Algerien 1995 ­ 2005
Das Ende einer Periode

von Bernhard Schmid

02/05

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Das neue Jahr begann mit einer Nachricht, die wohl die allermeisten Algerier und Algerierinnen aufatmen lässt: Die Groupes islamiques armés (GIA, Bewaffnete islamische Gruppen), deren bloße Erwähnung die Bevölkerung vor allem im Umland der Hauptstadt Algier jahrelang in Angst und Schrecken versetzte, sind so gut wie zerschlagen. Damit ist das wohl blutigste Kapitel der jüngeren algerischen Geschichte quasi abgeschlossen.  

Ende der "Bewaffneten islamischen Gruppen" (GIA)?  

Am 3. Januar dieses Jahres zog ein relativ nüchternes Kommuniqué des algerischen Innenministeriums die Bilanz einer Operation, die in den vorangegangenen zwei Monaten unter weitgehender Geheimhaltung durchgeführt wurde. Anfang November war es den staatlichen Ordnungskräften erstmals gelungen, einen "nationalen Emir (Befehlshaber)" der GIA lebend festzunehmen: Boudiafi Nouereddine alias "Noureddine PRG" fiel ihnen in Bab Ezzouar, einem etwas außerhalb gelegenen Stadtteil von Algier, in die Hände. Aus diesem Anlass konnten auch einige "schlafende" Unterstützerzellen in der Hauptstadt ausgehoben werden. Mit den Angaben, die aus dem "Emir" herausgeholt werden konnten und die bei den Durchsuchungen der bisherigen Verstecke aufgefunden wurden, konnten Polizei und Armee die verbleibenden Reste der Organisation am Kopf treffen. Seit kaum 14 Tagen an die Spitze der GIA aufgerückt, wurde der neue "Emir" Chaâbane Younès, genannt "Lyès", am 1. Dezember in der Nähe der westalgerischen Stadt Chlef erschossen. Sein Begleiter "Abu Bakr" legte die Waffen nieder und ergab sich.  

In der Vergangenheit war es den bewaffneten Kräften des Staates kaum möglich gewesen, Spitzenleute der GIA lebend oder sogar tot in ihre Hände zu bekommen: Die Philosophie der extrem gewalttätigen, sektenähnlichen Gruppierung sah vor, dass ein Kampf nur siegreich oder mit dem Tod enden könne. Und die GIA sammelten ihre Leichen ein oder verbrannten ihre Finger, damit keine Identifizierung der Toten durch deren Abdrücke mehr gelingen könne. Dadurch sollte ein Mythos der "Unbesiegbarkeit" aufrecht erhalten werde. Während der ersten Jahre ihrer Existenz, von 1992 bis 1996, hatte ein "Emir" der Dschamaa al-islamiya al-mossalahane, wie die Gruppen auf arabisch hießen, allerdings faktisch nur eine Lebenserwartung von durchschnittlich sechs Monaten. In diesem Zeitraum fielen die meisten im Kampf mit den von ihnen taghout (Götzenanbeter) genannten staatlichen Kräften, eine Minderheit fiel auch blutigen "Säuberungen" im Inneren der GIA zum Opfer.  

Die GIA: Guerilla oder Hooligantum?  

Im Gegensatz zu islamistischen Organisationen in anderen Kontexten praktizierten die GIA jedoch so gut wie nie die "Technik" des Selbstmordattentats. Das hängt damit zusammen, dass diese Strömung des bewaffneten Islamismus in Algerien in einer Periode aufkam, als ihre Aktivisten allgemein von einer Erwartung des herannahenden baldigen Sieges ausgingen, anstatt sich subjektiv im Kampf gegen ein übermächtiges Unrecht zu wähnen. Die kollektive Fantasie der Anhänger der GIA oder verwandter Gruppen war ferner stark durch eine verzerrte, verfälschende "Erinnerung" an den algerischen Befreiungskrieg von 1954 bis 62 geprägt.  

