Allgemeine Geschichte des Sozialismus und der sozialen Kämpfe

von
Max Beer
02/05

trend

onlinezeitung
VI. RÜCKWIRKUNG AUF DEUTSCHLAND Zur Kapitelübersicht

1. Wirtschaftliches Aufleben und politische Bedrückung.

Die Verheerungen des Dreißigjährigen Krieges waren in den ersten Jahren des 18. Jahrhunderts in Stadt und Land der deutschen Gaue noch schmerzhaft sichtbar. Ganze Dorfschaften in Mittel- und Süddeutschland lagen verödet; viele Städte waren fast entvölkert; Handel und Gewerbe schienen dem Verfall preisgegeben zu sein; nur in Leipzig und Hamburg regte sich der Handelsgeist: sie — und nicht die zahlreichen Höfe der weltlichen und geistlichen Fürsten — waren die Oasen des verwüsteten nationalen Lebens. Schwer hatte es das vielgeprüfte deutsche Volk, seine Wunden zu heilen, denn die Verschwendungssucht der Fürsten, die Habgier der Grundherren und die Autoritätssucht und Pedanterie der Beamtenschaft bedrückten es mit Lasten und unterbanden den Heilungsprozeß. Erst seit der Mitte des 18. Jahrhunderts wurde es besser. Die industrielle Revolution in England und Frankreich, das Aufblühen der Landwirtschaft in England und Holland, die französische Aufklärungsliteratur und die zu Ehren gekommene Nationalökonomie wirkten materiell uid geistig auf die deutschen Lande günstig zurück. Teils durch die unterstützende Hand der Regierungen, insbesondere des mit der westeuropäischen Kultur vertrauten Friedrich des Großen, teils durch die erstarkte Initiative der deutschen Landwirte, Gewerbetreibenden und Kaufleute hob sich das Wirtschaftsleben; neue Produktionsmethoden wurden eingeführt, Leinen- und Seidenmanufaktur gefördert, die Landwirtschaft mit neuen Betriebsmethoden bekannt gemacht. In den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts entstanden landwirtschaftliche Vereinigungen und Zeitungen („Breslauer ökonomische Nachrichten", „Berliner Landwirtschaftsbibliothek", „Journal für Gartenkunst", und sogar eine „ökonomische Enzyklopädie").

In Hamburg gründete sich eine „Gesellschaft zur Beförderung der Künste und nützlichen Gewerbe". Der Hafenverkehr war dort schon ziemlich lebhaft, insbesondere seit der Unabhängigkeitserklärung Amerikas (1776), da die Amerikaner die englischen Häfen mieden und deutsche aufsuchten. Etwa 2000 Schiffe liefen jährlich in Hamburg aus und ein, wovon allerdings nur 150—160 eigene; ebenso entstanden dort Seeassekuranzen, die angeblich für 60—120 Millionen Taler Policen jährlich ausstellten. 

Die Sitze der Leinenmanufaktur waren Schlesien, die Oberlausitz, Bielefeld, das Osnabrücksche und Mindensche Gebiet. Man schätzte die Leinenausbeute Deutschlands auf jährlich 20 Millionen Taler.   Sehr interessant sind die Angaben des immer noch lesenswerten Justus Möser. Er klagt (1769) über den ^ Niedergang des deutschen Handwerks infolge der Konkurrenz der Fabriken. „Diesem Übel" — sagt er — „kann nicht vorgebeugt werden, oder reiche Leute müssen Handwerker werden. Da der Gold-und Silberfabrikant, der Hut- und Strumpffabriker an vielen Orten in Palästen wohnen und alle Vorzüge genießen, welche Erfahrung, Klugheit, Aufführung und Reichtum gewähren können: warum sollte ein Meister Hutmacher und ein Meister Strumpfwirker, wenn er es so hoch wie jene bringt, nicht eben das Ansehen erlangen können ?..." (Justus Möser, Auswahl aus seinen Schriften, 1914, S. 42 ff., 65 ff).

Anziehend ist auch die Schilderung Georg Forsters (1790) über die Fabrikbetriebe in Aachen und Burscheid: „Der Druck und der Haß gegen die Protestanten ist die Ursache, daß man so viele Fabriken außerhalb Aachens antrifft. Burscheid, wo die heißen Quellen sind, hat große Tuch- und Nähnadelfabriken. Ebenso Vaals. Wie freute es mich, Elberfeld, Vaals und Smyrna zusammengenannt zu hören l Denn die hiesigen Tücher gehen über Land nach Triest und Venedig und von da nach der Türkei. Die Qualität ist vortrefflich und man verarbeitet nur spanische Wolle von der feinsten Art..." (Georg Forster, Briefe und Tagebücher, 1790. Ausgabe Leitzmann, Halle 1893, Seite 17, 139.)  

Das Berg- und Hüttenwesen Schlesiens machte Fortschritte; es sollen dort jährlich Metalle im Werte von 12—14 Millionen Talern hergestellt worden sein. Um das Jahr 1780 erzeugte Sachsen schon 70000 Dutzend Strümpfe und Handschuhe. Der Umsatz der Leipziger Messe wurde auf jährlich 18 Millionen Taler geschätzt. 

Alles in allem genommen, offenbarte das letzte Viertel des 18. Jahrhunderts einen Wiederauf schwung der seit dem Dreißigjährigen Kriege an der Zerfahrenheit des politischen Lebens krankenden deutschen Volkswirtschaft. Dieser wirtschaftlichen Betriebsamkeit und Schaffenskraft entsprach das Hervorbrechen der geistigen Energien in Literatur, Theologie und Philosophie, die von einem vorwärtsstrebenden, fortschrittlichen und liberalen Geiste beseelt wurden. Um so schmerzhafter empfanden ihre Dichter und Denker auch jetzt noch die politische Rückständigkeit, die Servilität, die Bedrückung und Knechtschaft, in der die Landesfürsten und der Adel das Volk hielten. Einer der weisesten und politisch gebildetsten Dichter jener Zeit, Chr. M. Wieland, entwarf ihr Bild im „Goldenen Spiegel", indem er sagt: „In den Augen der kleinen Tyrannen hat das Volk keine Rechte und die Fürsten keine Pflichten. Sie behandelten es als einen Haufen belebter Maschinen, welcher für sie zu arbeiten und keinen Anspruch auf Ruhe, Gemächlichkeit und Vergnügen hätte. So schwer es ist, sich die Möglichkeit einer so unnatürlichen Denkweise vorzustellen, so ist doch nichts gewisser, als daß die Fürsten es dahin gebracht haben, sich selbst als eine Klasse höherer Wesen anzusehen..., denen die Natur zu willkürlichem Gebote stehe; denen alles erlaubt sei, und von welchen niemand etwas zu fordern habe. Die Knechtschaft der Untertanen ging so weit, daß sie jeden Fall, wo man ihnen ausnahmsweise die allgemeinen Rechte der Menschheit angedeihen ließ, als eine unverdiente Gnade ansehen mußten." In diesem trüben Bilde ist kein Strich zu schwarz gemalt. Wieland mag vornehmlich süddeutsche Zustände im Auge gehabt haben, aber auch in Preußen unter Friedrich dem Großen war an eine freimütige politische Kritik nicht zu denken. Der tapfere Lessing schreibt hierüber an Nicolai: „Lassen Sie doch einmal einen in Berlin versuchen, dem vornehmen Hofpöbel die Wahrheit zu sagen, lassen Sie einen in Berlin auftreten, der für die Rechte der Untertanen gegen Aussaugung und Despotismus seine Stimme erheben wollte, wie es jetzt doch sogar in Frankreich und Dänemark geschieht, und Sie werden bald die Erfahrung haben, welches Land bis auf den heutigen Tag das sklavischste Land von Europa ist." 

