Marktwirtschaft als Alternative
Über Regionalgeld, Silvio Gesell und die Hoffnung, mit einer anderen Wirtschaft den Kapitalismus zu bekämpfen

HUmmel Antifa & chaze

02/05

trend

onlinezeitung

In der Berliner Umsonstzeitung scheinschlag, die sich als alternative Publikation etabliert hat, wurden in Ausgabe 10/04 [Dezember 2004/Januar 2005] dem Projekt eines Berliner Regiogeldes immerhin 4 Seiten gewidmet. Zwar wurde das Projekt relativ realistisch besprochen, auf die Hintergründe dieser Initiative wurde allerdings nicht wirklich eingegangen. Aus diesem Anlass erscheint der folgende Text, der dieses nachholen will.

Projekte

Erstaunlich oft wird die Idee eine Währung einzuführen, deren Wert mit der Zeit sinkt, öffentlich vertreten. Durch solch ein Geld soll sich, so die mit diesem Vorschlag immer wieder geäußerte Hoffnung, die Wirtschaftskraft der beteiligten Unternehmen, meist kleine alternative Firmen, erhöhen und ein regionaler Wirtschaftsraum, der neben oder gar gegen den Kapitalismus existiert, etabliert werden. Diese Regionalgeldvorstellungen gehen fast immer mit Versprechen auf gerechter Entlohnung, eine solidarische Umgangsform zwischen den Beteiligten und steigendem Lebensstandard einher.

Auch wenn die ProtagonistInnen es oft nicht explizit aussprechen, gehen diese Ideen letztlich alle auf die Schriften Silvio Gesells zurück. Der hatte Anfang des letzten Jahrhunderts eine Reform des Geldwesens und des Eigentums an Land skizziert, die seiner Meinung nach zu einer gerechten und produktiven Welt führen sollten. Am tiefgehensten hat er diese Gedanken, die unter den Begriffen Freiland und Freigeld bekannt wurden, in seinem Buch "Die natürliche Wirtschaftsordnung" ausgeführt.

Während ein Teil der Linken Gesells Ideen als interessant bezeichnen, sich aber sonst nicht um diese kümmert, wird er von Einigen als eine Art Heilsbringer rezipiert, der einen einfachen und einleuchtenden Weg aus dem Kapitalismus hinaus gewiesen hätte. Vor allem AntifaschistInnen sehen in Gesell und seinen heutigen AnhängerInnen dagegen AntisemitInnen. Wenig beachtet dagegen wird, das Gesell, der jahrelang in Argentinien als Kaufmann tätig war, vor allem eine radikal marktwirtschaftliche, gleichzeitig linksliberale Richtung des Kleinbürgertums vertrat, obwohl gerade dies in seinen Texten ersichtlich wird.

"Theorie"

Letztlich ist das Weltbild, das Gesell vermittelt banal, naiv und absurd; auch wenn seine Schriften dies mit großem Pathos zu verdecken suchen. Er behauptet erstens, das es ein schon immer existentes Wirtschaftssystem gäbe, dass ganz von alleine dafür sorgen würde, Wohlstand gleichmäßig unter den Menschen zu verteilen, die Marktwirtschaft. Allerdings müsse diese frei von allen Einschränkungen und Gesetzen wirken können. Das ist eine Neuauflage des Gedankens, den Adam Smith als "unsichtbare Hand des Marktes" beschrieb. Während allerdings bei Smith dieses Wirtschaft sich erst langsam entwickelt hat, geht Gesell davon aus, dass sie schon immer so gewesen sei und immer so sein wird, gleich einem Naturgesetz. Aus diesem Grund heißt sie bei ihm "natürliche Wirtschaftsordnung". Die gedanklichen Grundsätze, die er als kleinbürgerlicher Kaufmann als wahr angenommen hatte, wollte er als ewige Gesetze gelten lassen. Dass sie schichtspezifisch und gesellschaftlich bedingt sind, ließ er, genau wie seine AnhängerInnen heute, nicht gelten.