Der Unabhängigkeitskampf gegen den französischen Kolonialismus - der ein politischer und kein religiöser Kampf gewesen war - wurde im Algerien der 70er und 80er Jahre in Schulbüchern und im Unterricht oftmals nachträglich als ein Krieg "für den Islam" dargestellt. Das hängt damit zusammen, dass die regierende Nationale Befreiungsfront (FLN) ihre ursprünglich teils marxistischen, teils auf ein etatistisches nationales Entwicklungsmodell bezogenen Vorstellungen in jenem Zeitraum zunehmend durch einen "identitätsbezogenen" national-religiösen Diskurs austauschte und dabei das Bildungssystem zunehmend religiösen Kräften überließ. Ursächlich dafür waren das Scheitern des Versuchs, eine vom westlichen Imperialismus unabhängige Ökonomie aufzubauen, und die immer konservativer werdende Logik einer mehr und mehr von Korruption und Autoritarismus durchsetzten Staatspartei. Deren Eliten wiederum legitimierten ihren im Laufe der Jahre angehäuften Reichtum damit, dass sie angeblich eine so wichtige Rolle im Befreiungskampf gespielt hätten.  

Diese nachträgliche Wahrnehmung des Krieges, der zur Gründung des modernen Algerien geführt hatte, durch die heranwachsende männliche Jugend prägte die bewaffneten Gruppen, die Anfang der 90er Jahre entstanden, nachdem die Parteistrukturen des FIS (Islamischen Rettungsfront) durch die Verhaftung der führenden Kader enthauptet worden waren. Durch einen vermeintlichen Glaubenskrieg schnell Reichtum und Reputation zu erlangen, das war die prägende Vorstellung dieser jungen "Kämpfer". Viele von ihnen hatten noch zwei Jahre davor eher von Arnold Schwarzenegger oder Sylvester Stallone als von Mohammed geträumt, wie der französisch-algerische Forscher Luis Martinez beobachtete.  

Dem politisch strukturierten Islamismus gerieten diese autonom agierenden, bewaffneten Gruppe deshalb schnell außer Kontrolle. Diese stellten zunächst eine Art Hooliganismus mit Kalaschnikow und eher oberflächlicher ideologischer Legitimation dar. Dieser machte sich im Rahmen eines anfänglich weitgehend unkontrollierten Krisenprozesses breit, vor dem Hintergrund des Zusammenbruchs der vormaligen staatssozialistischen Ökonomie.  

Vor 10 Jahren: Wendung im Bürgerkrieg?  

Vor genau zehn Jahren sah es noch so aus, als ob dieser Krisenprozess zu Veränderungen des Regimes führen oder zumindest von politischen Kräften in diesem Sinne genutzt werden könne. Ali Belhadj, der "radikale" Chefideologie des FIS, der damals vom Regime ­ das unter Druck stand und zu verhandeln suchte ­ aus seiner Gefängniszelle in Blida befreit worden war und in Algier unter Hausarrest stand, schickte im Herbst 1994 der GIA-Führung Schreiben, in denen er sie zum Durchhalten und zu verstärkten Kampfanstrengungen aufforderte. Daraufhin landete er wieder im Gefängnis. Kurz darauf eröffnete derjenige Teil der politischen Elite Algeriens, der damals nicht zum engeren Zirkel der Macht gehörte, in Rom unter internationaler Aufsicht Verhandlungen mit dem FIS, unter Vermittlung der katholischen Gemeinschaft von SantŒEgidio.  

Diese führten am 13. Januar 1995 zum Abschluss des so genannten "Vertrags von Rom". Auf der einen Seite standen die ehemalige Staatspartei FLN, die Berberpartei FFS ­ eine Mitgliedsorganisation der so genannten Sozialistischen Internationale, des Zusammenschlusses sozialdemokratischer Parteien ­ und einige kleinere Formationen. Auf der anderen Seite unterschrieben führende Kader des FIS, die in Deutschland sowie den USA im Exil lebten. Einer von ihnen, Anouar Haddam, der den FIS in Washington vertrat und damals auch Kontakte ins dortige Außenministerium hatte, veröffentlichte aber in jenen Tagen auch Bekennerschreiben der GIA. So übernahm er für ein GIA-Attentat mit über 50 zivilen Toten am 30. Januar 1995 die politische Verantwortung.  