Aus dem Gegensatz zwischen wirtschaftlichem Aufstreben und politischem Druck sog die klassische deutsche Literatur einen großen Teil ihrer Kraft. Sie ist jedoch vornehmlich bürgerlich. Schiller ist ihr klassischer Vertreter; er war die Seele des letzten Viertels des 18. Jahrhunderts, der Entstehungszeit des modernen deutschen Bürgertums, während Goethes Geist ganze Jahrhunderte umfaßte: von der Renaissance bis tief ins 19. Jahrhundert hinein. Andere Geister wandten sich ganz der Ästhetik zu und blieben in der Renaissance stecken, wie Winckelmann und Heinse. In wenigen Jahrzehnten drängte sich in den deutschen Landen die ganze seit dem 15. Jahrhundert geschaffene Geistesarbeit Westeuropas zusammen, als wollte man mit allen Kräften das Versäumte mit einem Schlage nachholen. Auch Schiller befaßte sich lebhaft mit ästhetischen Problemen, aber er blieb doch gut bürgerlich-sittlich und erblickte „im wohltätigen Mittelstande den Schöpfer unserer ganzen Kultur, in dem ein dauerhaftes Glück für die Menschheit heranreife" (Akademische Antrittsrede: „Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte", Jena 1790). Doch zeigen sich bemerkenswerte sozialkritische Lichtblicke in Schillers Briefen an den Herzog von Augustenburg (1793), wo es einmal heißt: „Der Mensch ist noch sehr wenig, wenn er warm wohnt und satt gegessen hat, aber er muß warm wohnen und satt zu essen haben, wenn sich die bessere Natur in ihm regen soll." Im übrigen erschöpften sich die überall auflodernden sozialkritischen Tendenzen dieser Zeit fast ganz in akademischen Spekulationen, wofür auch die — von Anarchisten gern in Anspruch genommene — Schrift des großen Gelehrten Wilhelm von Humboldt, der dem Kreise Schillers und Goethes nahe stand und kurze Zeit preußischer Kultusminister war, „Grenzen der Wirksamkeit des Staates", Zeugnis ablegt. 

2. Kommunismus bei Wieland und Heinse. 

Ebenso wie das wirtschaftliche Aufleben, verdankt das Denken und Dichten Deutschlands viel den Anregungen englischer und französischer Denker und Dichter. Die deutsche Aufklärungsphilosophie, das Drama, der Roman, die Rechtsphilosophie, die politische und soziale Kritik seit Mitte des 18. Jahrhunderts wurden von Locke, Shaftesbury, Richard-son. Fielding, Hume, Rousseau beeinflußt. Sogar die Philosophie Kants wäre ohne Occam, Locke, Berkeley und Hume unmöglich gewesen. Man sieht aus dieser Aufzählung, daß der französische Einfluß im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts abnahm, während der englische stärker wurde. 

Solange das deutsche Bürgertum noch schwach war, herrschte der französische Einfluß vor, denn die landesfürstlichen Höfe dünkten sich kleine Versailles; jeder Fürst ahmte Ludwig XIV. nach; was aus Paris kam, deuchte ihnen eine Stütze des Absolutismus. Die Lage änderte sich seit der Mitte des 18. Jahrhunderts: das deutsche Bürgertum begann sich zu regen und bald setzte der literarische Kampf gegen das französische höfische Drama und überhaupt gegen die französischen Einflüsse ein. Man entdeckte den bürgerlichen Charakter der englischen Literatur und zog diesen vor. Von den Franzosen blieb nur Rousseau, der selber gut bürgerlich war, trotz seiner sozialkritischen Seitensprünge. 

Der Dichter und Kritiker, der diesen Umschwung im Drama, im Spiegel der Zeit, vollzog, war G.E. Les-. sing. Die literarische Opposition gegen den landesherrlichen Despotismus, gegen die Beamtenwillkür und den polizeilichen Kleinkram schärfte das politische Denken und weckte den Sinn für staatswissenschaftliche Probleme, für Verfassungsfragen und Sozialkritiken. Einer der besten literarischen Wortführer dieser Richtung war Chr. M. Wieland (1773—1813), — ein liebenswürdiger Causeur, heiter und geistreich in der Form, ernst und abgeklärt in der Sache und ausgerüstet mit einem erstaunlichen Wissen des Altertums und der westeuropäischen Neuzeit. Für uns kommen von ihm in Betracht „Der goldene Spiegel" (1772) und der „Nachlaß des Diogenes von Sinope". Sämtliche staatswissenschaftlichen und sozialkritisch-psychologischen Probleme werden hierin im westeuropäischen Sinne behandelt, — im Geiste der Aufklärungsphilosophie, des Liberalismus und der Humanität, wie sie in den Jahrzehnten vor der französischen Revolution gelehrt wurden. Es ist selbstverständlich, daß auch Wieland im „Leben nach der Natur" das Ideal erblickte. Er schildert auch eine gewaltlose, zwangsfreie Gesellschaft, die in vollkommener Gleichheit lebt, aber er gibt zu, daß das kommunistische Ideal sich nur innerhalb einer an Bevölkerungzahl geringeren Gesellschaft verwirklichen lasse, während komplizierte Gesellschaften eines Regierungsapparats mit einem weisen Fürsten an der Spitze und menschenfreundlichen Gesetzen bedürfen. Er läßt ein altes Mitglied einer kommunistischen Gesellschaft erzählen: „... Unsere kleine Nation, welche ungefähr aus 500 Familien besteht, lebt in einer vollkommenen Gleichheit, indem wir keines ändern Unterschieds bedürfen als den die Natur selbst, die das Mannigfaltige liebt, unter den Menschen macht. Die Liebe zu unserer Verfassung und die Ehrerbietung gegen die Alten, welche wir als die Bewahrer derselben ansehen, ist hinlänglich, Ordnung und Ruhe: die Früchte übereinstimmender Grundsätze und Neigungen unter uns zu erhalten. Wir betrachten uns alle als eine kleine Familie, und die kleinen Mißhelligkeiten, die unter uns entstehen mögen, sind den Zänkereien der Verliebten oder einem vorübergehenden Zwiste zärtlicher Geschwister ähnlich... Vom 8. bis zum 12. Jahre erhalten unsere Kinder so viel Unterricht, als sie nötig haben, um als Mitglieder unserer Gesellschaft glücklich zu sein. Vom 12. bis zum 20. Jahre sind alle unsere Knaben Hirten, alle unsere Mädchen Schäferinnen. Der Ackerbau beschäftigt die Männer vom 20. bis zum 60. Lebensjahre; die Gärtnerei wird den Alten überlassen. Der Seidenbau, die Bearbeitung der Baumwolle und der Seide, die Wartung der Blumen und die ganze innere Haushaltung gehört unseren Frauen und Töchtern zu." Wächst die Bevölkerung, so werden neue Kolonien angelegt. Die Jünglinge, an denen sich Ruhmbegierde, Ehrgeiz und Unruhe zeigen, erhalten Gelegenheit, die Welt zu sehen und im Auslande ihre Fähigkeiten zu betätigen und geltend zu machen, denn in der kommunistischen Gesellschaft stören diese Anlagen die Sitten der Einfalt und Mäßigkeit, der Gleichheit und Brüderlichkeit (Wieland, Der goldene Spiegel. Redam-Ausgabe 61 ff). 