Damit diese Wirtschaft funktionieren kann, müsse es einen ständigen Fluss geben. Gewinne müssten sofort wieder ausgegeben, also in die Wirtschaft gesteckt werden. Das zu erreichen ist das einzige Ziel seiner Überlegungen. Für ihn stellen diesem ständigen Kreislauf zwei Barrieren entgegen: das Geld und das Eigentum an Land. Diese beiden Dinge könnten über einen beliebig langen Zeitraum aufgehoben werden und würden dabei nicht an Wert verlieren. Dagegen würden alle anderen Dinge mit der Zeit im Wert sinken. Er meint damit schlecht werden, rosten, verfallen. Seiner Meinung nach wird zum Beispiel Getreide sofort nach der Ernte verkauft, weil es sonst verfaulen würde, Geld dagegen gespart, weil es so mehr Gewinn bringen würde. Dieser und jeder andere Gewinn heißt bei Gesell ausnahmslos Zins.
Selbstverständlich ist diese Vorstellung von der Wirtschaft grober Unsinn. Geld ist ein Tauschobjekt, dessen Wert immer wieder neu ausgehandelt wird, genau wie bei jeder anderen Ware auch. Bei diesen Verhandlungen spielen Machtverhältnisse, ökonomische und andere Abhängigkeiten und Sozialstrukturen eine Rolle, letztendlich unterscheidet sich aber die Bestimmung des Wertes von Geld nur unwesentlich von der anderer Waren. Das alles nennt sich Markt. Doch das interessierte Gesell nicht. Er suchte einen Grund, warum seine Theorie von der Freiwirtschaft nicht funktioniert und fand sie in der angeblich schlechten Wirkung von Geld.

Als zweiten Grund für das Nichtfunktionieren gab er an, dass das Eigentum an Land dieses gänzlich dem Markt entreißen würde, quasi durch Immobilien Wert geparkt - dabei dachte er vor allem an Wohnraum - und durch Mieteinnahmen ohne eigene Arbeit der EigentümerInnen sogar noch Wert dazu kommen würde.

An und für sich ist das die Grundessenz Gesells Schriften: Während viele durch sogenannte ehrliche Arbeit und Tauschhandel ihren Lebensunterhalt verdienen, würden andere ohne Arbeit Werte erwirtschaften und dem allgemeinen Fluss entziehen. Diese Struktur erinnert nicht zufällig an die Unterscheidung von raffendem [jüdischem] und schaffendem [arischem] Kapital, welches der Nationalsozialismus verbreitete. Während allerdings die Nazis diese Unterscheidung völkisch begründeten und den Juden und Jüdinnen - die sie als HauptvertreterInnen des raffenden Kapitals imaginierten - Habgier vorwarfen, enthielt sich Gesell einer solchen Einteilung - anders wiederum als zahllose seiner AnhängerInnen. Für ihn ist es selbstverständlich, dass Menschen versuchen Wert anzuhäufen, solange die Möglichkeit dazu besteht. Deshalb will er auch niemanden dafür bestrafen, sondern es einfach unmöglich machen.

Der Plan

Die Idee Gesells ist, das Geld so zu gestalten, dass es mit der Zeit an Wert verlieren würde. Deshalb würde es nicht mehr aufgehoben oder angespart, sondern sogleich ausgegeben. Ein Großteil seiner Schriften beschäftigt sich mit der praktischen Umsetzung dieser Idee. Des weiteren solle der Besitz von Land strikt verboten werden. Land und Wohnraum solle allgemein nur noch verpachtet und die eingenommene Pacht für Sozialausgaben benutzt werden. Die Idee der Landreform ist heute fallen gelassen worden.

Was allerdings gerade bei strikten AnhängerInnen beibehalten wurde, sind die utopischen Versprechen, die Gesell sich von dieser "Reform" macht. Es würde binnen kürzester Zeit die Ungerechtigkeit aus der Welt geschafft, die Kriege - die er sich nur als letztlich wirtschaftliche bedingt vorstellte - würden der Vergangenheit angehören, die Arbeitslosigkeit und die schlechten Wohnbedingungen in den Städten abgeschafft sein. Schließlich: die Menschheit würde friedfertiger leben und wenn die "natürliche Wirtschaftsordnung" sich durchgesetzt hätte, würden die Grenzen aufgehoben und die Staaten zu reinen Verwaltungsorganen werden.

Rassismus, Sexismus etc.

