Der Begriff der Klasse bei Marx

Von Kurt Gentz
02/05

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In den Marxschen Werken taucht der Klassenbegriff verhältnismäßig früh auf, obwohl Marx nie zu einer exakten Bestimmung dieses Begriffes gekommen ist. Bereits 1844 formulierte er in der Vorrede zur Kritik der Hegeischen Rechtsphilosophie die weltgeschichtliche Aufgabe der Klasse des Proletariats, und das 1847 erschienene Kommunistische Manifest begann mit den klassisch gewordenen Sätzen: „Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist Geschichte von Klassenkämpfen l)". Drei Jahre später äußert sich Marx in einem Brief an Weydemeyer (vom 5. März 1852) erneut zu dem Problem der Klassen. Er wendet sich gegen die Auffassung, als ob er die Existenz der Klassen entdeckt, ihre historische Entwicklung aufgezeigt und ihre ökonomische Anatomie dargestellt hätte, und sagt daran anschließend: „Was ich neu tat, war, nachzuweisen: 1. daß die Existenz der Klassen bloß an bestimmte historische Entwicklungskämpfe der Produktion gebunden sei, 2. daß der Klassenkampf notwendig zur Diktatur des Proletariats führe, 3. daß diese Diktatur selbst nur der Übergang zur Aufhebung aller Klassen und zu einer klassenlosen Gesellschaft bilde 2)". In seinen späteren ökonomischen Werken finden sich mehrfach Ausführungen über die Struktur des Klassenbegriffes, insbesondere der kapitalistischen Gesellschaftsordnung, ja, man kann mit Recht den ganzen Inhalt des „Kapitals" als eine Darstellung der Beziehungen der drei großen Klassen der kapitalistischen Gesellschaftsordnung charakterisieren. Doch eine gesonderte Darstellung des Klassenproblems blieb Marx versagt. Das letzte Kapital des 3. Bandes des „Kapitals", das „Die Klassen" betitelt ist, blieb unvollendet und ist für eine Analyse wenig ergiebig.

I.

Es soll im folgenden versucht werden, von den methodischen und ökonomischen Voraussetzungen des Marxschen Werkes her die Struktur seines Klassenbegriffes aufzuzeigen. Wir werden uns dabei nicht auf die Analyse des Klassenbegriffs der kapitalistischen Gesellschaftsordnung beschränken, sondern unsere Untersuchung entsprechend dem bekannten Satz im Kommunistischen Manifest, wonach die Geschichte aller bisherigen Gesellschaften eine Geschichte von Klassenkämpfen ist, auch auf die vorkapitalistischen Gesellschaftsordnungen ausdehnen.

Auf den ersten Blick scheint die Lösung dieser Aufgabe, einen auch für vorkapitalistische Gesellschaftsordnungen gültigen Klassenbegriff aus Marx' ökonomischen Werken abzuleiten, kaum möglich, denn Marx hat bekanntlich nicht Wirtschaftsgeschichte getrieben, sondern die ökonomischen Gesetze einer bestimmten, der kapitalistischen Gesellschaftsordnung untersucht. Daß die Lösung des gestellten Problems trotzdem möglich ist, ergibt sich aus der ganzen wissenschaftlichen Grundhaltung Marxens. Nach ihm stellt die Analyse der kapitalistischen Gesellschaftsordnung zugleich die Untersuchung der dieser Gesellschaftsordnung vorhergehenden Formationen der Gesellschaft dar. „Die bürgerliche Gesellschaft ist die entwickelste und mannigfaltigste historische Organisation der Produktion. Die Kategorien, die ihre Verhältnisse ausdrücken, das Verständnis ihrer Gliederung, gewährt ihr zugleich Einsicht in die Gliederung und die Produktion aller der untergegangenen Gesellschaftsformen, auf deren Trümmern und Elementen sie sich aufbaut" 3). Diese Einsicht in die Struktur der Kategorien der kapitalistischen Gesellschaftsordnung bedeutet durchaus nicht, „alle historischen Unterschiede verwischen und in allen Gesellschaftsformen die bürgerlichen sehen" 4). Die Annahme, daß mit der theoretischen Durchleuchtung der modernen Gesellschaftsordnung zugleich alle ihr vorhergehenden Gesellschaftssysteme verständlich werden, findet auch in der Auffassung Marxens vom Verhältnis der Begriffe zur Wirklichkeit ihre Stütze 5). Nach ihm „entsprechen die Gesetze des abstrakten Denkens, das vom Einfachsten zum Kombinierten aufsteigt, dem wirklichen historischen Prozeß" 6). Marx ist im „Kapital" bekanntlich auch so vorgegangen, daß er einige abstrakte ökonomische Kategorien entwickelte, um von ihnen aus zu immer konkreteren Begriffen aufzusteigen. Das ist nach seinem Ausdruck „offenbar die wissenschaftlich richtige Methode" 7). Von diesem methodischen Standpunkt aus muß auch der Versuch, das „ökonomische Bewegungsgesetz der modernen Gesellschaft zu enthüllen" 8), zugleich eine Darstellung der ökonomischen Gesetze früherer Gesellschaftsordnungen und der ihnen entsprechenden Kategorien sein.

Marx knüpfte mit seiner Kritik der politischen Ökonomie an die Ergebnisse der klassischen Nationalökonomie an. Diese Kritik der Resultate der damaligen Wirtschaftstheorie bedeutete einmal die Aufzeichnung der allen Wirtschaftsordnungen gemeinsamen Elemente und der ihnen entsprechenden Kategorien und die Einsicht, daß diese abstrakten Elemente des Produktionsprozesses in bestimmten historischen Erscheinungsformen auftreten müssen, also historische, sich wandelnde Kategorien sind. Er macht der politischen Ökonomie seiner Zeit den Vorwurf, sie habe „niemals auch nur die Frage gestellt, warum dieser Inhalt jene Formen annimmt" 9), und sagt in bezug auf die wahren Aufgaben der Wissenschaft, daß sich nur die Erscheinungsformen des ökonomischen Lebens als gang und gäbe Denkformen reproduzieren, während der Hintergrund, das Wesentliche ihrer Erscheinungsformen, erst durch die Wissenschaft entdeckt werden muß 10). „Alle Wissenschaft wäre überflüssig, wenn die Erscheinungsform und das Wesen der Dinge unmittelbar zusammenfielen" 11). Mit dieser Annahme, daß die Erscheinungen des sozialen Lebens und die diesen Erscheinungen entsprechenden Begriffe nicht unmittelbar das Wesen der Dinge ausdrücken, wird von Marx selbst der Beweis der Richtigkeit seiner Theorie der Ideologie im Rahmen seines Systems zu führen versucht. Die Menschen vermögen als Repräsentanten der ökonomischen Kategorien nicht, diese Formen theoretisch und praktisch zu bewältigen. Sie vermögen nicht, zu ihrer „inneren wesentlichen, aber verhüllten Kerngestalt und dem ihr entsprechenden Begriff" 12) vorzudringen, sondern handeln auch als Klasse mit einem falschen Bewußtsein, das erst mit dem Auftreten der Klasse des Proletariats zum wirklichen „Bewußtsein" wird 13).

