Am 5. Februar fanden die größten, von den
Gewerkschaften initiierten
Demonstrationen seit dem Frühsommer 2003 statt. An diesem Tag gingen
Beschäftigte aus den öffentlichen Diensten und aus der Privatwirtschaft -
etwa aus den Automobilfabriken Citroën und Renault, aus vielen Banken und
Metallbetrieben - gemeinsam auf die Straße. Knapp 50.000 Leute waren in
Paris auf den Beinen und je über 20.000 TeilnehmerInnen auch in Marseille,
Bordeaux und Toulouse. Insgesamt waren frankreichweit gut 400.000 Leute
unterwegs. Dazu hatten alle Gewerkschaften mit Ausnahme jener der höheren
und leitenden Angestellten, die CGC, aufgerufen.
Das Foto stellte
uns B. Schmid zur Verfügung
Nach dem Erfolg der Demonstrationen planen
mehrere Gewerkschaften jetzt neue
Aktionen, darunter auch in den Betrieben.
Erneuter Aufschwung sozialer Proteste?
Rückblick auf eine Periode bleierner
Lähmung
Die jüngsten Demonstrationen waren die
breiteste Protestmobilisierung seit
dem Juni 2003: Auf die damalige Streikwelle gegen die regressive "Reform"
der Rentensysteme folgte eine schwere Niederlage und eine längere Phase der
Demoralisierung sozialer Protestkräfte. Der Entwurf der Regierung zur
"Rentenreform" wurde durch die Abgeordneten in einer Sondersitzung während
der Parlamentsferien, Ende Juli 03, trotz aller Proteste und Streiks
unverändert verabschiedet.
Zuvor hatten die großen Gewerkschaftsbünde,
namentlich die
sozialdemokratisch-neoliberale CFDT und die "postkommunistische" CGT, auf
unterschiedliche Weise die Streikbewegung desorientiert und gelähmt. Die
CFDT hatte bereits am 15. Mai 2003, nur 48 Stunden nach der ersten
Demonstration gegen die Regierungspläne, die "Reform" akzeptiert. Die
CGT-Führung ihrerseits hielt bis am Schluss an der Idee eines strategischen
Bündnisses mit der "reformfreundlichen" CFDT, um Druck auf die Regierung
auszuüben, und einer "Nachbesserung" ihrer "Reform" durch die
konservativ-liberale Regierung Jean-Pierre Raffarin fest statt für den
simplen Rückzug der so genannten Rentenreform zu streiken. Über diese
strategische Minimallinie hinaus weisende Streikbewegungen, wie die zunächst
spontane Arbeitsniederlegung der Eisenbahner und der Beschäftigten der
Pariser Transportbetriebe, wurden durch die CGT abgewürgt oder
"kanalisiert". Im Hintergrund stand die Vorstellung vieler
Gewerkschaftsfunktionäre, dass eine "Reform" der Rentensysteme im Grunde
unvermeindlich sei. Denn im Kern akzeptierten sie das mechanistische
Argument der Regierung, die demographische Entwicklung und die höhere
Lebenserwartung der Bevölkerung mache eine regressive Anpassung der
Rentensysteme automatisch notwendig. Eine Argumentation, die weder das
starke Anwachsen der Produktivität berücksichtigt noch überhaupt die Frage
der Aufteilung dieser Produktivitätsgewinne zwischen Löhnen und Profiten
stellt, als ob letztere naturgegeben sei.
Vor diesem Hintergrund herrschte auf dem
Gebiet der sozialen "Reformen" bzw.
Rückschritte, und der Widerstände dagegen, anderthalb Jahre lang eine
spürbare Resignation vor. Einzige positive Ausnahme bildeten die nicht
abreißenden Aktivitäten der "intermittents du spectacle", der prekären
Beschäftigten im Kulturbetrieb. Die sozial rückschrittliche
"Gesundheitsreform" im Sommer 2004 hatte kaum ernsthafte Proteste ausgelöst;
in Paris etwa blieb es bei einer einzigen Demonstration mit rund 20.000
TeilnehmerInnen am 5. Juni 04.
