Stöckelschuhe!
Mindestens ein Dutzend Paar Stöckelschuhe fallen polternd aus
dem geöffneten Koffer der Dame, die in der Warteschlange vor mir
steht. Ob es sich nun um Eigenbedarf handelt oder darum,
sämtliche weiblichen Verwandten in Burkina Faso damit
einzudecken - der Angestellte von Air Burkina ist sichtlich
genervt, da Madame den Verkehr aufhält. Aber dann klappt es doch
noch mit der Abfertigung, und ohne jede Verspätung hebt der
Flieger in den grauen und verregneten Himmel über Paris-Orly ab.
In den kommenden Flugstunden klart es endlich auf, und unten
ziehen die rötlich-grauen Weiten der algerischen Sahara vorbei.
Nach fünfeinhalb Stunden vernehme ich die Ansage zur Ankunft in
Ouagadougou: „Die Außentemperatur beträgt
32° Grad“. Das hört man gerne.

Eine gute
Stunde Aufenthalt in einer kleinen Halle, die irgendwie an einen
Bahnhof aus der Kolonialzeit erinnert, und dann geht es weiter
in Richtung Bamako – die Betonung liegt auf dem „o“: „Bammakoh“
-, der Hauptstadt des westafrikanischen Nachbarlands Mali. Dort
wird ab dem folgenden Tag, dem Donnerstag vergangener Woche,
einer der drei Schauplätze des „Polyzentrischen Weltsozialforum“
liegen. Im vorigen Jahr hatten die Veranstalter des WSF, das
seit 2001 alljährlich im brasilianischen Porto Allegre und 2005
erstmals an anderem Ort stattfand – in Bombay -, beschlossen,
das Forum an mehreren Orten gleichzeitig abzuhalten. Denn viele
Menschen aus Afrika oder Asien können es sich beispielsweise
nicht leisten, für ein paar Tage nach Brasilien zu fliegen. So
kam es zu der Idee, drei Veranstaltungsorte im Trikont zugleich
festzuhalten. Es wurden Caracas, wo das WSF in dieser Woche
eröffnet wird, Bamako und Karachi in Pakistan. Aufgrund der
Auswirkungen der schweren Erdbebenkatastrophe im letzten Oktober
wurde die pakistanische Ausgabe des Forums jedoch um zweite
Monate verschoben.
Keine
Groβwildjagd für Bürokraten
Vor dem Abflug
sagte mir Matthieu, ein Genosse, der in der CGT-Gewerkschaft bei
Air France tätig ist und einige Stunden vor mir nach Bamako
gedüst ist: „Zum Glück hat Mali sich bei der Bewerbung um die
Austragung des Sozialforums 2006 gegen Kenya, den anderen
afrikanischen Kandidaten, durchsetzen können. Sonst hätten wir
unsere gesamten CGT-Bürokraten gehabt, die sich plötzlich für
das Weltsozialforum erwärmt hätten. So nach dem Motto: Drei oder
vier Tage Debatten nimmt man notfalls in Kauf, wenn man dadurch
einen guten Vorwand erhält, um – am besten auf
Organisationskosten - im Anschluss eine Woche Grobwildsafari
in Kenya zu machen.“ Da Mali kein derart klassisches
Touristenland ist wie der ostafrikanische Staat, sondern im
allgemeinen eher Alternativtouristen anzieht, ist diese Gefahr
erst einmal gebannt. In der Hoffnung, dass sie sich 2007 nicht
realisieren möge, denn dann wird das – wiederum an einem
einheitlichen Ort weltweit vereinigte – Weltsozialforum in
Nairobi (Kenya) tagen. Aber tun wir den kenyanischen
OrganisatorInnen nicht von vornherein Unrecht, zumal das Problem
– falls es auftaucht – sicherlich nicht bei ihnen liegt...

Das diesjährige
Tagungsland Mali bot sich aus mehreren Gründen an: Es handelt
sich um ein Land, dessen Gesellschaft die frühere
Militärdiktatur (unter Moussa Traoré) der Jahre 1968 bis 1991
erfolgreich gestürzt hat und seitdem eine demokratische
Blüteperiode erlebt, in dem zahlreiche Bürgeriniativen und NGOs
aktiv sind. Gleichzeitig lassen sich anhand des Beispiels Mali
viele der verheerenden Auswirkungen des dominierenden
wirtschaftlichen Einflusses aus dem Nord – und daneben
mittlerweile auch südafrikanischen Kapitals – und der unter
anderem aufgrund des Drucks von IWF und Weltbank verfolgten
Privatisierungspolitik ablesen.
Ankunft im
Unbekannten
Unterwegs nach
Bamako sieht man aufgrund der tropischen Wolkendecke nicht viel.
Dann geht die Sonne am Tropenhimmel, wie in diesen Breitengraden
üblich, plötzlich und schnell unter, als ob jemand sie
ausgeknipst hätte. Es ist Nacht bei der Landung in Bamako. Es
beginnt der Aufbruch ins Ungewisse, da ich keine Ahnung habe, ob
ich noch ein Dach über dem Kopf erhalte - und vor allem zu
welchem Preis. Die Eröffnungszeremonie findet erst am kommenden
Tag statt, aber vielleicht sind schon jetzt nur noch teurere
Hotels zu haben, denn immerhin werden 30.000 Leute von den
Veranstaltern erwartet. (Von ihnen werden 15.000 bis 20.000
kommen, so jedenfalls die Angaben der Veranstalter zum Abschluss
- die dabei nicht mit Selbstkritik ob der organisatorischen
Mängel sparten und einen überaus ehrlichen Gesamteindruck
erweckten.) Doch in der Flughafenhalle wartet ein kleines
Empfangskomitee vom WSF auf die anreisenden Teilnehmer. Haben
Sie eine Reservierung für ein Hotel? Eine Herberge? Nein? Ich
antworte der 40jährigen Frau, dass ich mich auf der Webpage des
Sozialforums in Bamako eingetragen und die Option
„Privatunterkunft in einer maliensischen Familie“ gewählt habe –
das ist doch immer interessanter. Sofort schlägt Fatma Traoré
ein und nimmt mich mit zu sich nach Hause.