II.

„In Gesellschaft produzierende Individuen - daher gesellschaftlich bestimmte Produktion der Individuen - ist natürlich der Ausgangspunkt"14). Denn „der Mensch ist im wahrsten Sinne ein Zoon politicon, nicht nur ein geselliges Tier, sondern auch ein Tier, das nur in der Gesellschaft sich vereinzeln kann" 15). Der Gedanke der gesellschaftlichen Produktion wird zugleich mit dem Sinn verbunden, daß die Gesellschaft in ihren verschiedenen historischen Erscheinungsformen den Individuen gegenüber das Übergreifende, die Totalität, bedeutet. Das Ausgehen von der Totalität der gesellschaftlichen Produktion ist entsprechenden dem von Marx vertreten Identitätsstandpunkt sowohl methodische Voraussetzung des Forschers als auch inhaltliche Erkenntnis des Objektes der Forschung. Die Begriffe eines Gesamtarbeiters, der Gesamtarbeitszeit, des Gesamtproduktes, des Gesamtwertes usw., die bei Marx immer wiederkehren, haben daher nicht nur methodische Bedeutung, sondern sind gleichzeitig Ausdrücke für die Tatsache, daß die Gesellschaft als das Übergreifende das Denken und Handeln der einzelnen Gesellschaftsmitglieder bedingt 16).

Unter dem Begriff der gesellschaftlichen Produktion wird nicht nur der technische Prozeß der Hervorbringung von Gebrauchsgütern verstanden, sondern dieser Begriff umfaßt sowohl die Produktion in technischer Beziehung, als auch die Distribution, die selbst wieder in die Verteilung der Produktionsmittel und die der Produkte erfällt, die Konsumtion und in entwickelten Gesellschaftsordnungen den Austausch. „Das Resultat, wozu wir gelangen, ist nicht, daß Produktion, Distribution, Austausch, Konsumtion identisch sind, sondern daß sie alle Glieder einer Totalität bilden, Unterschiede innerhalb einer Einheit. Die Produktion greift über, sowohl über sich in der gegensätzlichen Bestimmung der Produktion, als über die anderen Momente"17).

Im Mittelpunkt der gesellschaftlichen Produktion steht der Prozeß der Hervorbringung von Gütern, der als Stoffwechselprozeß Naturgesellschaft fortwährende Verausgabung menschlicher Arbeitskraft erheischt. Die menschliche Arbeit ist die Basis jeder Gesellschaftsordnung. Sie ist die umwälzende menschliche Praxis, ist Ausdruck der Aktivität der. Gesellschaft, und neben der Natur „ewige" Voraussetzung jeder Gesellschaftsordnung, unabhängig von ihrer bestimmten historischen Gestalt 18). Der Begriff der Arbeit, der im Mittelpunkt des „Kapitals" steht, zeigt die gleiche Struktur wie alle anderen ökonomischen Kategorien bei Marx. Er ist kein Dingbegriff, sondern ein Funktionsbegriff, der seine inhaltliche Bestimmtheit sowohl durch die Beziehung auf die individuelle Produktion als auch durch die Beziehungen auf die Totalität der gesellschaftlichen Produktion erhält. Der Mensch produziert nicht nur, indem er in Kontakt mit der ihn umgebenden Natur tritt, sondern er geht im Produktionsprozeß zugleich bestimmte Beziehungen zu allen übrigen Mitgliedern der Gesellschaft ein. Er steht in bestimmten Produktionsverhältnissen. Deshalb zeigt sich auch erst in Beziehung zur Gesellschaft die dialektische Natur der Arbeit. Vom Standpunkt des Individuums, also isoliert betrachtet, bedeutet die materielle Produktion Verausgabung individueller, konkreter Arbeit zur Schaffung von Gebrauchsgütern bestimmter Art, während ihre Verausgabung, vom Standpunkt der Gesellschaft gesehen, Wertschaffungsprozeß ist, unabhängig von der Form der Gebrauchswerte der Güter. Die vielen Teilarbeiten der Mitglieder eines Gesellschaftsorganismus sind nur als Funktionen im Rahmen und zur Erhaltung des Gesellschaftskörpers wertschaffend. Sie sind aliquote Teile der Gesamtarbeitskraft der Gesellschaft und gelten in dieser Beziehung als unterschiedslose, gleiche menschliche Arbeiten. Ist der Produktionsprozeß so einerseits Wertanschaffungsprozeß, unabhängig von den historischen Formen dieses Prozesses, so ist er andererseits Prozeß zur Schaffung von Gebrauchsgütern, von Reichtum, der in seinen Formen und seinem Umfang von der Entwicklung der Produktivkräfte abhängig ist. Die Entwicklungshöhe der Produktivkräfte bedingt jedoch nicht nur die Größe des stofflichen Reichtums der Gesellschaft, sondern ein bestimmter Stand der Entwicklung der Produktivkräfte ist zugleich die ökonomische Voraussetzung jeder Mehrwertproduktion. Marx versteht darunter ganz allgemein die Menge von Gebrauchsgütern, die über den Bedarf der Gesellschaft hinaus hergestellt werden, und sagt über die ökonomischen Voraussetzungen der Mehrwertproduktion „die naturwüchsige Basis der Mehrarbeit überhaupt... ist die, daß die Natur... die nötigen Unterhaltsmittel gewährt bei Anwendung einer Arbeitszeit, die nicht den ganzen Arbeitstag verschlingt" 19). Der Zwang zur Mehrarbeit - unabhängig von den Formen der Produktion, unter denen sie geleistet wird, und den Formen der Verteilung, unter denen die Prokukte angeeignet werden - ergibt sich mit Notwendigkeit von einem gewissen Punkt der Entwicklung ab. „Mehrarbeit überhaupt, als Arbeit über das Maß der gegebenen Bedürfnisse hinaus, muß immer bleiben .. Ein bestimmtes Quantum Mehrarbeit ist erheischt, durch die Assekuranz gegen Zufälle, durch die notwendige Entwicklung der Bedürfnisse und dem Fortschritt der Bevölkerung progressive Ausdehnung des Reproduktionsprozesses" 20).