Die jüngsten Demonstrationen markieren
vielleicht das vorläufige Ende
dieser Periode bleierner Lähmung, auch wenn es noch zu früh ist, dies
eindeutig zu affirmieren.
Infragestellung der 35-Stunden-Woche
Anlass für diese Protestmobilisierung boten
die Regierungspläne zur
Verlängerung der Arbeitszeiten. Ein entsprechender Gesetzentwurf der
konservativen Regierungspartei UMP wurde am 9. Februar in erster Lesung
durch die französische Nationalversammlung angenommen.
Es handelte sich um die größten, von den
Gewerkschaften initiierten
Demonstrationen seit dem Frühsommer 2003: Auf die damalige Streikwelle gegen
die regressive "Reform" der Rentensysteme folgte eine schwere Niederlage und
eine längere Phase der Demoralisierung sozialer Protestkräfte.
Dabei war es keineswegs selbstverständlich,
dass gerade die angekündigte
Infragestellung der 35-Stunden-Woche durch die Rechtsregierung zum Stein des
Anstoßes für größere Proteste werden könnte. Denn die damalige Reform der
Vorgängerregierung unter dem Sozialdemokraten Lionel Jospin, mit der vor
sechs Jahren schrittweise die 35-Stunden-Woche als theoretische
Arbeitszeitnorm eingeführt wurde, bleibt vielen Lohnabhängigen in zumindest
teilweise schlechter Erinnerung.
Die 35-Stunden-Woche à la Jospin:
Bereits selbst Teil der neoliberalen "Modernisierung"
Die Verkürzung der durchschnittlichen
Wochenarbeitszeit bildete damals vor
allem den Zuckerguss, der die gleichzeitig verabreichte bittere Pille in
Gestalt von Jahresarbeitszeiten und nach Bedarf der Betriebe variierenden
Arbeitswochen überdecken sollte. Doch was die jetzige Regierung plant,
bedeutet, den Zuckerguss zu entfernen und die bittere Pille weiterhin
schlucken lassen will. Das hat die Mehrheit der Lohnabhängigen auch wohl
verstanden.
Dass eine scheinbare Verteidigung der unter
der Jospin-Regierung
verabschiedeten Arbeitszeitgesetzgebung, die bereits selbst Bestandteil der
neoliberalen "Modernisierung" war, nicht unbedingt Begeisterung hervor rufen
würde, befürchteten freilich auch viele Gewerkschaften. Deswegen nahmen sie
auch mehrere weitere Anliegen in die Demonstrationsaufrufe für den 5.
Februar mit auf, und so demonstrierte man an jenem Tag (laut dem zentralen
Aufruf) "gegen Arbeitszeitverlängerung und Beschäftigungsabbau, für höhere
Löhne und gegen die Aushöhlung des Arbeitsrechts".
Zugleich sollte damit der
Regierungspropaganda der Wind aus den Segeln
genommen werden. Letztere versuchte, die Geldnot vieler Lohnabhängiger
auszunutzen, um ihnen als Rezept anzubieten: "Mehr arbeiten, um mehr Geld zu
verdienen". Die Kaufkraft der Beschäftigten im privaten Wirtschaftssektor
sank seit 2000 um bis zu 12 Prozent (gegenüber 5 Prozent im öffentlichen
Dienst), da es kaum noch kollektive und stattdessen überwiegend individuelle
Lohnerhöhungen gibt. Hinzu kommen die Auswirkungen der mit den Modalitäten
der 35-Stunden-Reform à la Jospin-Regierung in sehr vielen Betrieben
einhergehenden, oftmals mehrjährigen "Mäßigung bei den Lohnerhöhungen" oder
<modération salariale>. Insofern war zu befürchten, dass diese Propaganda
sogar - zunächst - noch verfangen könnte.