Wielands Schüler war J.J.Wilhelm Heinse (1749 bis 1803), erfüllt vom Geiste der Renaissance und mit erheblicher literarischer Kraft begabt. In seinem „Ardinghello" (1787), der aus Zwiegesprächen über Kunst und Philosophie besteht und von Liebe zur Antike überströmt, läßt der Verfasser am Schlüsse seines Werkes einen gemäßigt kommunistischen Staat erstehen. Auf einer der griechischen Inseln errichteten einige Personen einen Staat und gaben ihm eine Verfassung nach dem Muster Lykurgs und Platos, wobei jedoch manche Einwürfe des Aristoteles berücksichtigt wurden. (Vgl. oben Teil I, Seite 57—75.) Auch Macchiavellis „Fürst" wurde gelesen, aber nur, „um uns vor diesem zu bewahren". „Platos doppelten Bürgerstand, wo die eine Klasse die Ehrenstellen hat und die andere den Ackerbau treiben soll, vermieden wir weislich, behielten aber die Gemeinschaft der Güter trotz des Aristoteles. Der Haufen Übel, den wir dadurch verbannten, war allzu groß; und der scharfsinnige Prüfer aller zu seiner Zeit bekannten Republiken schien uns hierin die Vorurteile der Erziehung nicht genug abgelegt zu haben. Inzwischen fand noch immer Eigentum statt, nämlich öffentliche Belohnungen; und jedem blieb, was er mit sich brachte, bis ans Ende seiner Tage. Ferner waren die Weiber nach dem erhabenen Schüler des Sokrates, jedoch auch nur gewissermaßen, gemeinschaftlich, und so die Männer; das ist, jedes hatte völlige Freiheit der Person, und alle Gewalttätigkeit wurde hart bestraft. Für gute Ordnung war dabei wohl gesorgt; Männer und Weiber wohnten voneinander abgesondert." Zehn Prozent der Weiber hatten Stimmen bei den allgemeinen Geschäften; in weiblichen Angelegenheiten hing jedoch alles von der Zustimmung der Frauen ab. „So schwang die Liebe in allerhöchster Freiheit ihre Flügel; jedes beeiferte sich, schön und liebenswürdig zu sein... Was die Bevölkerung betraf, so wollten wir uns in der Folge nach dem Spartaner richten, von welchem die erstaunte Priesterin zu Delphi nicht wußte, ob sie ihn als Sterblichen oder Gott begrüßen sollte; die Kinder gehörten dem Staate... Kurz, wir vermieden alle die Unbequemlichkeiten, die Aristoteles und zum Teil schon Aristophanes m ihren ,Ekkleslazusen' bei solchen Einrichtungen berühren." In Heinses kommunistischem Staat gab es noch Sklaven; ebenso wurde die Jugend auf den Krieg vorbereitet. Ganz wie in den antiken kommunistischen Republiken. 

3. Sozial-religiös-ketzerische Strömungen: Weishaupt (Illuminaten). 

Während bei Wieland und Heinse die Antike und die Renaissance ausschlaggebend sind, nimmt das soziale und politische Denken der Illuminaten und Lessings eine religiös-ketzerische Wendung: das mittelalterliche Ketzertum lebt bei ihnen auf, aber es handelt sich in erster Linie nicht mehr um den mani-chäischen Kampf zwischen Gut und Böse, sondern um das Fortschreiten der Menschheit zu einer höheren Stufe, zur geistigen Vollkommenheit, um eine Förderung des göttlichen Planes zur Erziehung der Menschheit, zur Erlösung aus Staatszwang, aus geistigem und wirtschaftlichem Druck.

Dies war das Geheimnis der Illuminaten; Lessing g hingegen sprach diese Gedanken öffentlich aus. °   Die Illuminaten (Erleuchteten) bildeten einen geheimen Orden nach Art der Freimaurer, mit denen u sie vieles gemeinsam hatten. Sie nannten sich ursprünglich Perfektibilisten (Vervollkommner) und wirkten vom Jahre 1776—1784. Ihr Gründer war Adam Weishaupt (1748—1830), ein katholischer Professor des Natur- und kanonischen Rechts auf der Universität zu Ingolstadt, ein früherer Jesuitenzögling, dann ihr Gegner, der sich zur Aufgabe stellte, mit Hilfe der organisatorischen Mittel der Jesuiten das Kirchenchristentum, den Despotismus, die Unwissenheit und Unfreiheit zu bekämpfen und ein Reich der Freiheit und Gleichheit für das ganze Menschengeschlecht zu gründen. Die Mitgliedschaft war geheim, und nur Gelehrte, Dichter, Geistliche, Lehrer, hohe Beamte, Fürsten und sonstige einflußreiche und machtvolle Persönlichkeiten konnten in den Orden aufgenommen werden. Der Illuminatenorden hatte drei Klassen mit mehreren Unterstufen, die darauf berechnet waren, die Mitglieder auszuwählen und nur die fähigsten zu den höchsten Stufen zuzulassen. Dem Orden gehörten zum Beispiel an: Herder, Goethe, der bekannte Berliner Buchhändler Nicolai, die Herzöge von Gotha, Weimar, Braunschweig. Letztere mochten nur den unteren Stufen angehört haben, wo nur von Aufklärung und Bildung, aber nicht von den Endzielen die Rede war. Einer der besten Propagandisten des Ordens in den Jahren 1780—1783 war Freiherr von Knigge (1752 bis 1796), der Verfasser des vielgelesenen Buches „Umgang mit Menschen". Ich bin zur Annahme geneigt, daß auch Lessing den Illuminaten sehr nahe stand oder von deren Lehren wußte; sein Freund Nicolai muß ihn in diese eingeweiht haben. 