Auf den Begriffen des Wertes und des Mehrwertes basiert auch der Marxsche Klassenbegriff. Unter bestimmten ökonomischen und historischen Voraussetzungen wird es einem Teil der Gesellschaftsmitglieder möglich, die ihnen zufallende produktive Arbeitstätigkeit von sich auf andere Mitglieder der Gesellschaft abzuwälzen und sich die zur Befriedigung der eigenen Bedürfnisse notwendigen Güter anzueignen, ohne sie selbst produziert zu haben. Die juristischen Formen dieser Aneignung sind dabei weitgehend abhängig von dem Stand der Entwicklung der prodzierenden und der aneignenden Klasse zu den Produktionsmitteln. Aus der positiven oder negativen Beziehung der Gesellschaftsmitglieder zum Produktionsprozeß ergibt sich ihre Zurechnung zu einer der beiden großen Gruppen von Klassen, die im Verlaufe der Geschichte auftreten und unter bestimmten ökonomischen und historischen Voraussetzungen in scharfen Gegensatz zueinander treten, zu der produzierenden oder der aneignenden Klasse 21). Oder wie dieser Gedanke im Kommunistischen Manifest formuliert wird: „Unterdrücker und Unterdrückte standen in stetem Gegensatz zueinander"^).

Es wird bei dieser „polaren" Begriffsbestimmung der Klasse 22a) zu. nächst abstrahiert von den historischen Formen, unter den die Klassen auftreten, ebenso wie bei der Begriffsbestimmung des Wertes und des Mehrwertes abstrahiert wurde von den Formen ihrer Produktion und ihrer Aneignung. Diese ganz abstrakten Kategorien sind als Inhaltserkenntnisse gleichgültig gegenüber den Formen, unter denen sie erscheinen, vielmehr allen Formen gemeinsam und damit für sich allein betrachtet untauglich zur Erklärung bestimmter historischer Gesellschaftsordnungen 23). Die Aufgabe des Wissenschaftlers ist es nach Marx jedoch, den Wandel der Formen des sich gleichbleibenden sozialen Inhalts zu verstehen, wenn er die ökonomischen Epochen der Geschichte begreifen will. „Die Formen, worin diese Mehrarbeit dem unmittelbaren Produzenten abgepreßt wird, unterscheidet die ökonomischen Gesellschaftsformationen, z.B. die Gesellschaft der Sklaverei von der der Lohnarbeit" 24).

Damit kommen wir zur Entwicklung der Formen des Mehrwertes und des Wertes, denen zugleich bestimmte Formen der produzierenden und der aneignenden Klasse entsprechen. In den Kulturanfängen steht im Mittelpunkt der gesellschaftlichen Produktion fast ausschließlich die Befriedigung der unmittelbaren Bedürfnisse. Tausch tritt nur sporadisch auf als unmittelbarer Tausch der Produzenten und ihrer Produkte. Im Tausch wird zugleich der Wert der Produkte sichtbar. Er wird zum Tauschwert, der sich zu Beginn der Entwicklung des Tausches in der einfachen, einzelnen oder zufälligen Wertform zeigt. Das Wertverhältnis zweier Waren ist innerhalb dieser Form noch ganz zufällig, durch kein Gesetz beherrscht. „Diese Form kommt offenbar praktisch nur vor in den ersten Anfängen, wo Arbeitsprodukte durch zufälligen und gelegentlichen Austausch in Waren verwandelt werden" 25). „ihr quantitatives Austauschverhältnis ist zunächst ganz zufällig" 26). Die Funktion des Tausches ist es, innerhalb dieser Gesellschaftsordnung den über die Bedürfnisse der Gesellschaft hinaus geschaffenen Mehrwert zu realisieren im Gegensatz zu seiner Funktion der „Leistungsergänzung" innerhalb der kapitalistischen Gesellschaftsordnung 27). Es ist jedoch möglich, daß bereits auf dieser Stufe der Wirtschaftsentwicklung die Mehrwertproduktion unter antagonistischen Formen vor sich geht, d.h. in Formen, bei denen ein Teil der Gesellschaft sich Arbeitsprodukte aneignet, ohne sie selbst produziert zu haben. Auf dieser Stufe der Entwicklung ist jedoch „die Proportion der Gesellschaftsteile, die von fremder Arbeit leben, verschwindend klein gegen die Masse der unmittelbaren Produzenten. Mit dem Fortschritt der gesellschaftlichen Produktivkraft der Arbeit wächst diese Proportion absolut und relativ" 28). Der unentwickelten Form des Wertes entsprechen auch unentwickelte Formen der antagonistischen Mehrwertproduktion und Mehrwertaneignung. Der Mehrwert wird produziert unter der Form der Arbeits- und Produktenrente 29). Diese Produktions- und Aneignungsform ergibt sich mit Notwendigkeit aus der ökonomischen Struktur der noch auf Eigenbedarf gerichteten Gesellschaftsformationen. Die Produzenten sind noch Besitzer der Produktionsmittel und damit der Produkte ihrer Arbeit. Es ist deshalb außerökonomischer, politischer und juristischer Zwang notwendig, wenn sich die nichtproduzierende Klasse den Mehrwert in einer der beiden Formen aneignen will. Dabei mögen die rechtlichen und politischen Formen, unter denen die Mehrarbeit geleistet wird, stark variieren. Das ergibt sich schon allein daraus, „daß dieselbe ökonomische Basis - dieselbe den Hauptbedingungen nach - durch zahllose verschiedene empirische Umstände, Naturbedingungen, Rassenverhältnisse, von außen wirkende geschichtliche Einflüsse usw., unendliche Variationen und Abstufungen in der Erscheinung zeigen kann, die nur durch Analyse dieser empirisch gegebenen Umstände zu begreifen sind" 30). Für die Beurteilung der ökonomischen Struktur der Gesellschaft und ihrer Klassen sind die juristischen und politischen Anschauungen der Menschen über diese ökonomischen Abhängigkeitsverhältnisse irrelevant. Gemeinsam bleibt dieser auf Eigenbedarf gerichteten Produktionsweise, daß sich innerhalb eines oft sehr verschiedenen geographischen und rassenmäßigen Milieus und unter den verschiedensten ideologischen Verkleidungen die gleichen ökonomischen Formen der Mehrwertproduktion und -aneignung verbergen.