Darauf fielen die meisten Beschäftigten dann
aber doch nicht herein, da sie
wohl wussten, dass es der rechten Regierung weniger um ihr Wohl, sondern
eindeutig um das der Arbeitgeber geht. In einer Umfrage, welche die
Sonntagszeitung JDD am 30. Januar 05 veröffentlichte, äußerten 77 Prozent
sich gegen eine Ausdehnung der bestehenden Arbeitswoche(n), wie die
Regierung sie plant, und nur 18 Prozent erklärten sich dazu bereit.
Rückblick auf die 35-Stunden-Reform unter
Jospin
Zum besseren Verständnis soll ein kurzer
Rückblick auf die Modalitäten der
Einführung der 35-Stunden-Woche vor nunmehr 5 bis 6 Jahren geworfen werden.
Die Verkürzung der Wochenarbeitszeit auf 35
Stunden wöchentlich ist bereits
eine ältere gewerkschaftliche Forderung; in den späten 60er und frühen 70er
Jahren wurde sie durch die beiden größten Gewerkschaftsbünde gefordert: die
seinerzeit KP-nahe Gewerkschaft CGT und die damals eher links-undogmatische
CFDT.1972 wurde sie in das Programm der "Linksunion", der Allianz aus
Sozialistischer und Kommunistischer Partei, aufgenommen. Nach dem
Regierungsantritt dieser beiden Parteien im Mai/Juni 1981 wurde ihre
Einführung bis im Jahr 1985 offiziell auf die Tagesordnung gesetzt. Im Zuge
der "notwendigen Anpassung an die wirtschaftlichen Realitäten" und der unter
François Mitterrand alsbald eingeschlagenen "Wende zur Austeritätspolitik"
verschwand der Plan allerdings schnell in den Schubladen.
Es war der sozialliberale
Wirtschaftspolitiker Dominique Strauss-Kahn
("DSK"), der ab 1993 eine Lobbygruppe der französischen Privatindustrie bei
der EU-Kommission in Brüssel (den "Cercle de l¹industrie") leitete und
später Wirtschaftsminister unter Lionel Jospin werden sollte, der die Idee
gegen Mitte der 90er Jahre wieder ausgrub. In seinen Konzepten hatte die
Reformvorstellung freilich eine andere Bedeutung und Funktion gewonnen: Die
Arbeitszeitverkürzung sollte den abhängig Beschäftigten als "Gegenleistung"
angeboten werden, im Austausch zur Hinnahme flexibler, je nach dem Bedarf
der Betriebe und Dienstleistungsunternehmen variierender Arbeitszeiten.
Damit sollte die Wirtschaft des Landes endlich "modernisiert" werden, im
Idealfall im Konsens zwischen den "aufgeschlossenen" Fraktionen des Kapitals
und den Gewerkschaften.
"DSK" war es, der deswegen die Forderung nach
Einführung der
35-Stunden-Woche "entstaubte" und in das Programm des damaligen
Präsidentschaftskandidaten Lionel Jospin zur Wahl des Staatschefs im
April/Mai 1995 hineinschreiben ließ. Seine Parteikollegin Martine Aubry war
seinerzeit dagegen: In einem Interview von 1994 hatte sie noch bekundet, der
Wunsch nach der 35-Stunden-Woche sei ökonomisch unsinnig und ruinös.
Es ist daher eine Ironie der Geschichte, dass
die ab 1998 etappenweise
eingeführte Gesetzgebung, die den von DSK konzipierten "Deal" umsetzen
sollte, heute unter dem Namen "Aubry-Gesetz 1 und Aubry-Gesetz 2" bekannt
ist. Denn die Dame, heute Oberbürgermeisterin von Lille, amtierte damals als
Arbeits- und Sozialministerin der Regierung Jospins und wurde mit der
Umsetzung betraut.
