Ein Parfum von sozialer Aufbruchstimmung liegt seit kurzem anscheinend
wieder über Frankreich. Ein Jahr lang hatte alles danach ausgehen, als ob
die Niederlage, die im Sommer 2003 auf die Massenstreiks gegen die
regressive "Reform" der Rentensysteme folgte, den Gewerkschaftern und
kampfeswilligen Beschäftigten bleischwer in den Knochen stecke.
Demoralisierung schien vorzuherrschen. Es ist schon beeindruckend, wie
der
Premierminister Jean-Pierre Raffarin in den letzten anderthalb Jahren,
obwohl er einen der meistbelächelten Politiker bildete und zahlreiche Witze
über den tollpatschigen und provinziellen Konservativen kreiert worden sind,
zugleich Fakten auf Fakten schaffen konnte. Er wird in seiner bald
dreijährigen Amtszeit einer derjenigen französischen Regierungschef bleiben,
unter deren Regie wohl die meisten Veränderungen durchgesetzt wurden die
aber fast alle rückwärts gewandt sind und den Abbau oder die Zerstörung
einstiger sozialer Errungenschaften zum Gegenstand haben. Die
Rentenversorgung, das 1945 geschaffene Sozialversicherungssystem der
Sécurité Sociale, die öffentlichen Energieversorgungsunternehmen EDF und GDF
und demnächst auch die französische Post all das wurde entweder schwer
lädiert oder einer, zumindest teilweisen, Privatisierung preisgegeben. Und
demnächst sollen auch noch die Arbeitszeiten verlängert werden, deutsche
Konzerne haben es vorgemacht.
Aber alles hat seine Grenzen, und so scheint auch die einige Monate lang
vorherrschende Bewegungslosigkeit oder gar Apathie jetzt an manchen Stellen
überwunden. Die Streikbewegungen in vielen öffentlichen Diensten an drei
aufeinanderfolgenden Tagen der vorletzten Januarwoche können überwiegend als
Erfolg gelten, und neue Mobilisierungstermine in den kommenden Wochen stehen
bereits fest.
Den Auftakt machte am Dienstag (18. Januar) La Poste, weil an diesem Tag
die
Debatte in der französischen Nationalversammlung über das "Gesetz zur
Regulierung der Postdienstleistungen" begann. Der Entwurf, der am darauf
folgenden Donnerstag tatsächlich in erster Lesung verabschiedet wurde, sieht
unter anderem die totale Öffnung aller postalischen Aktivitäten für private
Konkurrenz aus der gesamten EU bis 2009 vor. Ferner soll die Postbank aus
dem bisherigen öffentlichen Dienstleistungsunternehmen La Poste herausgelöst
und mit einem autonomen Statut ausgestattet werden; private Banken, im
Gespräch ist bereits konkret die Société Générale, sollen bis zu 50 Prozent
der Kapitalanteile an dem neu zu bildenden Kreditinstitut übernehmen können.
Damit, so wird allgemein befürchtet, dürfte auch die bisherige Sozialbindung
entfallen, aufgrund derer die Postbank bisher auch Sozialhilfeempfängern und
anderen "unrentablen" Kundinnen bisher nicht die Eröffnung eines Kontos
verweigern darf; und die Guthaben der Postbankkunden dürften auch zu
spekulativen Finanzoperationen herangezogen werden. Ein Bericht, den die
Pariser Regierung beim Rechnungshof bestellte, sieht ferner vor, 20 Prozent
der Personalkosten einzusparen und über die Hälfte der Postämter, vor allem
in ländlichen Zonen und manchen "sozialen Problemvierteln" der Banlieues,
dicht zu machen oder durch einen Briefmarkenverkauf beim Lebensmittelhändler
zu ersetzen.
Trotz alldem war die Arbeitsniederlegung bei der Post die am wenigsten
erfolgreiche der Streikwoche im Januar; die Beteiligung betrug landesweit
rund 15 Prozent, in Paris fiel sie dagegen besser aus. Eine Rolle dabei
spielte, dass von derzeit knapp 320.000 Postbediensteten aktuell noch
200.000 verbeamtet sind, während rund 100.000 bereits nach diversen
privatwirtschaftlichen Verträgen (vom unbefristeten Arbeitsvertrag bis zur
Zeitarbeit) beschäftigt sind. Der Streikaufruf richtete sich nur an Erstere,
da die privatrechtlich Beschäftigten viel leichter ihren Arbeitsplatz
riskieren und weil die lohnbezogenen Forderungen im öffentlichen Dienst nur
die verbeamteten PostlerInnen betreffen, während die Gehälter ihrer
"privaten" Kollegen auf anderem Wege festgelegt werden.