Es liegt in der ökonomischen Struktur dieser auf der Naturalwirtschaft basierenden Klassengesellschaften, daß sie stationär sind. Von Marx ist dieser Gedanke mehrfach ausgeführt worden. So sagt er beispielsweise über den stationären, ökonomischen Charakter des Feudalismus und der ihm entsprechenden Formen der Mehrwertaneignung: „Durch die an bestimmte Art des Produktes und der Produktion selbst gebundene Form der Produktenrente, durch die ihr unentbehrliche Verbindung von Landwirtschaft und Hausindustrie, durch die fast völlige Selbstgenügsamkeit, die die Bauernfamilie hierdurch erhält, durch ihre Unabhängigkeit vom Markt und von der Produktions- und Geschichtsbewegung des außerhalb ihrer stehenden Teile der Gesellschaft, kurz, durch den Charakter der Naturalwirtschaft überhaupt, ist diese Form ganz geeignet, die Basis stationärer Gesellschaftszustände abzugeben" 31). Der stationäre Charakter dieser Gesellschaftsformen wirkt seinerseits zurück auf den Umfang der Mehrwertproduktion. Er setzt der Ausbeutung der menschlichen Arbeitskraft ziemlich enge Schranken, da hier noch „der Gebrauchswert des Produktes vorwiegt, die Mehrarbeit durch einen engeren oder weiteren Kreis von Bedürfnissen beschränkt ist, aber kein schrankenloses Bedürfnis nach Mehrarbeit aus dem Charakter der Produktion selbst entspricht" 32). Diese Tendenz der Beschränkung der Mehrarbeit auf ein gewisses Maß wird noch verstärkt dadurch, „daß in den naturwüchsigen und unentwickelten Zuständen ... die Tradition eine übermächtige Rolle spielen muß. Es ist ferner klar, daß es hier wie immer im Interesse des herrschenden Teils der Gesellschaft ist, das Bestehende als Gesetz zu heiligen und seine durch Gebrauch und Tradition gegebenen Schranken als gesetzliche zu fixieren. Von allem anderen abgesehen, macht sich dies übrigens von selbst, sobald die beständige Reproduktion der Basis des bestehenden Zustandes des ihm zugrunde liegenden Verhältnisses im Laufe der Zeit geregelte und geordnete Form annimmt und diese Regel und ihre Ordnung ist selbst ein unentbehrliches Moment jeder Produktionsweise, die gesellschaftliche Festigkeit und Unabhängigkeit von bloßen Zufall oder Willkür annehmen soll. Sie ist eben die Form ihrer gesellschaftlichen Befestigung und daher ihrer relativen Emanzipation von bloßer Willkür und bloßen Zufall. Sie erreicht diese Form bei stagnanten Zuständen sowohl des Produktionsprozesses, wie der ihm entsprechenden gesellschaftlichen Verhältnisse durch die bloße wiederholte Reproduktion ihrer selbst. Hat diese eine Zeitlang gedauert, so befestigt sie sich als Brauch und Tradition und wird endlich geheiligt als ausdrückliches Gesetz" 33).

Die Auflösung dieser Produktionsweise und der ihr entsprechenden Klassen setzt ein mit dem Überhandnehmen der Warenwirtschaft und dem Aufkommen des Geldes, sowie mit der Verwandlung der Arbeits- und Produktenrenten in Geldrenten und der Konzentration des Geldes in den Händen einzelner Wirtschaftsgruppen. Auf Einzelheiten dieser ökonomischen Zersetzungsvorgänge einzugehen müssen wir uns versagen, wie sich überhaupt über den Untergang einzelner Klassen und das Aufkommen neuer Klassen nur ganz wenig allgemeine Bestimmungen festhalten lassen. Im einzelnen ist die Zersetzung der Naturalwirtschaft an eine ganze Reihe zufälliger ökonomischer und außerökonomischer Voraussetzungen gebunden, die nur durch Spezialuntersuchungen aufgezeigt werden können.

Mit der Entfaltung der Produktivkräfte ändern sich auch die Formen der Wert- und Mehrwertproduktion. Die zufällige Wertform macht mehr und mehr der totalen oder entfalteten Wertform Platz. „Die entfaltete Wertform kommt zuerst tatsächlich vor, sobald ein Arbeitsprodukt, Vieh z.B., nicht mehr ausnahmsweise, sondern schon gewohnheitsmäßig mit verschiedenen anderen Waren ausgetauscht wird" 34). „Das zufällige Verhältnis zweier individueller Warenbesitzer fällt fort. Es wird offenbar, daß nicht der Austausch die Wertgröße der Ware, sondern umgekehrt die Wertgröße der Ware ihre Austauschverhältnisse reguliert" 35). Die zweite Form des Wertes schlägt mit der Entfaltung der Warenproduktion in die allgemeine Wertform um. „Die Waren stellen ihre Werte jetzt erstens einfach dar, weil in einer einzigen Ware, und zweitens einheitlich, weil in derselben Ware. Ihre Wertform ist einfach und gemeinschaftlich, daher allgemein" 36). „Erst vom Augenblick, wo diese Ausschließung sich endgültig auf eine spezifische Warenart beschränkt, hat die einheitliche relative Wertform der Warenwelt objektive Festigkeit und allgemein gesellschaftliche Gültigkeit gewonnen" 37).