Am 10. Oktober 1997 vereinigte
Premierminister Lionel Jospin seine
Regierung, die Arbeitgeberverbände und die größeren Gewerkschaften an seinem
Amtssitz zu einem "Sozialgipfel". Das Gipfeltreffen sollte den Startschuss
für die Umsetzung der zuvor angedachten Reform im
"sozialpartnerschaftlichen" Konsens abgeben. Dieser Plan scheiterte jedoch:
Der oberste Chef des Arbeitgeberverbands CNPF (der heute in MEDEF umbenannrt
ist), Jean Gandois, weigerte sich strikt, einem solchen "Deal" zuzustimmen.
In seinen Augen handelte es sich um eine unzulässige Einmischung der Politik
in die "Angelegenheiten der Unternehmer".
In der Folgezeit setzte die Regierung durch
die beiden "Aubry-Gesetze", die
im Juni 1998 und im Januar 2000 in Kraft traten, die "Reform" dennoch um.
Der Zeitabstand zwischen der Verabschiedung der beiden Gesetzeswerke sollte
dazu dienen, dass in den einzelnen Unternehmen Betriebsvereinbarungen
angenommen würden, in denen die Modalitäten des angedachten "Deals"
festgeschrieben würden. Als mögliche "Gegenleistungen" für die Verkürzung
der Wochenarbeitszeit hatte Jospin in seiner Rede auf dem "Sozialgipfel" von
1997 explizit die Flexibilisierung der Arbeitszeitorganisation oder eine
"Mäßigung" bei den Löhnen genannt. In der Praxis konnte nur selten eine
Lohnsenkung im wörtlichen Sinne vereinbart werden (weniger als 10 Prozent
der Betriebsvereinbarungen), etwas häufiger war dagegen die Verpflichtung
der unterzeichnenden Gewerkschaften zu einer "Zurückhaltung" bei
Lohnforderungen in den kommenden Jahren. Dagegen enthalten 80 bis 90 Prozent
der geschlossenen Betriebsvereinbarungen Regelungen über variable
Arbeitszeiten.
Eine vorläufige Bilanz der
35-Stunden-Reform
Als vorläufige Bilanz der damaligen Reform
lässt sich (erstens) festhalten,
dass der Beschäftigungseffekt vergleichsweise gering ist oder jedenfalls
geringer ausfällt als erwartet. Nach Angaben des Commissariat au Plan, einer
staatlichen Wirtschaftsbehörde, aus dem Jahr 2001 wurden in der letzten
Wachstumsperiode (1997 bis 2000) in Frankreich insgesamt 1,375 Millionen
Arbeitsplätze geschaffen. Dies ist vor allem im Zusammenhang mit der
Einführung neuer Technologien wie des Internet zu sehen. Nur 240.000 dieser
Arbeitsplätze stehen, der Behörde zufolge, im Zusammenhang mit den
Beschäftigungseffekten der 35-Stunden-Reform. Demnach haben die mit ihr
einher gehende Flexibilisierung der Arbeitszeiten sowie eine
Leistungsverdichtung und intensivierung wesentliche Teile der erwarteten
Beschäftigungseffekte absorbiert. Manche Wirtschaftswissenschaftler
debattieren jedoch kontrovers über diesen Befund: Die Arbeitszeitverkürzung
der Jahre 1998 bis 2000 habe zwar nicht direkt einen bedeutenden
Beschäftigungseffekt geschaffen. Allerdings sei der indirekte Effekt zu
sehen, der verhindert habe, dass die technologische Modernisierung während
der Wachstumsphase der späten 90er Jahre mit noch mehr
Arbeitsplatzvernichtungen in anderen Sektoren einher gehe.