Der Contrat de Rome sollte angeblich, unter den Fittichen wichtiger Teile der politischen Klasse Europas und der USA, einen Ausweg aus der damaligen Bürgerkriegssituation offerieren: Militärs, FIS und andere Kräfte sollten sich am Runden Tisch über Modalitäten eines künftigen Machtübergangs einigen. Doch in Wirklichkeit handelte es sich lediglich um einen Formelkompromiss. Um ihn zu erreichen, musste der FIS einigen Allerweltserklärungen zu demokratischen Prinzipien zustimmen ­ nachdem er zuvor stets betonte hatte, die göttliche Souveränität sei die Quelle politischer Macht und nicht die Volkssouveränität. Im Gegenzug erreichte er, dass auch etwa das Bekenntnis zum "Vorrang des legitimen Gesetzes" in den Text aufgenommen wurde.  

Man könnte mit etwas Naivität annehmen, dass damit etwa an das Naturrecht als Quelle unveräußerbarer Rechte des Menschen gedacht sei. Was der FIS darunter verstand, war aber glasklar: das angebliche göttliche Recht. Die Islamistenpartei weigerte sich zunächst, die französische Textfassung zu unterzeichnen. Daraufhin unterzeichnete der FIS aber eine arabische Textversion. Darin wird das "legitime Gesetz" jedoch mit ­ Scharia übersetzt.  

Damit war klar, dass es dem FIS lediglich um eine Legitimierung seines Machtanspruchs ging. Die algerischen Militärs ihrerseits waren nicht gewillt, einen Teil ihrer Macht abzugeben, und verweigerten prinzipiell ihre Zustimmung zu einem solchen Runden Tisch. Damit war das Projekt gestorben. Unter linksliberalen und auch einigen linken Intellektuellen in Europa geistert das Gedenken an den "Vertrag von Rom" aber noch bis heute als angebliche "verpasste Chance" zu einer friedlichen, demokratischen Lösung herum. So war der Kasseler Professor für internationale Beziehungen Werner Ruf jahrelang ein glühender Verfechter des "Vertrags von Rom".  

Konkurrenz zwischen zwei Herrschaftsstrategien  

Die europäischen Politiker waren lange Jahre gespalten. Die französischen Konservativen unterstützten etwa die Militärs, die in Algerien für den Erhalt der bestehenden Oligarchie kämpften. Und sie machten sich ihre Vision der Dinge zu eigen, um in Frankreich Sicherheits- und Ausnahmegesetze gegen die "gefährliche Masse der Einwandererbevölkerung" durchzusetzen. Dagegen unterstützten die französischen Sozialdemokraten ­ mehrheitlich ­ das Vorgehen von FLN und FFS sowie den "Vertrag von Rom". Diese Spaltung entsprach von Anfang an jener, die auch durch die Reihen der algerischen Oligarchie ging. Denn während ein Teil von ihr den Islamismus als gefährliche Herausforderung der Macht der Oligarchie begriff, verstand eine andere Fraktion ihn als potenzielle, sozial konservative Stütze der Ordnung. Der Islamismus mit seinem "moralisierenden" Anspruch konnte ihrer Auffassung nach "die Leute an die Arbeit zurückbringen".  

Diese Spaltung reichte bis in die höchsten Kreise der algerischen Armee hinauf. Dabei handelte es sich von Anfang an nicht um einen Konflikt zwischen Herrschaft und Emanzipation, sondern um den zwischen zwei konkurrierenden Herrschaftsstrategien. Die Anhänger des einen Flügels nannte man éradicateurs (Ausmerzer), jene des anderen réconciliateurs (Aussöhner). In der algerischen Elite ist dieser Streit heute entschieden, aus einem banalen Grund: Der radikale Islamismus hat das Ringen um die Macht in den 90er Jahren definitiv verloren, und auch auf internationaler Ebene spüren die algerischen Militärs seit dem 11. September 2001 Rückenwind. Dennoch hat das jetzige politische Machtzentrum in Algier auch Bestandteile der réconciliateur-Strategie in seine Optionen aufgenommen, da der 1999 angetretene Präsident Abdelaziz Bouteflika zwecks Beendigung des Bürgerkriegszustands auch mehrere "Versöhnungsangebote" an den islamistischen Untergrund gerichtet hat. Beispielsweise das (auf sechs Monate) zeitlich befristete Amnestiegesetz von 1999/2000, dem eine Verhandlung mit Kadern des FIS voraus gegangen ist.  