Damit ist die Geldform entstanden. Zugleich gibt erst diese Form die Möglichkeit, den Wert aller Waren in seiner letzten und widerspruchsvollsten Erscheinungsform hervortreten zu lassen: im Preis. Das Auftreten der Preisform ist jedoch an spezifisch ökonomische und geschichtliche Voraussetzungen gebunden, die nicht ohne weiteres gegeben sind mit der Existenz der Geldform. Im Gegenteil, „Geld- und Warenzirkulation können Produktionssphären der verschiedensten Organisation vermitteln, die ihrer inneren Struktur nach noch hauptsächlich auf Produktion des Gebrauchswertes gerichtet sind" 38).

Folgen wir auch bei der Entwicklung der Geldform dem Gang der Geschichte. In den beiden unentwickelten Weltformen, in denen sich Waren gegenübertraten, bedeutete jeder Kauf zugleich Verkauf. Anders in dem durch das Geld vermittelten Zirkulationsprozeß. Es heißt jetzt zwar auch „keiner kann verkaufen, ohne daß ein anderer kauft, aber keiner braucht unmittelbar zu kaufen, weil er selbst verkauft hat" 39). Mit der Existenz des Geldes besteht die Möglichkeit der Schatzbildung. Das Geld stellt besonders in unentwickelten Formen der Gesellschaft die Verkörperung des Reichtums dar 40). Doch die Gestalt des Schatzbildners ist ökonomisch irrelevant 41). Denn mit der Erstarrung des Geldes zum Schatz erstarren zugleich seine übrigen gesellschaftlichen Funktionen. Andererseits, je unentwickelter die Produktion ist, in der sich bereits das Geld herausgebildet hat, um so seltener ist das Geld 42), und eine um so größere Bedeutung hat der Geldbesitzer als Geldverleiher 43). Das Geld wird innerhalb dieser Wirtschaftsverfassung vorwiegend als Kaufmittel und als Zahlungsmittel gebraucht. Dem Geldbesitzer ist damit die Möglichkeit gegeben, sich durch das Verleihen seines „Geldschatzes" Produkte fremder Arbeit anzueignen, und damit seinen Schatz in Wucherkapital, in Mehrwert heckenden Wert zu verwandeln 44). Aus dem Schatzbilder ist der Wucherer geworden, der sich kraft seines Geldbesitzes und der Automatik des Produktionsprozesses Mehrwert aneignet von den juristisch und politisch freien Produzenten. Das antagonistische Produktionsverhältnis ist jetzt versteckt unter dem Gläubiger-Schuldnerverhältnis, während die Mehrwertaneignung unter der Form des Zinses geschieht. Mit der Klasse der Wucherer entwickelt sich zugleich die Klasse der Waren- und Geldhändler, deren ausschließliches Privilegium es ist, die Zirkulation der Waren und des Geldes zu vermitteln. Das Handelskapital eignet sich einen weiteren Teil des Mehrwertes an unter der Form des Handelsprofites, allein kraft seines Geldbesitzes. Das Wucherer- und das Handelskapital gehören „zu den antediluvianischen Formen des Kapitals, die der kapitalistischen Produktionsweise lange vorhergehen und sich in den verschiedensten ökonomischen Gesellschaftsformationen vorfindet" 45). Geld wird in den Händen dieser beiden Klassen zum Kapital par excellence 46). Geld wird Mehrwert heckender Wert, ohne daß es auf dieser Stufe der gesellschaftlichen Entwicklung möglich wäre, hinter des Geheimnis des Geldes und des Kapitals zu kommen 47).

Geld wird in diesen Gesellschaftsordnungen einmal gebraucht als Zahlungsmittel, sei es zur Zahlung von Steuern oder von Rente 48). Daraus erklärt es sich auch, daß sich eine Wucherklasse oft aus den Steuerpächtern entwickelt 49). Geld wird andererseits gebraucht als Kaufmittel 50), entweder von den unmittelbaren Produzenten, den Kleinbauern und Handwerkern 51), wenn sie infolge eingetretener Teuerung Rohstoffe hinzukaufen müssen, oder wenn ihnen durch Mißernten, durch Kriegsteilnahme usw. die Wiederaufnahme ihrer Produktion in dem bisherigen Umfange nicht möglich ist ohne Kauf neuer Produktionsmittel 52). Oder das Geld wird gebracht von einer dritten aneignenden Klasse, mögen ihre Mitglieder nun Feudalherren oder Sklavenbesitzer sein, die in solchen Gesellschaftsordnungen den genießenden und verbrauchenden Reichtum darstellen. Es ist die Tendenz des Wucherkapitals, im Gegensatz zu seiner Funktion in der heutigen Wirtschaftsordnung, sich unter der Form des Zinses den ganzen Mehrwert anzueignen 53). Doch bei dieser Form der Aneignung bleibt es manchmal nicht, sondern die Klasse der Wucherer eignet sich darüber hinaus auch das Eigentum auf die Arbeitsbedingungen seiner Schuldner an, seien es nun Kleinbauern und kleine Handwerker, Sklavenbesitzer oder Feudalherren 54). Die ökonomischen Wirkungen des Vorherrschens des Wucherkapitals sind verschiedene. Einmal findet mit der Entwicklung des Wuchers eine fortschreitende Konzentration des Geldes in der Hand einer zahlenmäßig kleinen Klasse statt 55). Zugleich wirkt sich die Existenz des Wucherkapitals auf Ausbreitung der Warenproduktion aus und führt damit zu einer Zersetzung der bestehenden Produktionsweise. Der im Gefolge des Wucherkapitals oft auftretende ökonomische Ruin der produzierenden und eventuell auch der übrigen aneignenden Klassen führt zum Rückgang der Entwicklung der Produktivkräfte 56). Die Gegensätze zwischen Gläubigern und Schuldnern wachsen und werden noch gesteigert dadurch, daß in solchen Gesellschaftsordnungen mit dem Eigentum an den Produktionsmitteln zugleich politische Rechte verbunden sind, die mit der Enteignung durch den Wucherer auf diesen übergehen 57). Daher auch der starke Haß gegen die Wucherklasse. Unter bestimmten geschichtlichen Voraussetzungen kann die zersetzende Wirkung des Wucher- und Handelskapitals zugleich zur Herausbildung einer neuen Gesellschaftsordnung führen. Welche neuen Produktionsformen sich aus der Auflösung der alten Produktionsweise ergeben 58), hängt jedoch nicht von der Form des Wucherkapitals, sondern von allgemeinen geschichtlichen Voraussetzungen ab 59). Unter bestimmten ökonomischen Voraussetzungen entsteht aus dem Gläubiger-Schuldnerverhältnis die Schuldsklaverei und daran anschließend das Leibeigenenverhältnis 60). Das klassische Beispiel dafür sind die Agrarrevolutionen der Antike. Ist der Wucherer einmal zum Sklavenbesitzer geworden, dann wird sein Geld unmittelbar in der Produktion verwertbar. Doch dieser Fall hat keine große Bedeutung innerhalb der geschichtlichen Entwicklung gehabt. Das Charakteristikum des Wucherkapitals ist es vielmehr, daß es die Ausbeutungsweise des modernen Kapitals besitzt, ohne seine Produktionsweise zu besitzen 61). Die Wucherklasse ,Jebt in den Poren der Produktion, wie die Götter in den Intermundien der Welt bei Epikur" 62).