Was die Auswirkungen auf die abhängig
Arbeitenden betrifft, so ist je nach
sozialer Situation und Beschäftigungslage zu differenzieren. Am 15. Mai 2001
fasste die Tageszeitung France Soir eine Studie aus dem Arbeitsministerium
folgendermaßen zusammen : "Je nachdem, ob man cadre (höherer, leitender
Angestellter) oder aber ’einfacher ArbeiterŒ ist, fallen die Auswirkungen
der 35-Stunden-Woche unterschiedlich aus. Und es sind vor allem die cadres,
die sich am zufriedensten mit der Arbeitszeitverkürzung zeigen". Nämlich
weil sie davon in Form ganzer Urlaubstage, über das Jahr verteilt,
profitieren. Das damalige Frohlocken der Tourismusindustrie über die
gestiegene Zahl von Kurzurlauben und Wochenend-Reisen geht vor allem auf
diesen Teil der Beschäftigten zurück, der aber oft einen hohen Preis dafür
bezahlte: Die "Aubry-Gesetze" sehen ausdrücklich vor, dass für die cadres
(anders als für Arbeiter und "einfache" Angestellte) nur mehr die Zahl der
Arbeitstage pro Jahr, aber nicht mehr die Länge der Arbeitszeit am Tag
gemessen wird. Andere Beschäftigte hingegen sehen sich die Verkürzung der
Arbeitszeit in Form einzelner Stunden angerechnet, was wesentlich geringere
Veränderungen im Lebensrhythmus nach sich zieht.
Ferner hieß es in dem Artikel: "Bei den
einfachen Angestellten oder
Arbeitern klingt das anders. So zeigt eine Studie des Gewerkschaftsbunds
CFDT im Bausektor von Anfang des Jahres, dass sich die Bedingungen im
Arbeitsleben verschlechtern. (...) Die Beschäftigten des Sektors legen einen
markanten Pessimismus an den Tag, was die Entwicklung der
Arbeitsbedingungen, des Rhythmus und der Intensivität der Arbeit betrifft,
aber auch die Entwicklung der Löhne."
Die Wirtschaftszeitung ’La TribuneŒ vom 19.
Juni 01 sah aber auch für die
leitenden Angestellte Nachteile: "Stress und Müdigkeit für die cadres"
lautete die Überschrift. Der Untersuchung zufolge zeigte sich dennoch die
Mehrheit der Befragten global mit der Arbeitszeitverkürzung einverstanden:
58 Prozent der Befragten betrachten sie als Verbesserung des täglichen
Lebens, 29 Prozent sehen keine Veränderung darin, und für 13 Prozent stellte
sie eine Verschlechterung dar. Doch befragte man die Beschäftigten nach
ihren konkreten Arbeitsbedingungen, dann sah die Verteilung von
Zufriedenheit und Unzufriedenheit schon anders aus: 46 Prozent erblickten
auf diesem Gebiet weder Verbesserung noch Verschlechterung, 29 Prozent
konstatieren eine Verschlechterung und nur 25 Prozent eine Verbesserung.
Insofern lässt sich das Fazit ziehen, dass
die damalige Reform der
gesetzlichen Arbeitszeit zwar einerseits von vielen Menschen insofern als
Erleichterung erlebt wurde, als sie ihnen erlaubte, für längere Zeiträume
als bisher dem Arbeitsleben und seinen Zwängen zu entfliehen. Andererseits
ging sie sehr häufig mit einer Zunahme von Zwängen, mit Leistungsverdichtung
und zunehmend irregulären Arbeitsrhythmen innerhalb des Berufslebens einher.
Das Arbeitsleben selbst zu verbessern, dieses Ziel ist durch die konkreten
Modalitäten der Reform eher in weitere Ferne gerückt als bisher. Zugleich
aber konzentrieren viele Beschäftigte, die an diesem Punkt resignieren, ihre
Bemühungen nunmehr auf die Ausgestaltung ihrer Freizeit, da die
"Aubry-Gesetzgebung" die Spielräume dafür erweitert die finanziellen
Möglichkeiten dazu vorausgesetzt.