Das politische Scheitern der bewaffneten Gruppen  

Die reaktionäre Utopie der bewaffneten Islamisten unterschiedlicher Schattierungen ist gescheitert. Aber nicht vorrangig deswegen, weil die Armee (bzw. ihr den éradicateurs zuneigender Teil) einen militärischen Sieg über ihn errungen hätte. Sondern weil die soziale Basis des radikalen Islamismus spätestens mit dem Aufkommen des GIA-Terrors zerbrochen ist. Schon davor zeigte sich, dass die große Mehrzahl der Leute nicht so leben mochte, wie die radikalen Islamisten es ihnen ­ Regeln, die aus dem 7. Jahrhundert stammten, buchstäblich folgend ­ vorschreiben wollten. Ihnen ist es zu verdanken, dass weder FIS noch GIA Siege davontrugen: Die Lehrerinnen und die Schüler gingen auch weiter zum Unterricht, auch wenn sie als taghouts (Götzenanbeter) mit dem Tode bedroht wurden. Die Frauen gingen auch weiter zur Arbeit. Und die öffentlich Bediensteten gaben nicht ihre Jobs auf, auch wenn ihnen vorgeworfen wurde, dem "gottlosen Staat" zu dienen.  

Allmählich beginnt auch der politische Diskurs sich darauf einzustellen, dass die gesellschaftlichen Realitäten sich verändert haben. 20 Jahre hindurch, seit dem Aufkommen des politischen Islamismus in den Achtzigern, hatte die Staatsmacht ein Doppelspiel gefahren: Er übernahm viel von dem "Moralisierungs"anspruch dieser reaktionären Opposition, wollte ihr aber gleichzeitig nicht die Macht abgeben.  

Noch im Januar dieses Jahres aber soll das Kabinett, kurz darauf das algerische Parlament über eine Entschärfung des Code de la famille, des 1984 "islamisierten" Frauen- und Familiengesetzes, entscheiden. Die Frau wird dann nicht mehr den legalen Status einer Minderjährigen unter der Obhut ihres Vaters oder Ehemanns haben. Ehefrau und Ehemann werden zukünftig im Scheidungsrecht einander gleich gestellt werden. Die Reform ähnelt sehr stark jener, die bereits im Januar vorigen Jahres vom marokkanischen Parlament angenommen wurde.  

In beiden Fällen ist die Ursache dieser stückweisen, aber doch spürbaren Lockerung des repressiven rechtlichen Status der Frauen doppelter Natur. Vor allem in Algerien, mehr als im konservativeren Marokko, hat es immer aktive Widerstände von Frauenvereinigungen gegen die reaktionären Gesetze gegeben. Gleichzeitig machten auch die Europäische Union oder die Weltbank Druck auf die Staaten, Reformen zur gesellschaftlichen Stellung der Frau vorzunehmen. Ihnen geht es nicht um Emanzipation, sondern im Kern um die Ausweitung des Sektors der modernen Lohnarbeit auf Kosten dessen der traditionellen, unbezahlten Familienarbeit.  

Früher hätte eine solche Kombination aus innerem und äußerem, unterschiedlich motiviertem Druck den Islamisten eine Steilvorlage geliefert, um die emanzipationswilligen Frauen als "fünfte Kolonne der kolonialistischen kulturellen Aggression" anzuprangern. Heute dagegen stehen die Islamisten, die freilich gegen das Reformvorhaben wettern und schimpfen, eher in der Defensive.  

Zugleich wurden in der Nacht vom 3. zum 4. Januar im zentralalgerischen Biskra relativ harte Urteile im Berufungsprozess gegen die namentlich identifizierten Urheber schwerer Gewalttaten gegen Frauen gefällt. Im Juli 2001 hatte ein Lynchmob in einem etwas abseits liegenden Viertel der Ölarbeiterstadt Hassi Messaoud, wo die Elendsprostitution grassiert, eine Gruppe alleinstehender Frauen zwischen 15 und 30 überfallen und zum Teil schwer verletzt, vergewaltigt und gefoltert (vgl. dazu http://www.nadir.org/nadir/periodika/jungle_world/_2001/32/16a.htm). Im ersten Prozess, im Juni 2002 in der Saharastadt Ouargla, waren die Anklagepunkte der Vergewaltigung und des Mordversuchs fallen gelassen worden und relativ milde Strafen wegen Unruhestiftung und Diebstahls gefällt worden.  