Diese Versprechen sind blanker Unsinn. Gesell konnte sich Armut und Unterdrückung nur als Wirkung des heutigen und damals gültigen Geldsystems vorstellen und deshalb behaupten, sie würden nach seiner Reform aufgehoben sein. Andere Gründe konnte er sich nicht vorstellen. Deshalb fiel es ihm auch nicht auf, dass er selber in regem Maße solche Unterdrückungsformen beständig reproduzierte. Während er sich auf der einen Seite gegen die Pression von Menschen aussprach, behauptete er gleichzeitig, dass es unterschiedliche Rassen mit unterschiedlichen Eigenschaften gäbe. Unzweideutig machte er sich die kolonialistische Sichtweise zu eigen, wenn er bei der Frage des Freilandes behauptet, dass es in Amerika unendlich viel unbewohntes Land gäbe. Frauen sieht er vor allem als Ehefrauen und Mütter. Zudem vertritt er ein biologistisches Weltbild, dass Menschen als rein sozialdarwinistisch handelndes Tier begreift, wenn er schreibt: "Bei der Gattenwahl würden [nach der Geldreform] die geistigen, körperlichen, die vererbungsfähigen Vorzüge statt des Geldsackes den Ausschlag geben. So kämen Frauen wieder zu ihrem Wahlrecht, und zwar nicht zum wesenslosen politischen Wahlrecht, sondern zum großen Zuchtwahlrecht." [S.75]
Hier kommt zudem die Ansicht Gesells zum Ausdruck, dass seine Ideen gänzlich unpolitisch seien, einzig eine konsequente Nachziehung natürlicher und unveränderlicher Grundsätze. Jedwede Interessensvertretung, jede soziale Auseinandersetzung, ob durch Parteien, Bewegungen, Gewerkschaften oder anderes, lehnt er als vollkommen unnötige Streitereien ab, die nur dazu beitragen würden, die Einführung seiner Konzepte hinaus zu zögern. Aus diesem abstrusen Gedanken haben einige AnhängerInnen später Verschwörungstheorien gebastelt, nachdem etliche oder gar alle Formen von Politik nur von denen initiiert seien, die gerade vom existierenden Geldsystem profitieren würden. Damit ist schnell eine Brücke zum Antisemitismus geschlagen, der gleiches von "den Juden" behauptet.

Gesell und die Linke

Allerdings gibt es Gründe, warum trotzdem Linke den Ideen Gesells' folgen. Obwohl er, wie schon gesagt, strikt marktradikal dachte, hat er sich selber immer links verortet. Deshalb hat er auch die letzten Jahre in Eden bei Oranienburg, einem anarchistisch orientierten Kommuneprojekt um Erich Mühsam, verbracht und ist dort 1930 gestorben. So boten seine Thesen starke Anschlüsse an den völkischen Antisemitismus, gleichzeitig verwehrte er sich konsequent gegen diesen. Das allerdings mit dem Argument, Jüdinnen und Juden sei nichts anderes übrig geblieben, als "in Geldgeschäften tätig" zu werden, was letztlich dem antisemitische Vorurteil, alle Juden wären reich, Recht gibt.

Im Gegensatz zu vielen seiner AnhängerInnen, die in der Freiwirtschaft vor allem die Möglichkeit sahen, Deutschland autark von der Welt abzukoppeln und - ganz im Sinne des Nationalsozialismus - als "Volk" ohne politische und soziale Gegensätze zu vereinen, ging Gesell immer davon aus, dass sein System weltweit zur Geltung kommen müsse und letztlich Grenzen obsolet werden ließe.