Nicht alle Arbeitgeber spielen mit
Jene Unternehmen, die das "Spiel" mitspielten
und entsprechende
Vereinbarungen mit mindestens einem Teil "ihrer" Gewerkschaften abschlossen,
wurden dafür üppig belohnt. Für die Dauer von 5 Jahren erhielten sie
kräftige Nachlässe bei den abzuführenden Sozialabgaben, und zwar für die
unteren und mittleren Lohngruppen (bis zum 1,8-fachen des gesetzlichen
Mindestlohns) gestaffelt: Je niedriger der Lohn, desto höher der Nachlass.
Damit wurden die Lohnnebenkosten für mehr als die Hälfte der abhängig
Beschäftigten kräftig gesenkt, mit einem entsprechenden Verlust an Einnahmen
für die öffentlichen Sozialversicherungssysteme. Voraussetzung dafür, 5
Jahre lang die üppigen De-facto-Subventionen zu genießen, war für die
Unternehmen eine Senkung der Arbeitszeit um 10 Prozent und die Beschäftigung
von mindestens 6 Prozent zusätzlichen Personals während mindestens zwei
Jahren.
Gleichzeitig setzte aber derjenige Teil der
Kapitalistenverbände, der den
"Deal" wegen einer zu starken "Einmischung der Politik" ablehnte, eine stark
ideologisch aufgeladene Kampagne dagegen fort. Im Dezember 1999 konnte der
Arbeitgeberverband MEDEF so mehrere tausend Unternehmer zu einer
"Protestversammlung" mobilisieren. Der MEDEF forderte, dass künftig
Betriebsvereinbarungen Vorrang vor Gesetzen und Branchen-Tarifverträgen
haben sollten, damit die angebliche notwendige "Modernisierung" von den
betrieblichen Akteuren und nicht von "der sich unzulässig einmischenden
Politik" ausgehe. Dafür gewann er die auf die, heute sozialdemokratische und
in ihrem Funktionskern klar pro-neoliberale, CFDT als Bündnispartner. Beide
Organisationen zusammen schlossen in den folgenden Monaten mehrere Abkommen
zur "Neubegründung der sozialen Beziehungen". So vereinbarten sie im Sommer
2000 eine Neuregelung der Rechte von Arbeitslosen in Gestalt des Projekts
PARE (Hilfe zur Rückkehr an den Arbeitsplatz), das wie eine Light-Version
der deutschen Hartz IV-Gesetze aussieht. Die CFDT verwaltete damals die,
paritätisch mit Arbeitgeber- und Gewerkschaftsvertretern besetzte,
Arbeitslosenkasse. Beide "Sozialpartner" trieben damals den Gesetzgeber vor
sich her, den sie aufforderten, weitere "Reformen" anzunehmen. Allerdings
ist die damals geschmiedete strategische Achse aus MEDEF und CFDT seit dem
Regierungswechsel von 2002 zerbrochen: Seitdem Jean-Pierre Raffarin
Premierminister ist, bildet der MEDEF nunmehr eine strategische Allianz mit
der Regierung. Die sozialliberale CFDT sieht sich um die Früchte ihrer
Bemühungen gebracht.
Bis zum Regierungswechsel hatte die CFDT sich
als "die
35-Stunden-Gewerkschaft" strategisch positioniert: Von allen Gewerkschaften
hat diese Organisation die meisten Betriebsvereinbarungen zur Umsetzung der
Arbeitszeitreform unterschrieben, und ist häufig den Wünschen der
Arbeitgeber etwa nach flexibleren Arbeitszeiten am meisten entgegen
gekommen. Es hat ihr nichts genutzt, da die Raffarin-Regierung sich jetzt
anschickt, ihr das Symbol "35 Stunden" weg zu nehmen. Deswegen hat die CFDT
auch an den Demonstrationen vom 5. Februar teilgenommen, wobei freilich die
CGT weitaus mehr Demonstranten (in Paris etwa zwei Drittel des gesamten
Protestzugs) stellte als die CFDT.