Ein charakteristisches Bild der Stimmungen jener Zeit entwirft Knigge, indem er erzählt, daß die „Betrügerei der Pfaffen fast alle Menschen gegen die christliche Religion aufgebracht", aber sie gleichzeitig zu Schwärmern gemacht; auch habe der Despotismus der Fürsten überall als Gegenwirkung einen Freiheitsdrang hervorgerufen (Abgedruckt im „Nachtrag von Originalschriften der Illuminatensekte", München 1787, Teil I, S. 104—05). Diese Strömungen benutzte Weishaupt, um seinen Befreiungsplan zu verwirklichen; sein Pseudonym war bezeichnender weise Spartacus. Da um jene Zeit an eine Organisation der Volksmassen nicht zu denken war, so sollten nur die geistigen Führer der Zeit mit seinen Ideen erfüllt werden, um eine friedliche Revolution durchzu führen. 

Weishaupts Gedankensystem war etwa wie folgt: Die Natur befindet sich in einem Entwicklungsprozeß vom Niedrigsten zum Höchsten; die verschiedenen Arten, Abstufungen und Formen, die die Natur aufweist, sind nur Veränderungen ein und desselben Wesens. Aber auch was nur als eine voll ausgebildete Art erscheint, mag vielleicht wieder die niederste Stufe einer neuen hoheren Veränderung sein. Die Triebfeder dieses Entwicklungsprozesses ist das Bedürfnis. Neue Bedürfnisse erzeugen neue Entwicklungsperioden. „Aus jedem befriedigten Bedürfnis entsteht wieder ein neues, und die Geschichte des Menschengeschlechts ist die Geschichte seiner Bedürfnisse, wie das eine aus dem ändern entstanden; und diese Geschichte, diese Abstammung, diese Entwicklung der Bedürfnisse ist die Geschichte der Vervollkommnung des ganzen Menschengeschlechts, denn nach diesen richten sich Kultur, Verfeinerung der Sitten, Entwicklung der latenten Geisteskräfte; mit der Entwicklung derselben ändert sich zugleich die Lebensart, der moralische und politische Zustand, die - Begriffe von Glückseligkeit, das Betragen der Men-' sehen gegeneinander, ihre Verhältnisse unter sich, die " ganze Lage der jedesmaligen gleichzeitigen Welt." Die unterste Stufe des Menschengeschlechts war die Wildheit, die rohe Natur; gering war der Kreis der Bedürfnisse; dafür aber wurden „Freiheit und Gleichheit: die beiden vorzüglichsten Güter der Menschheit" in voller Fülle genossen. Aber es lag im Plane Gottes und der Natur, die Menschen zu höherer Kultur zu erziehen. Mit der Vermehrung des Menschengeschlechts begann es an Unterhaltsmitteln zu mangeln; die Menschen gaben das Nomadenleben auf, wurden ansässig, bebauten den Boden, schufen Privateigentum; die Starken und Klugen erlangten die Herrschaft über die schwächeren Mitglieder, da diese ihre Bedürfnisse nicht mehr durch eigene Kraft befriedigen konnten und die Hilfe jener brauchten; und wenn einer hilflos ist, verliert er auch die Freiheit. So verschwanden Freiheit und Gleichheit und zugleich die Sicherheit vor Beleidigungen und Angriffen. Das Bedürfnis nach Sicherheit veranlaßte die Menschen, Staaten zu gründen und einzelnen Menschen ihre ganze Macht zu verleihen. Das führte zu Despotismus, der, anstatt allen Sicherheit und Freiheit zu geben, alle unterdrückt und mit Furcht erfüllt. Die Menschen, getrennt in feindliche Staaten, verfielen dem Nationalismus und dem Patriotismus; andere Menschen zu hassen und zu töten, wurde als Tugend betrachtet; ja, sogar die Menschen ein und desselben Staates wurden durch Lokalpatriotismus und Egoismus gegeneinander feindlich gesinnt. Aus dieser elenden Lage können die Volksmassen sich durch eigene Kraft nicht befreien; nur eine geheime Organisation der Erleuchteten, die nach der Vervollkommnung des Menschengeschlechts streben, ist einer solchen Tat fähig. Es handelt sich darum, die Menschen zur ursprünglichen Freiheit zurückzuführen, aber nicht in den Zustand der Wildheit und Roheit, sondern in eine viel höhere Gesellschaftsordnung. Und das ist auch der Sinn der Religionsgeschichte. Der Garten Eden ist das Symbol des durch Freiheit und Gleichheit ausgezeichneten Naturzustandes; der Sündenfall bedeutet das Eintreten der Knechtschaft und die Gründung von Staaten (Zwangsregierungen); das Auftreten und Wirken Jesu von Nazareth galt der Wiedereinführung des Vemunftrechts, der Menschenliebe, der Freiheit und Gleichheit. Denn nur durch eine Revolution des Geistes können die Menschen volljährig (mündig), sittlich, frei und gleich werden (Weishaupt, Anrede an die dirigierenden Illuminaten, abgedruckt im Nachtrag von Originalschriften, München 1787, Teil II, S. 44—121) 

Der Illuminatenorden wurde 1784 der bayerischen Regierung denunziert, die ihn auflöste und dessen Mitglieder, soweit sie sich nicht durch die Flucht entzogen, grausam verfolgte. Weishaupt floh nach Weimar, wo er als Hofrat lebte (Während der französischen Revolution beschuldigte die Reaktion die Jakobiner, daß sie ihre Lehren aus deutschen Quellen: aus den Schriften Weishaupts, geschöpft hätten. (Jaures, Convention, II, S. i529ff.) Noch im Jahre 1921 veröffentlichte eine Mrs. Webster ein deutschfeindliches Buch („World Revolution", London), in dem der Versuch gemacht wird, den Nachweis zu führen, daß Weishaupt der Urheber aller sozialrevolutionären Bewegungen sei und daß er im Interesse Deutschlands hierdurch England, Frankreich und Rußland — also die Alliierten des Weltkrieges — ins Chaos stürzen wollte. 