Anders beim jetzigen Revisionsverfahren: Zwanzig mal wurde die Höchststrafe von 20 Jahren ausgesprochen, gegen Angeklagte, die meist flüchtig sind. Gegen drei anwesende Beschuldigte wurden Haftstrafen zwischen 5 und 10 Jahren verhängt. Dieses Mal wurde auch die sexuelle Gewalt in der Urteilsbegründung genannt. Eine Premiere in der algerischen Justizgeschichte, und ein hoffnungsfrohes Zeichen für die elf Nebenklägerinnen, die ­ anders als eine Reihe anderer ­ bis zuletzt ihre Klage nicht zurückzogen.  

Aber ist auch der "Tod" der islamistischen (reaktionären) Utopie?  

Bedeutet dies, dass das politische Projekt der (radikalen) Islamisten in Algieren "tot" und definitiv gescheitert sei? Ja und nein.  

Unzweifelhaft stimmt es, dass die reale Erfahrung mit dem Agieren der ­ bewaffneten ­ Islamisten im sozialen Alltag während der neunziger Jahre eine überaus abschreckende Wirkung aus der Bevölkerung hatte. Der Rückgang der Unterstützung für die islamistischen Militanten und die Wende im algerischen Bürgerkrieg gehen zuerst auf diese Ursache zurück. Aus dieser Erfahrung resultiert, wohl noch auf eine längere Sicht und besonders in den von schweren Massakern betroffenen Landesteilen, eine gewachsene generelle Skepsis nicht nur gegenüber islamistischen, sondern allen kollektiven politischen oder sozialen Bewegungen. Dieses Misstrauen trifft nicht nur den radikalen Islamismus, sondern auch andere gesellschaftliche Kräfte und Organisationsformen.  

Gleichzeitig ist festzustellen, dass die ehemals ihr Hoffnung auf die Islamisten setzenden Bevölkerungsgruppen zum Teil ihre Wege gefunden haben, mit der subjektiven Erfahrung umzugehen, ohne deswegen ihr Weltbild einstürzen zu lassen. Aus dem tiefen Unglauben, dass religiöse Menschen «so etwas» wie die Massaker anrichten könnten ­ für viele Gläubige eine wohl kaum zu ertragende Vorstellung ­ heraus wurden in einem Teil der islamistischen Basis Mittel zur ideologischen Verarbeitung des Geschehenen gefunden.  

Während des Massakersommers 1997 etwa liefen in Algerien in Windeseile Gerüchte um, wonach Truppen von wilden Gestalten umherzögen und die Massaker begingen, die sich die Zeigefinger ­ den Finger, mit dem man auf Gott zeigt ­ abgeschnitten und die Haare mit Henna rot gefärbt hätten. Man erkenne sie daran, dass sie wilde Flüche gegen Gott ausstießen und Allah akfar (ungefähr: Gott ist der Ungläubigste) statt Allah akbar (Gott ist am größten) riefen. Diese Vorstellung, die nichts mit der Wirklichkeit zu tun hatte, erfüllte die Funktion, die vorhandenen Ängste zu rationalisieren: Nicht Gottes- sondern Teufelswerk seien die Massaker. Deswegen können sie dann subjektiv aber auch kaum noch als das Werk von Islamisten wahrgenommen werden .  

Ein weiterer Grund dafür, dass solche Gerüchte (die auch der Unterfütterung der diversen Verschwörungstheorien, die über die Urheberschaft der Massaker im algerischen Bürgerkrieg kursieren, dienen) Nahrung finden, hängt mit einem verbreiteten politischen Ohnmachtsgefühl zusammen. Drei Jahrzehnte einer übermächtigen staatlichen Einheitspartei, in denen die Sécurité militaire als politische Polizei erhebliche Vollmachten hatte und hinter zahlreichen Manipulationen steckte, gingen nicht spurlos an den Menschen vorbei: Ungewohnt, dass politische Kämpfe ausgestragen werden, die sich lange Zeit hinter der monolithischen Fassade der Staatspartei abspielten, halten viele Algerier noch heute politische oder gesellschaftliche Konflikte generell für eine bloße Inszenierung. Daraus resultiert eine verbreitete Neigung, entweder <le pouvoir> ­ die Staatsmacht, die vermeintlich zu allem fähig scheint ­ hinter allen erdenklichen gesellschaftlichen Erscheinungen stecken zu sehen, oder aber «das Göttliche» respektive «das Böse» als Erklärungshilfe heranzuziehen.  