In Paris beispielsweise stellte die CFDT
maximal 4.000 Demonstranten. Davon
zählte ein Teil zu den ohnehin linksoppositionellen, kämpferischen Sektionen
innerhalb der CFDT (wie die Pariser Metallindustrie). Andere Teile der Demo
vom 5. Februar hingegen kamen auch aus den traditionell rechten, ja "gelben"
CFDT-Verbänden wie dem Dienstleistungsverband (CFDT Services), der
jedenfalls bis vor wenigen Jahren durch die Arbeitgeber finanziert wurde;
"Le Canard enchaîné" publizierte vor 5 Jahren eindeutige Dokumente dazu. -
Damit stellte die CFDT, bei annähernd gleicher Mitgliederzahl wie die
weitaus mobilisierungsfähigere CGT, allerhöchstens ein Zehntel der Pariser
Demonstration. Nachdem sie sich bereits so sehr als technokratische
Verhandlungsgewerkschaft erwiesen hat, hat sie jetzt eben Mühe damit, ihre
Basis auf die Straße zu bekommen.
Was die jetzige Regierung plant
Unmittelbarer Anlass für den Protest war die
Offensive der rechten
Parlamentsmehrheit, die Teile der Gesetzgebung zur 35-Stunden-Woche aus den
Jahren 1999/2000 rückgängig machen will. Der Gesetzentwurf der konservativen
Regierungspartei UMP sollte ursprünglich am 3. Februar in erster Lesung
verabschiedet werden, doch aufgrund der zähen Hinhaltetaktik der
parlamentarischen Opposition verzögerte sich die Abstimmung um mehrere Tage.
Die Annahme in erster Lesung erfolgte am vorigen Mittwoch in der
Nationalversammlung.
Seit zwei Jahren war es innerhalb der UMP
heftig umstritten, ob man die
beiden "Aubry-Gesetze" zur 35-Stunden-Woche einfach abschaffen solle, um das
"hässliche Symbol" zu entfernen, oder aber ob man dessen Grundstruktur
beibehalten und vorzugsweise die in ihm enthaltenen Flexibilitäts-Spielräume
ausweiten solle. (Letztere Variante hat sich durchgesetzt.) Dieser Streit
wurde zeitweise durch die Kontrahenten, die sich in der UMP einen heftigen
Machtkampf liefern (der derzeitige Parteichef Nicolas Sarkozy und Präsident
Jacques Chirac) beinahe zum Glaubenskonflikt hochstilisiert, wobei Sarkozy
sich im Frühsommer 2004 vor einem begeisterten kleinbürgerlichen Publikum
zum Fürsprecher der vermeintlich radikaleren Abschaffungs-Lösung machte.
Davon wollte aber letztendlich auch das Arbeitgeberlager, jedenfalls das
Großkapital und der dessen Interessen vertretende Verband MEDEF, nichts
wissen. (Anders sah es höchstens bei aufgeregten Mittelständlern und
Kleinunternehmern aus, die nicht denselben strategischen Weitblick aufweisen
wie die MEDEF-Kapitäne.) Denn bei den dominierenden Kapitalfraktionen hatte
man wohl verstanden, dass man mit den Aubry/Jospin-Gesetzen auch riesige
Vorteile habe, namentlich in Gestalt der Nachlässe an Sozialabgaben und
Lohnnebenkosten und die wollte man behalten! Ferner hatten die strategisch
denkenden Kapitalvertreter auch verstanden, dass die Aubry-Gesetze bereits
einen geeigneten Rahmen für weitgehende "Flexibilisierung" abgeben. Es gelte
(ihnen zufolge) lediglich, die vorhandenen Spielräume der Arbeitgeber noch
weiter auszudehnen und vor allem die Obergrenzen für die Ausdehnung der
Arbeitswochen anzuheben. Dies aber nicht durch eine einfache Streichung des
Gesetzes, sondern unter Bewahrung seiner sonstigen Mechanismen.