4. Gotthold Ephraim Lessing. 

Lessing wuchs in einer geistlichen Atmosphäre auf und wollte sich ursprünglich der Theologie widmen. Durch philosophische und literarische Studien und durch Umgang mit Rationalisten und Deisten von seinem ursprünglichen Ziele abgelenkt, kehrte er doch oft zu ernsten religiösen und theologischen Forschungen zurück, las fleißig die Kirchenväter und höchstwahrscheinlich auch die mittelalterlichen Ketzer. Sein Christentum nahm einen sozial-ethisch-praktischen Charakter an. Bezeichnend hierfür ist sein erster Ausflug auf das theologische Gebiet: seine Verteidigung der Hermhuter (1750), in der er die urchristliche Seelenstimmung und Praxis über alle Weltweisheit und scholastische Spitzfindigkeit stellt. Er ; schildert dort einen Urchristen, der uns lehrt: „den - Reichtum entbehren, ja ihn fliehen, unerbittlich gegen [ uns selbst, nachsichtig gegen andere sein, das Verdienst, auch wenn es mit Unglück und Schmach überhäuft ist, hochachten und gegen die mächtige Dummheit verteidigen". Gegen Ende seines kampfreichen Lebens standen die sozial-christlich-ketzerischen Ideen im Mittelpunkt seines geistigen Schaffens. 

Wie oben erwähnt wurde, dürfte auch G. E. Lessing mit den Illuminaten zumindest geistesverwandt gewesen sein. Seine sozial-religiös-ketzerischen Ideen finden sich in seinen „Gesprächen für Freimaurer" und vornehmlich in der „Erziehung des Menschengeschlechts". Beide Schriften fallen in die ersten Jahre des Illuminatenordens. Die erstere Schrift ist bezeichnenderweise dem Herzog Ferdinand von Braunschweig, dem Mitgliede des Illuminatenordens, gewidmet. „Auch ich" — sagt Lessing in der Widmung — „war an der Quelle und schöpfte." Im zweiten Gespräch haben wir die Theorie von dem Sündenzustand des Menschen im Staate; die Staaten trennen die Menschen; sie schaffen Klüfte und Scheidemauern nicht nur zwischen den Völkern, sondern auch zwischen den Menschen ein und desselben Staates. Es wäre deshalb „recht sehr zu wünschen, daß es in jedem Staate Männer geben möchte, die über die Vorurteile der Völkerschaft hinaus wären und genau wüßten, wo Patriotismus Tugend zu sein aufhört". Noch eins: Nicht gute Taten sind nötig, sondern einen Zustand schaffen, in dem die Wohltätigkeit entbehrlich wird, — so sagt Lessing im ersten Gespräch, das nur so verstanden werden kann, daß ein Zustand von Freiheit und Gleichheit herzustellen sei, denn nur in einem, solchen Zustand ist für jedermann gesorgt. 

In der „Erziehung des Menschengeschlechts" behandelt Lessing den Gedanken der Entwicklung der Menschheit von der Wildheit zur Vollkommenheit. Die Weltgeschichte ist das planvolle Wirken eines göttlichen Prozesses, in dem die Menschheit für das dritte Zeitalter reif wird.

Das dritte Zeitalter — das ist die Lehre des Joachim von Floris und der mittelalterlichen Ketzer; es ist die Lehre des „Ewigen Evangeliums" (vgl. oben Teil II, S. 176—178). Lessing, der sich viel mit religiös-mystischen Fragen beschäftigt haben muß, kannte sie: § 86. Sie wird gewiß kommen, die Zeit eines neuen Evangeliums, die uns selbst in den Elementarbüchern des Neuen Bundes versprochen wird. §87. Vielleicht, daß gewisse Schwärmer des 13. und 14. Jahrhunderts einen Strahl dieses neuen ewigen Evangeliums aufgefangen hatten und nur darin irrten, daß sie den Ausbruch desselben nahe verkündigten. §88. Vielleicht war ihr dreifaches Alter der Welt keine so leere Grille; und gewiß hatten sie keine schlimmen Absichten, wenn sie lehrten, daß der Neue Bund ebenso antiquiert werden müsse, als es der Alte geworden... §89. Nur daß sie ihre Zeitgenossen, die noch kaum der Kindheit entwachsen waren, ohne Aufklärung, ohne Vorbereitung, mit einem Schlage zu Männern machen zu können glaubten, die ihres dritten Zeitalters würdig wären. §90. Und eben das machte sie zu Schwärmern. Der Schwärmer tut oft sehr richtige Blicke in die Zukunft: aber er kann diese Zukunft nicht abwarten. Er wünscht diese Zukunft beschleunigt, und wünscht, daß sie durch ihn beschleunigt werde. Wozu sich die Natur Jahrtausende Zeit nimmt, soll in dem Augenblick seines Daseins reifen . . . §91. Geh deinen unmerklichen Schritt, ewige Vorsehung! Nur laß mich wegen dieser Unmerklichkeit an dir nicht verzweifeln, wenn selbst deine Schritte mir scheinen sollen zurückzugehen! — Es ist nicht wahr, daß die kürzeste Linie immer die gerade ist. §92. Du hast auf deinem ewigen Wege so viel mitzunehmen! So viel Seitenschritte zu tun! Und wie? wenn es nun gar so gut als ausgemacht wäre, daß das große langsame Rad, welches das Menschengeschlecht seiner Vollkommenheit näher bringt, nur durch kleinere, schnellere Räder in Bewegung gesetzt würde?" 

Und es nimmt Zeit, bis all die Rädchen vom Fortschritt ergriffen und in Bewegung gesetzt werden, um die Schwungkraft des großen Rades — trotz aller Widerstände — zu fördern. 