Auch die Klasse der Händler hat ihre eigentliche ökonomische Bedeutung in unentwickelten Gesellschaftsordnungen 6 3). Dem Händler liegt es ob, den Austausch der überschüssigen Produkte der einzelnen, isoliert nebeneinanderlebenden Gemeinwesen zu vermitteln. Der Zirkulationsprozeß, in der kapitalistischen Gesellschaftsordnung ein Moment des Produktionsprozesses, ist in vorkapitalistischen Wirtschaftsformen verselbständigt gegen seine Extreme, die austauschenden Produzenten 64). Es gibt für die Kaufmannsklasse mehrere Möglichkeiten, sich Teile des Mehrwertes anzueignen 65). Der Kaufmann gewinnt einmal an den Unterschieden zwischen den Preisen der Waren der unter verschiedenen natürlichen und sozialen Bedingungen produzierenden Gemeinwesen 66). Er gewinnt weiter dadurch, daß die Tauschwertverhältnisse der Waren noch wenig gefestigt sind, so daß die Waren oft unter ihrem Wert an den Händler verkauft werden, der an dem Wiederverkauf gewinnt. Es ist also regelrechte Prellerei,, durch die der Mehrwert vom Kaufmannskapital in seinen Vorkapitalistischen Formen angeeignet wird 67). Gemeinsam mit dem Wucherkapital bleibt dem Kaufmannskapital, daß die Mehrwertaneignung unter der verhüllenden Form des Geldes geschieht.

Die Verteilung des Gesamtmehrwertes auf die Klasse der Wucherer, der Händler und anderer evtl. vorhandenen aneignenden Klassen ist, von allgemeinen Bestimmungen abgesehen, noch dem Zufall überlassen. Auch das Handelskapital führt im Verlaufe seiner Entwicklung zur steigenden Konzentration des Geldes in der Hand Weniger. Die Vermittlung des Warenaustausches der verschiedenen Gemeinwesen durch die Händler führt zur Festigung der Austauschverhältnisse und damit zur Erweiterung der Warenproduktion 68). Entfaltung der Warenwirtschaft ist jedoch gleichbedeutend mit Auflösung der vorhandenen auf die unmittelbare Bedürfnisbefriedigung gerichteten Produktionsweise 69). Welche Wirkung die Existenz der Klasse der Wucherer und der Handeiskapitalisten im einzelnen auf die Struktur der bestehenden Produktionsweise ausübt, läßt sich generell nicht sagen.

Die bisher entwickelten Formen der Mehrwertproduktion und Aneignung basieren auf der Voraussetzung, daß die ausgebeutete Klasse noch im Besitze ihrer Produktionsmittel ist. Mit dem Zurückgehen der Eigenbedarfswirtschaft und der Entwicklung der durch Geld vermittelten Warenzirkulation kommt es, wenn wir dem Gang der Geschichte folgen, unter bestimmten historischen Voraussetzungen zur Herausbildung der Sklaverei. Solange die Sklaverei noch patriarchalischen Charakter trägt, ist dieses Produktionsverhältnis von untergeordneter ökonomischer Bedeutung für die Struktur der betreffenden Wirtschaft70). Das ändert sich, wenn Sklavenarbeit nicht nur zur Ergänzung der Arbeit der freien Produzenten benutzt wird, sondern wenn sie zur Produktion von Waren in großem. Maßstabe Verwendung findet 71). Jetzt geschieht die Mehrwertproduktion und seine Aneignung unter der juristischen Form des Besitzverhältnisses. Geld wird jetzt zum Kapital dadurch, daß man es in Produktionsmittel, sachliche und lebendige, verwandelt, die man arbeiten läßt. Die juristische und faktische Stellung des Arbeiters als eines bloßen Produktionsmittels hat zur Folge, daß die Ausbeutung der menschlichen Arbeitskraft bis zum Äußersten getrieben werden kann. Innerhalb der Sklavenwirtschaft finden sich deshalb auch die scheußlichsten Formen der Ausbeutung. Die Realisierung des durch Sklavenarbeit geschaffenen Mahrwertes findet durch den Verbrauch der geschaffenen Produkte seitens der Sklavenbesitzer und ihres Anhangs und durch den Verkauf der überschüssigen produzierten Waren statt. Daraus ergibt sich, daß in diesem Produktionsverhältnis ebenso wie im Gläubiger-Schuldnerverhältnis die Herkunft des Mehrwertes völlig undurchsichtig ist im Gegensatz zu antagonistischen Produktionsverhältnissen, die auf der unmittelbaren Herrschaft einer Klasse über eine andere freie Klasse von Produzenten beruhen, die noch im Besitze der Produktionsmittel sind. Doch auch die die Sklavenwirtschaft enthält noch ein zufälliges, nicht von der Oekonomie abhängiges Element 72). Es ist nämlich die Zufuhr des Produktionsmittels „Sklave" durch kein ökonomisches Gesetz reguliert, sondern den Wechselfällen des Kriegsglückes überlassen. Stockt der Zufluß an Arbeitskräften, dann ist damit die Existenz der Gesamtwirtschaft auf das ernsteste gefährdet und im Verlauf führt das Versiegen der Menschenquellen zum Untergang der Sklavenwirtschaft.