Sobald der jetzt in der parlamentarischen
Debatte befindliche Text definitiv
verabschiedet ist, wird es in Frankreich kaum noch rechtliche Obergrenzen
für das Ableisten von Überstunden geben. Die vom Gesetz vorgesehene
theoretische Obergrenze wird auf 220 Überstunden pro Jahr angehoben außer
bei Bestehen einer Betriebsvereinbarung, die ebenso nach unten wie nach oben
hin abweichen kann. Das entspricht vier Stunden pro Woche oder einer
Rückkehr zur 39-Stunden-Woche, aber mit einem wichtigen Unterschied:
Überstunden werden dann und nur dann geleistet, wenn der Arbeitgeber sie
anordnet. Eine Garantie einer entsprechenden Lohnhöhe gibt es damit
ebensowenig wie für auf längere Sicht hin stabile Arbeitszeiten.
Doch "freiwillig" mehr arbeitende
Lohnabhängige können diese gesetzliche
Maximalgrenze für Überstunden zukünftig auch überschreiten, was bisher
unzulässig war. Die einzigen legalen Grenzen sind dann noch die
Vorschriften, wonach abhängig Beschäftigte höchstens 48 Stunden (oder in
begründeten Ausnahmefällen vorübergehend 60 Stunden) pro Woche arbeiten
dürfen. Ferner entfällt der bisher obligatorische Freizeitausgleich: Die auf
einem "Zeitsparkonto" (Compte épargne-temps, CET) registrierten Überstunden
können künftig auch ausbezahlt statt durch Freizeit ausgeglichen werden;
dasselbe gilt für bis zu zwei Urlaubswochen pro Jahr. Und bestand bisher
eine Obergrenze von 5 Jahren, binnen derer das Zeitkonto geleert werden
musste, so kann es zukünftig auf unbestimmte Zeit hin aufgefüllt werden. Um
die Zukunft ihres Arbeitsplatzes oder um die Höhe ihrer späteren Rente
fürchtende Lohnabhängige können es also über etliche Jahre hin auffüllen,
das Geld wird vom Unternehmen angespart. Was passiert, falls der Betrieb
dann pleite geht, dürfte zukünftig noch ein haariges Problem darstellen.
Wie geht es weiter?
Welche möglichen Konsequenzen die derzeitigen
Auseinandersetzungen und
Proteste haben werden, ist im Moment noch nicht abzusehen. Premierminister
Jean-Pierre Raffarin hat in den Tagen nach dem 5. Februar verkündet, 400.000
bis 500.000 Demonstranten seien nicht so wichtig, und die Protestzüge
gehörten eben zum Ritual der Gewerkschaften; eine funktionierende "soziale
Demokratie" könne damit leben, ergo zur Tagesordnung übergehen.
Allerdings genügten bereits 100.000
demonstrierende SchülerInnen der
Oberstufen eine Woche später, um die von Bildungsminister François Fillon
geplante Abiturreform zu Fall zu bringen. Ein hoher Beamter des Pariser
Bildungsministeriums wurde in der französischen Presse mit den warnenden
Worten zitiert: "Schüler und Studenten sind wie Zahnpasta. Wenn sie einmal
aus der Tube entwischt sind, bekommt man sie nicht wieder hinein." Die am
Dienstag dieser Woche (15. Februar) vom Parlament beratene Fassung der neuen
Schulgesetze enthalten zwar immer noch mehrere Bestimmungen, die von
Schülerverbänden wie Lehrergewerkschaften bekämpft wird, wie den Abbau von
fast 4.000 Lehrerstellen im kommenden Herbst. Aber die heikle Reform des
Abiturs, mit der Streichung von ("zu teuren") Fächeroptionen und der
Abschaffung des Zentralabiturs, wurde vorläufig zurückgezogen auf
Anordnung von Präsident Chirac persönlich, der eine unkontrollierbare
Dynamik der Schülerproteste fürchtete.
Vielleicht sollten auch die abhängig
Beschäftigten sich öfter "wie
Zahnpasta" verhalten.
Editorische Anmerkungen
Der Autor stellte uns seinen Text
am 15.2.2005 zur Veröffentlichung zur Verfügung.
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