5. Friedrich Christoph Oetinger. 

Ein Theologe von umfassender Belesenheit in der patristischen, rabbinischen und mystischen Literatur, in Philosophie und Naturwissenschaft, von inniger Frömmigkeit und starkem sozialen Empfinden war der schwäbische Geistliche F.Ch. Oetinger, geboren in Göppingen 1702, gestorben als Prälat 1782. Er studierte in den Klosterschulen Bebenhausen und Blaubeuren, dann im Tübinger Stift, wo er nachher Repetent war. Seine Selbstbiographie ist ein außerordentlich lehrreiches Dokument zur Erkenntnis des religiösen Lebens im 18. Jahrhundert. Oetinger las Jakob Böhme, stand mit den Hermhutem in persönlichem und schriftlichem Verkehr. Wichtig für unser Thema ist Oetingers Schrift „Güldene Zeit" (1759 bis 1761), in der er das tausendjährige Reich behandelt und folgende sozialen Grundsätze und Lehren entwickelt:

„Zur wahren Glückseligkeit in einem Reich gehören drei Bedingungen: 1. daß die Untertanen bei aller Mannigfaltigkeit, die zur Ordnung gehort, bei allem Unterschied des Standes eine Gleichheit untereinander haben; jeder solle seine Glückseligkeit in der des anderen, seine Freude in der anderen aller Freude finden und dadurch solle jeder ein Freiherr sein neben dem ändern (Micha 4, 4). 2. Daß sie Gemeinschaft der Güter haben und sich nicht deswegen über Güter ergötzen, weil sie Eigentum sind. Von Natur hat zu seinem Gebrauch jeder so viel Anspruch auf des anderen Güter, als der andere auf dessen Güter. 3. Daß sie nichts voneinander als Schuldigkeit forder n. Denn wenn alles im Überfluß wäre, so brauchte es keiner Herrschaft, keines Eigentums, keiner gezwungenen und durch Herrschaft abgerungenen Verbindlichkeit. Jeder würde willig sein, dem ändern zu reichen, wenn er etwas nötig hätte, ohne Obligation; höchstens würde man eine mit der ändern vertauschen, und Geld würde nicht im Gebrauch sein. — Bei diesen drei Bedingungen würde das Recht aus dem weisen Gebrauch der Lebenskräfte gekommen sein; jeder hätte ein Recht zu dem, was ihn die Weisheit hätte finden lassen. Nun ist aber wegen der Schwachheit der Kräfte die Ungleichheit der Personen, wegen Mangel der Güter das Eigentum und wegen Notwendigkeit, sich des Dienstes und der Arbeit anderer zu bedienen, die Obligation, geschlossene Abkommen und Verträge aufgekommen: da hat das ursprüngliche Recht der Natur aus der inneren Lebenskraft mit dem geschriebenen Recht aufgerichtet werden müssen. Das geschriebene Recht hat teils den Personen ihre Gewalt, teils der Sache ihre Beherrschung im Eigentum, teils den Handlungen ihre Verbindlichkeit und Obligation angewiesen und auferlegt. — Wie nun diese drei Bedingungen der Glückseligkeit in dem Paradies bestanden, hingegen das Gegenteil derselben nach dem Sündenfall aufgekommen, so wird in der güldenen Zeit die Gleichheit mit der Gewalt, die Gemeinschaft der Güter mit dem eigentümlichen Besitz derselben, und die Freiheit von der Dienstbarkeit mit der Obligation und Verbindlichkeit der Arbeit also gemäßigter sein, daß wenigstens die Gleichheit, Gemeinschaft der Güter und Freiheit von der Dienstbarkeit und geschlossenen Verträgen in allem den Vorzug haben." 

In diesen Sätzen Oetingers liegt die Quintessenz der sozialen Lehren der christlichen Theorie (Eine Zusammenfassung der Lehren Oetingers gibt Dr. C. A. Auberlen in „Theosophie Friedrich Christoph Oetingers". 2. Auflage, Basel 1859.) 

6. Fichte und seine Sozialwissenschaft. 

Ein Landsmann Lessings, ein kraftvoller nationaler Demokrat, einer der temperamentvollsten, tüchtigsten deutschen Männer und Denker war J.G.Fichte (1762 bis 1814); als Politiker und Redner erscheint er in seiner Stärke wie in seiner Schwäche als das Urbild der späteren republikanischen Volksmänner von 1848. Die meisten seiner Schriften gehören bereits der Geschichte der deutschen Geistesarbeit an. Seine Bildungsjahre fielen in eine Zeit der Gärung und der Unzufriedenheit mit den politischen und religiösen i Zuständen Deutschlands, wie wir sie oben andeuteten. Kein Wunder, daß er ursprünglich weltbürgerlich und ', religionskritisch war und den Ausbruch der Französischen Revolution (1789), gleich dem mit ihm verschwiegerten Klopstock, enthusiastisch begrüßte und den Krieg gegen die Revolution nicht als einen zwischen Deutschen und Franzosen, sondern als einen Angriff der Despoten gegen die Freiheit betrachtete. Es war ihm gleichgültig, ob „der Lothringer und Elsässer seine Stadt und sein Dorf in den geographischen Lehrbüchern hinfüro in dem Kapitel vom Deutschen Reiche" findet oder nicht. 1793 bezeichnete den Höhepunkt seines revolutionären Denkens: er geißelte die Zensur, verteidigte die Französische Revolution und beschäftigte sich lebhaft mit dem Problem eines Idealstaates oder, wie es bei Fichte heißt. Vernunftstaates. Damals war er wirklicher Jakobiner. Zwar hatte er auch später radikale Momente, in denen er bereit gewesen wäre, alle deutschen Fürsten zu verjagen, um die Einheit des deutschen Volkes, dem er eine hohe sozialpolitische Mission zuschrieb, herzustellen; insbesondere in den Jahren 1807 und 1813 war er Feuer und Flamme gegen alle absolutistischen Reaktionen, aber im großen ganzen wurde Fichte seit 1794 in wachsendem Maße religiös-mystisch, politisch-national, sozialökonomisch-kleinbürgerlich. Nur ist bei alledem zu bedenken, daß Fichte als Persönlichkeit größer war als seine Ideen, und deshalb diese größer erscheinen, als sie in Wirklichkeit waren. Es war etwas Proletarisch-Trotziges in dem Manne, aber die Kleinbürgerlichkeit der deutschen Zustände jener Zeit drückte ihn nieder. 