Es ist das Kennzeichen aller bisher entwickelten Formen der Mehlwertproduktion und der ihnen entsprechenden Klassen, daß sie niemals rein auftreten, sondern daß die einzelnen Formen der Ausbeutung nebeneinander herlaufen und sich gegenseitig überschneiden. Meistens läßt sich jedoch auch innerhalb vorkapitalistischer Gesellschaftsordnungen eine bestimmte Form der Mehrwertaneignung als die herrschende feststellen, der auch eine bestimmte Form der Produktion entspricht. „In allen Gesellschaftsformen ist es eine bestimmte Produktion, die allen überlegen ist und deren Verhältnisse daher auch allen übrigen Rang und Einfluß anweist" 73).

Erst wenn die ökonomische Beziehung der Menschen den höchsten Grad der Verdinglichung erreicht haben 74), erst wenn die Warenproduktion die allgemeine Form der Wirtschaft geworden ist, kommt es zur Herausbidlung relativ „reiner" Klassen nicht nur in der Theorie, sondern zugleich in der Praxis und damit zur Übereinstimmung zwischen Theorie und Praxis. Diese Voraussetzungen sind erst in der kapitalistischen Wirtschaftsordnung gegeben, wenn auch das Arbeitsvermögen des Menschen zur Ware geworden ist. „In der Tat ist die kapitalistische Produktionsweise die Warenproduktion als allgemeine Form der Produktion, aber sie ist es nur und wird es stets mehr in ihrer Entwicklung, weil die Arbeit hier selbst als Ware erscheint.., weil der Arbeiter die Arbeit, d.h. die Fähigkeit seiner Arbeitskraft verkauft" 75).

Voraussetzung der kapitalistischen Produktionsweise ist also die Existenz der Klasse des Proletariats, deren Angehörige besitzlos und rechtlich frei sind und damit gezwungen, sich stückweise den Geldbesitzern bzw. den Besitzern der Produktionsmittel zu verkaufen 76). Auch jetzt ist es das Geld, das in der Hand seiner Besitzer zum Mittel wird, um sich fremde Arbeit und fremde Arbeitsprodukte anzueignen. Doch die Verwertung des Wertes geschieht jetzt im Unterschied zu früheren Gesellschaftsordnungen durch seine Verwandlung in konstantes und variables Kapital, in Produktionsmittel und in Arbeitslohn 77). Die Produktion des Mehrwertes geschieht unter der Form des Kapitalverhältnisses, eines Produktionsverhältnisses, das nicht mehr durch juristischen und politischen, sondern allein durch ökonomischen Zwang aufrechterhalten wird. Die Aneignung des auf kapitalistischer Grundlage erzeugten Mehrwertes geschieht unter der Form des Kapitalprofites (Unternehmergewinn plus Zins) und der Grundrente. Diesen beiden Formen der Mehrwertaneignung entsprechen die beiden großen besitzenden Klassen der modernen Gesellschaft, die Klasse der Kapitalisten und die der Großgrundbesitzer.

In die, in der Theorie „rein" dargestellte kapitalistische Gesellschaftsordnung ragen jedoch zahlreiche soziale Rudimente vorkapitalistischer Gesellschaftsordnungen hinein. Soweit es sich dabei um die Existenz vorkapitalistischer Klassen handelt, spricht Marx von Zwischenklassen 78) oder Mittelklassen 79). Unter diesem Sammelnamen werden die noch selbständigen Kleinproduzenten oder sonstwie selbständigen Gruppen der Handwerker, der Bauern, der Kaufleute und der Rentiers zusammengefaßt 80). Die Bauernklasse bezeichnet Marx als die im Rahmen der kapitalistischen Gesellschaftsordnung stationärste Klasse, als die Klasse, die in der Zivilisation die Barbarei vertritt 81).

Wenn die Zwischenklassen in der Geschichte der modernen Staaten auch eine große Rolle spielen, so sind sie für die Erkenntnis der ökonomischen Struktur der kapitalistischen Gesellschaftsordnung doch irrelevant, für die vielmehr nur die drei großen Klassen der Kapitalisten, der Großgrundbesitzer und des Proletariats Bedeutung haben.

Während der Anteil der einzelnen Klassen am Gesamtwert und Gesamtmehrwert in vorkapitalistischen Gesellschaftsordnungen zufällig war, wird das Verhältnis dieser drei Klassen zueinander resp. der diesen Klassen entsprechenden Wert- und Mehrwertteile in der kapitalistischen Wirtschaftsordnung durch streng ökonomische Gesetze bestimmt. Die möglichen Variationen der Relationen zwischen dem Gesamtarbeitslohn, dem Gesamtkapitalprofit und der Gesamtgrundrente aufzuzeigen, sie als gesetzmäßige Beziehungen darzustellen, war die Aufgabe, die Marx zu lösen versuchte. Er war sich dabei bewußt, daß auch die Theorie der Klassen der modernen Gesellschaft nur Annäherungswert gegenüber der Wirklichkeit besitzt, daß aber andererseits diese Theorie zum ersten Male in der Geschichte das Bewußtsein einer Klasse über ihre ökonomische und gesellschaftliche Lage repräsentiert. Erst durch die geschichtliche Aktion des Proletariats findet die Marxsche Klassentheorie ihre Bestätigung und zugleich ihre Aufhebung als eine nur historische Wahrheit, ihre Aufhebung dann, wenn es dem Proletariat gelungen ist, eine klassenlose Gesellschaftsordnung aufzubauen.