Religiöse Vorstellungen als solche prägen nach wie vor weite Teile der algerischen Gesellschaft. Daraus können aber noch keine direkten politischen Schlussfolgerungen gezogen werden. Die Tendenz dazu, «im nächsten Schritt» religiöse Erklärungsmuster auch zur Deutung gesellschaftlicher Phänomene und Probleme heranzuziehen, ist ihrerseits Schwankungen unterworfen.  

Das war in den letzten Jahren vor allem anhand der verschiedenen Naturkatastrophen zu beobachten, die Algerien heimsuchten ­ wobei widersprüchliche Feststellungen zu machen sind. Im Vorfeld der auf der Nordhalbkugel zu beobachtenden Sonnenfinsternis vom 11. August 1999 beispielsweise war offenkundig, wie stark irrationale und mit «Gottes Willen» oder «göttlicher Strafe» operierende Erklärungsmuster in Teilen der Bevölkerung noch vorhanden waren ­ und damals in verantwortungsloser Weise auch durch einen Teil der (Sensations-)Presse unterhalten wurde. Diese Erfahrung lässt sich aber nicht auf alle größeren, einschneidenden Ereignisse der letzten Jahre übertragen.  

So wurde am 10. November 2001 Bab el-Oued, ein innerstädtisches Armenviertel in Algier, von einer verheerenden Regenkatastrophe heimgesucht. Dabei rutschten ganze Häuser in Folge der sintflutartigen Regenfälle weg, und zahlreiche Menschen wurden unter Strömen von Schlamm, Schutt und in den Wasserfluten mitgeführten Autowracks begraben. Hauptursache dafür war die Vernachlässigung von Bebauungsplänen und Sicherheitsvorschriften in den Stadtteilen, die oberhalb von Bab el-Oued an den Anhöhen von Algier liegen; deswegen konnte sich eine reißende Flut bilden, die sich im tiefer liegenden Bab el-Oued ins Mittelmeer ergoss. Daneben konnte den Behörden Schlamperei vorgeworfen werden, weil diese den Katastrophenschutzplan viel zu spät ausgelöst hatten. Rund 800 Menschen starben, und 10.000 wurden obdachlos. In dieser Situation war bemerkenswert, dass ­ nach übereinstimmenden Aussagen ­ fast alle Betroffenen nach rationalen Erklärungen suchten und das Agieren der Behörden sowie der Baumafia ins Visier nahmen.  

Dass die Erklärung der Katastrophe als «Strafe Gottes» so gut wie keine Anhänger fand, lag aber auch an der Regierung und ihrem billigen Versuch, sich darauf hinauszureden: Präsident Abdelaziz Boutefliqa hatte in seiner ersten Erklärung geäußert, Gott sei für das Geschehen verantwortlich, und gegen «göttlichen Willen» seien die Menschen «nun einmal machtlos». Deswegen wurde er bei seinem Besuch in den Trümmergebieten in den folgenden Tagen schrecklich ausgepfiffen. Das bedeutet nicht, dass Islamisten nicht ­ indirekt ­ doch ein bisschen Nutzen daraus gezogen hätten, aber auf einer anderen Ebene: Manche Bewohner meinten im Nachhinein, ihr Stadtteil sei vom Regime deswegen «gestraft» worden, weil er 1991 mehrheitlich FIS wählte.  