In seinen „Reden an die deutsche Nation" ruft er seinen Volksgenossen zu: „Es gibt noch unter allen Völkern Gemüter, die noch immer nicht glauben können, daß die großen Verheißungen eines Reichs des Rechts, der Vernunft und der Wahrheit an das Menschengeschlecht eitel und ein leeres Trugbild seien, und die daher annehmen, daß die gegenwärtige eiserne Zeit nur ein Durchgang sei zu einem besseren Zustande. Diese, und in ihnen die gesamte Menschheit, rechnet auf euch... Die alte Welt mit ihrer Herrlichkeit und Größe, sowie mit ihren Mängeln ist versunken durch die eigene Unwürde. Ist in dem, was in diesen Reden dargelegt worden, Wahrheit, so seid unter allen Umständen ihr es, in denen der Keim der menschlichen Vervollkommnung am entschiedensten liegt... Es ist daher kein Ausweg: wenn ihr versinkt, so versinkt die ganze Menschheit mit." Fichte sprach diese Worte nach der Besitzergreifung Deutschlands durch die Franzosen (1807—08). Das deutsche Volk könne sich und die Welt nicht retten durch die alten politischen Methoden und Formen: „der Kampf mit den Waffen ist abgeschlossen; es erhebt sich, so wir es wollen, der neue Kampf der Grundsätze, der Sitten, des Charakters". Das deutsche Volk könne wiedergeboren werden und die Wiedergeburt der ganzen Kultur bewerkstelligen durch die aufopfernde Arbeit an der Verwirklichung des verheißenen Reiches der Vernunft und der Wahrheit. „Die Morgenröte der neuen Welt ist schon angebrochen und vergoldet schon die Gipfel der Berge, und bildet vor den Tag, der da kommen soll." Trotz dieser wunderbaren Stellen sind die „Reden an die deutsche Nation" durchaus national und darauf berechnet, in der tragischen Stunde der deutschen Demütigung das nationale Bewußtsein des Volkes zu heben, es zu kräftigen, ihm alle Französelei auszutreiben und für den Entscheidungskrieg gegen die fremden und heimischen Unterjocher vorzubereiten. Wie gesagt, Fichte war nationaler Demokrat, Republikaner, — ein idealer Achtundvierziger. 

Sozialökonomisch war er ein kleinbürgerlicher Reformer. Seine Ideen hierüber liegen im „Geschlossenen Handelsstaat" vor, den er 1800 veröffentlichte und in dem er seine volkswirtschaftlichen und praktischpolitischen Gedanken niederlegte. Fichtes sozialökonomischer Plan war ein staatlich reguliertes, autarkisches (sich selbst genügendes) Gemeinwesen, in welchem jeder Werktätige, beruflich gegliedert, ein bescheidenes, schlichtes, aber gesichertes Auskommen haben soll. Es ist ein weiter Sprung von Platos Vernunftstaat zu Fichtes „Geschlossenem Handelsstaat". 

Fichte ist gegen wirtschaftliche Konkurrenz, gegen Freihandel, gegen die Tendenz zur Weltwirtschaft; er erblickt in diesen Erscheinungen und Bestrebungen die Quellen des Betrugs, der Übervorteilung, der Zänkereien, des Völkerhasses und der Kriege. Er wünscht eine national geschlossene, vom Auslande unabhängige Wirtschaft, — ein geschlossenes, abgerundetes, weites Gebiet mit sicheren Grenzen, in dem alles, was zur Befriedigung der einfachen Bedürfnisse des Lebens nötig ist, erzeugt und ausgetauscht werden könnte. Der Grund und Boden gehört eigentlich Gott, dem Schöpfer der Welt; nur der Gebrauch des Bodens gehört denjenigen, die ihn bebauen. Erst der Gebrauch des Bodens und der anderen materiellen Stoffe gibt denjenigen, die daran produktiv schaffen, das Recht auf ausschließliche Benutzung. Dieses Eigentum am Gebrauch der Dinge entstand — nach Fichte — durch den gegenseitigen Vertrag der Bürger, die sich in den Gebrauch der Dinge teilten. Also: nicht die Besitzergreifung, sondern der produktive oder sonst nützliche Gebrauch der Dinge schafft das Recht auf Besitz. 

In der Theorie mag dies sozialistisch aussehen, in der Praxis hat jedoch Fichtes Eigentumslehre gar keine Bedeutung. Es dürfte dem Grundadel nicht schwer fallen, auch kraft des Gebrauchs sein Recht auf den Besitz des Grund und Bodens geltend zu machen. Fichtes Eigentumslehre hindert auch nicht den Handel mit Landgütern, da Verkäufer und Käufer sich darauf berufen können, es handle sich bei diesen Geschäften nur um eine Übertragung des Gebrauchs, der Benutzung des Bodens. Kurz, Fichtes Eigentumslehre enthält nichts Sozialistisches; sie ist im besten Falle eine Fiktion des Juristensozialismus. 

Was die gesellschaftliche Organisation anbetrifft, teilt Fichte die Bürger in drei wirtschaftliche Stände. Der erste Stand umfaßt die in der Landwirtschaft tätigen Personen; den zweiten Stand bilden die Handwerker (Fichte nennt sie: Künstler); den dritten Stand — die Kaufleute. Jeder Stand darf nur seinen, durch gegenseitige Verträge festgelegten Berufen nachgehen: der Landwirt darf kein Handwerk treiben oder Handelsgeschäfte machen usw., — kurz es ist alles zunftgemäß abgegrenzt und gegliedert. Der Staat wacht darüber, daß die beruflichen Abgrenzungen nicht verletzt werden. Der Staat setzt auch die Zahl der Personen fest, die sich jedem Berufe zuwenden sollen, so daß jeder Beruf nur die nötige Zahl Mitglieder erhält: daß das Gleichgewicht der Stände aufrechterhalten wird. Die Grundlage der Gesellschaft ist die Landwirtschaft; diese muß so viel Nahrungsmittel und Rohstoffe erzeugen, daß die Bedürfnisse aller gedeckt werden können. Die Regulierung der Zahl der Nichtproduzenten hängt von der Ergiebigkeit der Landwirtschaft ab; kann der Landmann einen Überschuß an Produkten erzeugen, der für mehrere Personen genügt, so werden mehr Handwerker, mehr Kaufleute, Lehrer, Beamte usw. zu ihren Berufen zugelassen. Den Güteraustausch zwischen den verschiedenen Berufspersonen vermitteln die Kaufleute, deren Zahl staatlich festgesetzt wird nach den zum Austausch vorhandenen landwirtschaftlichen und gewerblichen Erzeugnissen. 

Nach welchem Wertmaßstab werden aber die Erzeugnisse an die Kaufleute abgegeben und zu welchen Preisen geben diese sie an die Verbraucher ab? 

Der Wertmaßstab ist eine bestimmte Menge Kornfrucht. Wenn zum Beispiel vier Pfund Mehl die genügende Tagesration einer Person ausmachen, so ist dieses Mehlquantum der Wertmaßstab. Je länger man von einem Erzeugnis leben kann, einen desto größeren Wert hat es. „Nach diesem Maßstabe wären nun zuvörderst andere Nahrungsmittel in Hinsicht ihres inneren Wertes zu schätzen. Fleisch z. B. hat als Nahrungsmittel einen höheren inneren Wert als Brot, weil eine geringere Menge desselben ebensolange nährt wie eine größere Menge Brotes. Eine Quantität Fleisch, womit durchschnittlich sich einer einen Tag nährt, ist so viel Köm wert, als derselbe denselben Tag zu seiner Ernährung gebraucht haben würde, und er hat, soweit wir jetzt sehen, diese Menge Korn dafür zu entrichten" (Der geschlossene Handelsstaat, 1800, Seite 50). 

