BEN GURION, Rebirth and Destiny of Israel, New York 1954, S.14-21.

20) STEIN, a.a.O. S. 85.

21) S. bei M. MANDEL, Propos sur la kvoutsa, S. 11.

22) R. BACHI, A Statistical Analysis of the Revival of Hebrew in Israel. Scripta Hierosolymitica, Vol. III, Jerusalem 1958, S. 179-247.

23) DUBNOW, a.a.O. S. 317-318.

Editorische Anmerkungen

Der Text wurde von der Red. trend gescannt. Als Vorlage diente "Das Ende Israels?" 1975 Berlin-West, S. 27-50. Bei diesem Buch handelte es sich um eine auszugsweise Übersetzung von „Le Sionism contre Israel" (Der Zionismus gegen Israel), dessen frz. Neuherausgabe vom Autor jetzt untersagt wurde.

"Das Ende Israels?" wurde übersetzt und bearbeitet von Eike Geisel und Mario Offenberg und in der Politikreihe (Nr. 61) bei Wagenbach 1975 in Westberlin herausgegeben. Es unterscheidet sich vom Originaltext, der 1969 erschienen, folgendermaßen:

"Zur editorischen Technik dieser Ausgabe sei noch folgendes vermerkt: es erwies sich aus mehreren Gründen als undurchführbar, die umfangreiche französische Originalausgabe ohne größere Kürzungen in deutscher Übersetzung herauszubringen. Der Mühe, sich komplizierte gesellschaftliche Prozesse begrifflich und historisch anzueignen, entsagt, wer einer um sich greifenden Tendenz sich unterwirft, die den Horizont der Aufklärung auf Umfang und Inhalt von Schulungsheften festschreibt. Der fortschreitende politische Analphabetismus, der auch für die hier untersuchten Fragen nur eine Handvoll erstarrter Formeln parat hat, ist Ausdruck dieser Entwicklung. Wichtige Bücher sind leider oft auch dicke Bücher. Weshalb die deutsche Fassung nun so drastisch ihres ursprünglichen Umfanges beschnitten ist, hat seinen Grund in der Logik des Marktes, gegen die ein progressives Verlagskonzept wenig ausrichtet. Vor der Alternative: Schublade oder Kürzung entschieden wir uns einmal für die vom Autor selbst mit erstellte Zusammenfassung von Teil II (die aus einer spanischen Ausgabe übernommen und mit geringfügigen Korrekturen versehen wurde) und eine kürzende Bearbeitung von Teil I. Die Kürzungen betreffen in der Hauptsache die Auseinandersetzung mit in der Tendenz gleichen, in der Nuancierung aber unterschiedlichen Interpretationen zionistischer Autoren, zum anderen eine ganze Reihe von aufgeführten Belegen. Wir hoffen, daß durch diese Beschränkung der wissenschaftliche Charakter und die Anschaulichkeit der Untersuchung von Weinstock keine entscheidende Einbuße erleiden. Eigennamen, politisch-organisatorische Termini, Institutions- und Ortsbezeichnungen wurden transkribiert aus dem Hebräischen bzw. Arabischen, und - soweit erforderlich - durch von den Herausgebern in Klammem eingefügte Erläuterungen erklärt. Nach Möglichkeit haben wir versucht, Zitate Weinstocks aus deutschen Quellen nach den Originalen zu zitieren, in anderen Fällen aber zugängliche deutsche Ausgaben zu benutzen. Der Anhang des französischen Originals (u.a. über marxistische Theoretiker zur Judenfrage, Grundsatzerklärungen von der I.S.O.-Matzpen) wurde nicht übernommen." (S.26)