Andersartige Beobachtungen konnten nach dem Erdbeben vom 21. Mai 2003 im östlichen Umland von Algier mit Schwerpunkt in Boumerdès, das rund 2.500 Menschenleben kostete, angestellt werden. Zahlreichen Berichte von vor Ort bestätigen, dass die Katastrophe von vielen Menschen spontan als Ausdruck göttlichen Zorns interpretiert wurde. Sicherlich auch, weil ihnen von einflussreicher Seite keine rationale Erklärung angeboten wurden und die Behörden viel zu spät wirksame Katastrophenhilfe leisteten; Boutefliqa musste auch dieses Mal einen sehr unangenehmen Empfang erleben und wurde aus einem Vorort von Boumerdès, Zemmouri, mit Steinwürfen vertrieben . Dabei war auch hier zumindest die Missachtung von Bauvorschriften flagrant, die dazu führte, dass, um Geld zu sparen, Häuser errichtet wurden, die beim Erdstoß sofort entzwei rissen. Die Angst vor weiterer «göttlicher Rache» führte dazu, dass viele Frauen, die bisher ihr Kopfhaar unverhüllt trugen, noch am selben Wochenende ­ das Erdbeben passierte an einem Donnerstagabend, also am Vorabend des wöchentlichen Gebets- und Ruhetags, dem europäischen Samstagabend entsprechend ­ den Hijab anlegten. Verschiedentlich war gegenüber jenen, die dem nicht folgten, zu hören: «Wegen Leuten wie Euch werden wir bestraft!» Diese Welle schwappte auch auf die Hauptstadt Algier über, die von der Erdbebenkatastrophe mit betroffen war. Religionsminister Bouabdellah Ghlamallah musste sogar damit drohen, solche Vorbeter in den Moscheen zu sanktionieren, «die sich für die Bestrafung von Frauen aussprechen, die das Tragen des Hijab verweigern, weil sie die Quelle des Unglücks der Katastrophenopfer seien» .  

Manche algerische Zeitungen suchten die Ursache dafür teilweise darin, dass die Islamisten sehr aktiv in der Verteilung von Hilfsgütern und spontanen Hilfsdiensten gewesen seien. Doch diese Version wird von anderen Beobachtern in Frage gestellt oder allenfalls als Teil der Wahrheit angesehen, da keineswegs allein die Islamisten, sondern zahllose algerische Bürger aller Richtungen spontan nach Boumerdès eilten und die Hilfe organisierten. Daran allein kann es also demnach nicht liegen, dass das Bedürfnis nach auf «höheren Willen» gestützten Welterklärungen sich nach dem Erdbeben von 2003 derart ausbreitete.  

Das Aktivieren religiöser Weltvorstellungen zum Zweck der Erklärung von Ereignissen, die natürliche und vor allem gesellschaftliche Ursachen haben, wird auf absehbare Zeit ein gesellschaftlicher Faktor in Algerien bleiben. Zumal die Hoffnung auf kollektive soziale und politische Lösungen für den Berg an Problemen, den es zu bewältigen gilt, schwach ausgeprägt ist.  

Dennoch herrscht heute ein verbreitetes Misstrauen und Zögern gegenüber solchen Diskursen, die eine direkte Verbindung zwischen diesen religiösen Vorstellungen und politischem Handeln suggerieren ­ also in Gestalt der Vorstellung, unter Berufung auf göttlichen Willen lasse sich eine perfekte Gesellschaftsordnung errichten, notfalls mit der Waffe. Auf absehbare Zeit wird diese Form des politischen Totalitarismus kaum Chancen haben, erneut eine massenhafte, aktive Anhängerschaft mobilisieren zu können: Dafür sitzt das Misstrauen heute wahrscheinlich in weiten Kreisen zu tief ­ es sei denn, dass dramatische Ereignisse oder eine drastische Verschlimmerung der sozialen Lage breiter Bevölkerungskreise hin zu einer neuen unmittelbaren Politisierung der religiös unterlegten Welterklärungen und Hoffnungen drängen.  

Gleichzeitig bleibt die Abwesenheit einer anderen anziehungskräftigen gesellschaftlichen Alternative, progressiver Natur, der wichtigste Verbündete des politischen Islam. Eine solche gesellschaftliche Bewegung ist heute als die Menschen aufrüttelnder oder organisierender Faktor nicht in Sicht. Und doch herrscht keineswegs soziale Friedhofsruhe in Algerien; es gibt zahlreiche Revolten und Bewegungen, in denen sich das Interesse der Marginalisierten und Rechtlosen spontan ausdrückt. Die Islamisten müssen ein solches Aufbegehren für konkrete soziale Interessen ebenso fürchten wie das vorhandene Regime, zeigt es doch, dass diese gesellschaftliche Ursachen haben und gesellschaftlich gelöst werden können.

Editorische Anmerkungen

Der Autor stellte uns seinen Text am 31.1.2005 zur Veröffentlichung zur Verfügung.