Wie steht es aber mit dem Austausch der gewerblichen Erzeugnisse? 

„Nach Hinzufügung eines neuen Grundsatzes läßt an demselben Maßstabe sich der Wert der Fabrikate und aller Arbeit, die nicht unmittelbar auf Gewinnung der Nahrungsmittel geht, berechnen. Der Arbeiter muß während der Zeit leben können, wozu, falls es einer Lehrzeit bedurfte, auch diese zu rechnen und auf sein Arbeitsleben zu verteilen ist. Er muß daher für seine Arbeit so viel Korn erhalten, als er brauchen würde, wenn er während der Zeit nur von Brot lebte. Da er neben demselben noch anderer Nahrungsmittel bedarf, so mag er diese gegen das ihm nun übrige Korn nach dem oben angegebenen Maßstabe austauschen. Das Produkt zur Verarbeitung (Fichte meint: Rohstoff) ist so viel Korn wert, als mit der auf die Erbauung desselben verwendeten Mühe und auf dem Acker, wo es gewachsen ist, Korn hätte erzeugt werden können" (Seite 50—51). 

Fichte schreibt sehr umständlich und schwerfällig. Was er meint, ist folgendes: Wertmaßstab ist die Nährkraft einer bestimmten Menge Komfrucht; Nahrungsmittel werden gegeneinander ausgetauscht im Verhältnis zu ihrer Nährkraft. Gewerbliche Erzeugnisse werden gegeneinander ausgetauscht nach der Arbeitsmenge, die in ihnen steckt und die, wenn auf Ackerbau angewandt, soundsoviel Köm hätte hervorbringen können. Der Lohn der gewerblichen Arbeit muß diese Mühe sowie die Kosten der Rohstoffe decken. 

Auf diese Weise können die Landwirte und die Handwerker den gerechten Wert für ihre Erzeugnisse erhalten. 

Wie steht es aber mit dem Kaufmann? Vermittelt er den Austausch nach dem gegebenen Maßstab, so gibt er Wert gegen Wert. Wovon soll er aber leben? Die Antwort auf diese Frage lautet: Der Staat erlaubt ihm, einen gewissen, amtlich festgesetzten Aufschlag zu machen; von diesem Aufschlag bezieht er sein Einkommen. Hieraus folgt logisch, daß — nach Fichte — die Waren über ihren inneren Wert abgesetzt werden, d. h., daß die Preise beständig höher sind als die Werte. Was offenbar ein Unsinn ist. 

Bis jetzt haben wir vom Austausch der Güter gesprochen. Es ist klar, daß irgendein allgemein gültiges Tauschmittel vorhanden sein muß, um die Tauschoperationen zu erleichtern. Dieses allgemeine Tauschmittel ist Geld. In Fichtes Handelsstaat wird es wohl Geld geben, aber kein an sich wertvolles (kein Silber oder Gold), sondern Wertzeichen (aus Papier oder aus ähnlichen verhältnismäßig billigen Stoffen). Die Menge der Geldzeichen wird vom Staate festgesetzt: „Die Masse der Zeichen, welche der Staat in Umlauf setzt, ist laut Obigem durchaus willkürlich. Sie sei so groß oder so klein sie wolle, sie hat immer denselben Wert. Man nehme an, es beliebe ihm (dem Staat nämlich), sie auf eine Million Taler zu setzen (sie in eine Million Teile zu teilen, die er Taler nennt). Was Fleisch, Obst u. dgl., was Flachs, Hanf, was Leinwand oder wollenes Tuch gegen Köm wert ist, ist durch die oben beschriebene Schätzung schon bestimmt. Führe man den Wert aller im öffentlichen Verkehr befindlichen Ware, die nicht Korn ist, auf Köm zurück, tue hierzu die wirklich von einer zur anderen in den Handel zu bringende Menge Korns und sage nun: der Wert von soviel Maß Köm ist im Umlauf. Verteile man dieses Maß auf das im Umlauf befindliche Geld. Es seien z. B. eine Million Maß, so gibt unter obigen Voraussetzungen das Maß Köm in Geld notwendig einen Taler, eine in der früheren Berechnung der Masse Köm gleich gefundene Quantität Fleisch, Obst, Flachs, Leinwand, wollenes Tuch gleichfalls einen Taler usw." Diese so gefundenen Preise wären gesetzlich festzulegen (Seite 96). i   Der Außenhandel ist einzig und allein dem Staate " vorbehalten, ebenso wie andere auswärtigen Be-,1 Ziehungen, Diplomatie, Krieg, Friede usw. Fichte wünscht, daß die ganze Erde aus derartig abgeschlossenen, in sich abgerundeten, selbstgenügenden Staaten bestände. Dann würde es — wie er meint — keine Kriege, keinen Zank und Neid geben. Die Völker würden sich national gliedern und feste nationale Charaktere erhalten und ihre Eigentümlichkeiten entfalten. Ewig friedlich würden die geschlossenen Staaten nebeneinander existieren. International würden nur Wissenschaft und Kunst sein. „Die Schätze der Literatur des Auslandes werden durch besoldete Akademien eingeführt und gegen die des Inlands ausgetauscht werden... Nichts verhindert, daß die Gelehrten und Künstler aller Nationen in die freieste Mitteilung miteinander eintreten. Die öffentlichen Blätter werden von nun an nicht mehr Erzählungen von Kriegen und Schlachten, Friedensschlüssen oder Bündnissen enthalten, denn dies alles ist aus der Welt entschwunden. Sie enthalten nur noch Nachrichten von den Fortschritten der Wissenschaft, von neuen Entdeckungen, vom Fortgange der Gesetzgebung, der Polizei, und jeder eilt, die Erfindung des ändern bei sich einheimisch zu machen." Mit diesem Optimismus schließt Fichte seine kleinbürgerliche Utopie.

Editorische Anmerkungen

Max Beer, Allgemeine Geschichte des Sozialismus und der sozialen Kämpfe, mit Ergänzungen von Dr. Hermann Duncker, S. 401-422

Der Text ist ein OCR-Scan by red. trend vom Erlanger REPRINT (1971) des 1931 erschienenen Buches in der UNIVERSUM-BÜCHEREI FÜR ALLE, Berlin.

Von Hermann Duncker gibt es eine Rezension dieses Buches im Internet bei:
http://www.marxistische-bibliothek.de/duncker43.html