Ein anderer Grund, der Gesell auch heute noch für einige als diskutable Alternative interessant macht, ist seine vorgebliche Opposition zum Marxismus. Gesell behauptete immer wieder, dass die Theorien Marx' absurd seien und nur zur Stabilisierung der Geldwirtschaft beitrügen. Für ihn war der Marxismus mehr oder minder direkt dafür geschaffen, die ArbeiterInnen von den wahren Problemen der Wirtschaft abzulenken. Insoweit sind seine Texte von Polemiken und Beleidigungen gegen Marx und die zeitgenössische marxistische Linke - SPD, USPD, SAP, KPD, KAPD, KPO und so weiter - durchzogen. Allerdings sind sie kaum ernst zu nehmen. Er behauptet einfach nur, sie seien einem Geldfetisch verfallen, inhaltlich setzte er sich mit dem Marxismus nie auseinander.
Doch gerade diese Angriffe zeitigten nachhaltige Wirkung. Linke, die sich - warum auch immer - nicht mit den jeweils aktuellen Formen des Marxismus anfreunden konnten, sahen in Gesells' Ideen einen "dritten Weg". Nahezu alle Kritik an Gesell oder an Menschen, die sich auf ihn berufen, wird heute noch, auch gegen alle Realitäten, mit der Vorstellung gekontert, dass MarxistInnen hier nur ihre falsche Lehre verteidigen würden. Deshalb wird auch auf jedwede Kritik nicht eingegangen.

Relevanz

Die Thesen Gesells sind absurde und naive, auf marktradikalen Vorstellungen basierende Glaubensgrundsätze. So greifen er und seine AnhängerInnen immer wieder zu unbewiesenen, teilweise auch nachweislich falschen oder aus der Luft gegriffenen Zahlen, um sich nach einigem Rechnen in ihrem Denken bestätigt zu fühlen. Die so produzierten Texte strotzen von Beispielen und Ausführungen, die entweder geglaubt werden müssen oder aber einfach nur offensichtlich falsch sind. Einfluss hat Gesell heute noch wegen seines Pathos und seiner Behauptung, eine Alternative zu Marx darzustellen. Reale Effekte zeitigen die Projekte, die sich mehr oder minder direkt an Gesell orientieren nicht, bestenfalls stellen sie sicher, dass ein Kreis von Menschen sich gegenseitig hilft. Das jedoch wäre auch ohne Regiogeld oder ähnlichem zu erreichen.

Allerdings transportieren solche Projekte eine Weltsicht, die mindestens anschlussfähig an rechtsradikale Theoreme ist. Das beweisen auch zahllose Vereine, die Freiwirtschaftliche Soziale Union als Wahlpartei und Zeitschriften, die sich auf Gesell berufend nach dem Zweiten Weltkrieg im rechten Spektrum der Bundesrepublik engagierten. Mit Ausnahme der Zeitschrift für Sozialökonomie und deren Verlag ist keine dieser Gruppen heute noch wahrnehmbar aktiv. Dennoch haben sich zahlreiche Einzelpersonen die Verbreitung von Gesells' Ideen, inklusive seines Sozialdarwinismus, zur Lebensaufgabe gemacht. In Berlin ist das vor allem Bernd Senf, der von der attac-Hochschulgruppe der Humboldt Universität zu Veranstaltungen eingeladen wurde, gleichzeitig mit Artikeln auf rechtsradikalen Homepages vertreten ist - auch wenn er bestreitet, das gewollt zu haben.

Gerade das angeblich Apolitische von Gesells' Theorie und die behauptete Ahistorizität seiner Thesen stellen einen Anschlusspunkt für antiemanzipatorisches Denken dar. So wenig es falsch ist, zu versuchen den Kapitalismus zu überwinden, und so wenig es falsch sein muss, alltägliche Dinge und Arbeiten anders zu organisieren, so falsch wäre es doch, dabei auf Gesell und seine Verdammung des Geldes hereinzufallen. Was er wollte, war eine radikale Marktwirtschaft, dabei verfiel er dem Bild vom Geld als Mittel produktionslos Wert zu schaffen und drehte dieses Bild auf Grundlage von naiven Annahmen über die Gesellschaft um. So liberal er das alles gemeint haben mag, so anarchistisch er sich dabei auch immer gab, letztlich blieb er ein Kleinbürger, der aus seiner Sicht als Kaufmann nie herauskam. Die Welt lässt sich mit seinen Ideen nicht verändern.

Anmerkung: Alle Zitate aus: Silvio Gesell : Die natürliche Wirtschaftsordnung;9 Lauf bei Nürnberg : Rudolf Zitzmann Verlag, 1949

Editorische Anmerkungen

Der Artikel erschien auf den Webseiten der  HUmmel antifa, der antifaschistische Hochschulgruppe der Humboldt Universität zu Berlin und ist eine Spieglung http://audim-keller.rz.hu-berlin.de/~hummel/texte/info_05.htm