Die öffentlich Bediensteten in Frankreich haben seit Beginn des
Jahrzehnts 5
Prozent an Kaufkraft verloren. Deswegen gilt die Entscheidung der Regierung,
ihre Löhne in diesem Jahr um nur ein Prozent anzuheben, als "Provokation für
die Gewerkschaften", so die Wirtschaftszeitung La Tribune vom 17. Januar.
Das war auch einer der Anlässe für die Ausstände der Eisenbahner am Mittwoch
(19. 01.) und an den Schulen sowie in einigen anderen öffentlichen Diensten
am Tag darauf. In beiden Fällen ging es aber auch um die Verteidigung der
Arbeitsplätze und damit auch der Nutzer der services publics: Bei der
Bahngesellschaft SNCF, deren Jahreshaushalt am vorigen Mittwoch
verabschiedet wurde und die derzeit Gewinne einfährt, sollen im laufenden
Jahr 3.600 Arbeitsplätze durch Nichtersetzung der altersbedingten Abgänge
vernichtet werden, größerenteils im defizitären Gütertransportbereich,
obwohl dessen Entwicklung ökologisch dringend geboten schiene. Auch über
3.000 Lehrerstellen sollen im Herbst dieses Jahres wegfallen, vor allem im
sozialen Krisengebiet zwischen Lille und der belgischen Grenze. Mit 40
Prozent bei der SNCF und über 50 Prozent bei den LehrerInnen fiel die
Beteiligung an den Ausständen noch besser aus, als die Gewerkschaften
erwartet hatten.
Eine Vollversammlung von Streikaktivisten fasste dem Schulbereich nahm am
Ende der "bewegten Woche" im Pariser Gewerkschaftshaus bereits einen
Beschluss für neue Aktionen. So soll am 1. oder 3. Februar erneut gestreikt
werden, wenn genügend Schulen mitziehen, da kurz danach (geschickterweise,
während die Lehrer großenteils in Winterferien sind) das Gesetz zur Zukunft
des Schulwesens im Parlament beraten wird, gegen das am 15. Februar auch in
Paris demonstriert werden soll.
Ein weiteres wichtiges Datum ist der kommende Samstag,, 5. Februar. Dann
wollen sechs Gewerkschaftsorganisationen ohnehin gegen die bevorstehenden
Angriffe der rechten Regierung auf die 35-Stunden-Woche demonstrieren. Die
Lehrer wollen sich nun anschließen und damit eine Konvergenz zwischen
Privatwirtschaft und öffentlichen Diensten schaffen. Das ist ein überaus
wichtiges Ziel. Dennoch steht nicht fest, ob aus den Demos am 5. Februar
eine wirkliche Dynamik erwachsen kann. Denn die real existierende Reform zur
Einführung der 35-Stunden-Woche, die unter der sozialdemokratischen
Regierung Lionel Jospins von 1998 bis 2000 schrittweise erfolgte, ist auch
vielen Lohnabhängigen nicht als sozialer Fortschritt in guter Erinnerung;
sie bildete vielmehr das süße Zuckerl, das die bittere Pille einer starken
Ausweitung flexibler, nach den Bedürfnissen der Unternehmen variierender
Arbeitszeiten umgab. Was die derzeitige Regierung plant, läuft jedoch darauf
hinaus, das Zuckerl wegzunehmen und dennoch die bittere Pille weiterhin zu
verabreichen in höheren Dosen, etwa durch eine starke Erhöhung der
zulässigen Überstundenzahl. Bewusstsein dafür zu schaffen, ist notwendig,
wird aber durch die Bilanz der Jospin-Regierung erschwert.
Editorische Anmerkungen
Der Autor stellte uns seinen Text
am 1.2.2005 zur Veröffentlichung zur Verfügung. Eine gekürzte Fassung erschien
in der 'Wochenzeitung' (WoZ), Zürich
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