Anmerkungen

1) Das Kommunistische Manifest, 8. Aufl., Berlin 1928, S. 25.
2) Aus der Waffenkammer des Sozialismus. Eine Sammlung alter und neuer Propagandaschriften, 9. Halbjahrsband, Frankfurt 1907, S. 57 f
3) Marx, Zur Kritik der politischen Ökonomie, S. XLI.
4) Marx, Zur Kritik der politischen Ökonomie, S. XLII.
5) Auf eine eingehende Untersuchung des erkenntnistheoretischen Problems bei Marx muß im Rahmen dieser Arbeit verzichtet werden.
6) Marx, Zur Kritik der politischen Ökonomie, S. XXXVIII (s.a. Kapital III l, S.156).
7) Marx, Zur Kritik der politischen Ökonomie, S. XXXVI.
8) Marx, Kapital I, S. XXXVIII.
9) Marx, Kapital I, S. 47.
10) Marx, Kapital I, S. 505, Kapital III l, S. 297.
11) Marx, Kapital III 2, S. 35 2.
12) Marx, Kapital III l, S. 188.
13 ) Siehe auch: Georg Lukacs, Geschichte und Klassenbewußtsein, Berlin 1923, Der Malik-Verlag.
14) Marx, Zur Kritik der politischen Ökonomie, S. XIII.
15) Marx, Zur Kritik der politischen Ökonomie, S. XIV.
16) Hier taucht erneut das Problem des geschichtsphilosophischen Deternismus bei Marx auf, das sich bereits als Problem der Ideologie zeigte. Beide Teilfragen können in unserem Zusammenhang jedoch nicht weiter behandelt werden.
17) Marx, Zur Kritik der politischen Ökonomie, S. XIV.
18) Marx, Kapital I, S. 146.
19) Marx, Kapital III 2, S. 172, 174.
20) Marx, Kapital III 2, S. 354, 172.
21) Von dieser Begriffsbestimmung aus ist es gleichgültig, ob die produzierende Klasse juristisch Subjekt oder Objekt (Sklaverei) des Produktionsprozesses ist. Der Webersche Klassenbegriff ist demgegenüber insofern enger, als er auf dem Kriterium der eigenen Verwertbarkeit der Chance beruht. Die Sklaven betrachtet deshalb Weber nicht als Klasse, sondern als Stand. Siehe Max Weber: Grundriß der Sozialökonomik, III. Abt. Wirtschaft und Gesellschaft S. 632: „Eine Vielheit von Menschen dagegen, deren Schicksal nicht durch die Chance der eigenen Verwertbarkeit von Gütern oder Arbeit auf dem Markt bestimmt wird - wie z.B. die Sklaven -, sind im technischen Sinne keine „Klasse" (sondern: ein „Stand")."
22) Das Kommunistische Manifest, 8. Aufl., S. 25.
22a) Siehe auch Kautsky, Die Materialistische Geschichtsauffassung, Bd. II, S. 16: „Der Begriff der Klasse ist also ein polarer Begriff."
23) Marx, Kapital III 2, S. 176.
24,) Marx, Kapital I, S. 179, s.a. Kapital II, S. 12.
25) Marx, Kapital I, S. 32.
26) Marx, Kapital I, S. 54.
27) Marx, Kapital I, S. 322, „Nur der Überschuß der Produkte verwandelt sich in Waren".
28) Marx, Kapital I, S. 475, S (s.a. Kapital III 2, S. 326).
29) Marx, Kapital III 2, S. 322.
30) Marx, Kapital III 2, S. 325.
31) Marx, Kapital III 2, S. 329 (s.a. Kapital I, S. 323).
32) Marx, Kapital I, S. 196.
33) Marx, Kapital III 2, S. 326.
34) Marx, Kapital I, S. 32.
35) Marx, Kapital I, S. 30.
36) Marx, Kapital I, S. 32.
37) Marx, Kapital I, S. 36.
3S) Marx, Kapital III l, S. 312, Kapital II, S. 6,8,88.
39) Marx, Kapital I, S. 73.
40) Marx, Kapital III 2, S. 137.
41) Marx. Kapital III 2, S. 132.
42) Marx, Kapital III 2, S. 137.
43) Marx, Kapital III 2, S. 149.
44) Marx, Kapital III 2, S. 132. Dabei ist es in diesem Zusammenhange unwesentlich, ob Waren- oder Geldkapital verliehen wird.
45) Marx, Kapital III 2, S. 132.
46) Marx, Kapital III l, S. 310.
47) Marx, Kapital III 2, S. 149.
48) Marx, Kapital III 2, S. 137. Die Verwandlung der Produktenrente in Geldrente spielt im Zusammenhang mit der Herausbildung einer Wucherer- und einer Händlerklasse für die Auflösung des europäischen Feudalismus eine ausschlaggebende Rolle.
49) Marx, Kapital III 2, S. 138.
50) Marx, Kapital III 2, S. 133, 137.
51) Marx, Kapital III 2, S. 138.
52) Marx, Kapital III 2, S. 138.
53) Marx, Kapital III 2, S. 134.
54) Marx, Kapital III 2, S. 134.
55) Marx, Kapital III 2, S. 133.
56) Marx, Kapital III 2, S. 134,135,136,149.
57) Marx, Kapital III 2, S. 135.
58) Marx, Kapital III 2, S. 133.
59) Marx, Kapital III 2, S. 133.
60) Marx, Kapital III 2, S. 138.
61) Marx, Kapital III 2, S. 137,149.
62) Marx, Kapital III 2, S. 137.
63) Marx, Kapital III 2, S. 312.
64) Marx, Kapital III l, S. 309,312.
65) Marx, Kapital III l, S. 313.
66) Marx, Kapital III l, S. 315.
67) Marx, Kapital III l, S. 313.
68) Marx, Kapital III l, S. 314,316.
69) Marx, Kapital III 2, S. 132 ff.
70) Marx, Kapital III 2, S. 133.
71) Marx, Kapital III 2, S. 133.
72) Marx, Kapital II, S. 454.
73) Marx, Zur Kritik der politischen Ökonomie, S. XVIII.
74) Marx, Kapital III 2, S. 417.
75) Marx, Kapital II, S. 88.
76) Marx, Kapital I, S. 130,131, Kapital II, S 8,9.
77) Marx, Kapital I, S. 133.
78) Marx, Die Klassenkämpfe in Frankreich, S. 79.
79) Marx, Der Bürgerkrieg in Frankreich, S. 96, Klassenkämpfe S. 93.
80) Marx, Klassenkämpfe, S.7,66, Korn. Manif. S. 33,35,47.
81) Marx, Klassenkämpfe S. 50,90,91.

Editorische Anmerkungen

Der Aufsatz erschien in "Die Gesellschaft", Internationale Revue für Sozialismus u. Politik. (Berlin 1931) Band 2, S. 68-82
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