Die Witwe ist
in einer Initiative für die Förderung von Frauen- und
Kinderrechten aktiv und seit Juni ehrenamtlich in der
Vorbereitung tätig. lebt mit ihren sechs Kindern, die schon in
jugendlichem Alter sind, in einem typischen Wohngebiet: Ein- bis
anderthalbstöckige Backsteinhäuser mit flachem Dach, die oft
durch die Bewohner selbst errichtet wurden und aus deren Dach
mitunter noch Eisenträger hervorstehen, für den Fall, dass man
sie weiterbauen würde. In einem kleinen Hinterhof stehen
Mangobäume, in denen brütende Turteltauben sitzen; Tamarind wird
in kleinen Blumentöpfen gezogen. Die Straben
sind zum Grobteil
ungeteert, bis auf die Hauptverkehrsadern, auf denen mehr
Minibusse und Motorräder sowie Motorroller als Autos verkehren.
Wie ich erfahre, ist die starke Präsenz motorisierter Zweiräder
ein Ergebnis der chinesischen Wirtschaftsoffensive in Afrika, da
der Import gefälschter Yamaha-Motorräder den Preis gegenüber den
japanischen Maschinen auf ein Viertel bis Fünftel reduziert hat.
Verkehrsregel Nummer 1: Gefahren wird grundsätzlich ohne
Sturzhelm (von vielleicht 0,3 % der Beteiligten abgesehen),
allenfalls mit Atemschutzmaske oder Wollmütze auf dem Kopf. Im
Wohngebiet weiden magere Schafe und Bergziegen zwischen den
Häusern. Denn viele Einwohner sind ökonomisch zum Teil auf
Selbstversorgung angewiesen. Es gibt kaum Möbel, die Leute
schlafen unter kunstvoll gebastelten Moskinonetz-Zelten auf
ihren Matratzen. So ein Moskitozelt erhalte ich auch, das hat
doch was Beruhigendes.
Am folgenden
Tag geht es zunächst zum malischen Vorbereitungskomitee. Stolz
präsentiert Fatma „meinen Ausländer“ den Freundinnen – ich habe
den Eindruck, dass bisher nicht so viele Teilnehmer für die
Privatunterkunft optiert haben. Dann sammeln sich die Teilnehmer
im und auf dem Rasen vor dem Kulturpalast von Bamako. Junge
Männer mit der Kopfbedeckung der Tuareg heizen auf Motorrädern
durch die Gegend, sie sind wohl aus dem Norden von Mali
gekommen. Nach meinem ersten Eindruck kommen deutlich über 80
Prozent der Teilnehmer vom afrikanischen Kontinent, mit starken
Kontingenten aus Mali selbst, den Nachbarländern und aus
Südafrika. Zwischendurch diskutiere ich mit einer dreiköpfigen
Gruppe der spanischen Izquierda Unida (Vereinigte Linke) und
einem Kongolesen, der in einem sozialwissenschaftlichen
Forschungszentrum über Zivilgesellschaft und Konflikte im
südafrikanischen Durban studiert und arbeitet. Die Veranstalter
scheinen vom Andrang leicht überfordert, aber ich hatte mir das
organisatorische Chaos sehr viel schlimmer vorgestellt und bin
eher positiv überrascht. Am Nachmittag beginnt die
Auftaktdemonstration, nur wann? Die Einen sagen 14 Uhr, Andere
meinen 15 Uhr, wieder andere 16 Uhr. Anscheinend wurde der
Anfang aufgrund der Schwierigkeiten bei der Bewältigung des
Teilnehmerandrangs verschoben. Um halb vier löst sich die
Ungewisseheit aus: Kostenlose Busse sollen jetzt die Leute, die
vor dem Kulturpalast warten, zu der Demo bringen, die bereits
Aufstellung genommen hat.
Ein munterer
Auftakt, aber mit hässlichem Flaggenstreit
Kaum ist unser
VW-Bus dann auch am Boulevard der Unabhängigkeit angekommen,
beginnt die Demo auch schon loszulaufen, ein munterer Marsch von
irgendwo zwischen 10.000 und 20.000 Leuten (die Veranstalter
werden im Anschluss von 18.000 Teilnehmern sprechen). Zahllose
stehen an den Strabenrändern:
Bewohnerkollektive gröberer
Häuser, Verkäufer aus dem informellen Sektor mit ihren
Leiterwägen, zahllose Kinder. Optisch prägend erscheinend mir
zum Einen die zahlreichen Frauengruppen und –initiativen, zum
Zweiten Angehörige der „Fair trade“-Bewegung und zum Dritten
Gewerkschaften aus Europa und Afrika. Die französische CGT und
die Basisgewerkschaften SUD-Solidaires, aus Italien die
etablierte CGIL ebenso wie die gewerkschaftlichen Basiskomitees
Sin Cobas... und viele afrikanische
Gewerkschaftsorganisationen. Aus Mali ist der Widerstand gegen
die 2003 erfolgte Privatisierung des Eisenbahnnetzes und seine
Übernahme durch ein französisch-kanadisches Konsortium namens
Transrail, die mit der Schliebung
von 26 der 36 Bahnhöfe einherging, und gegen die Entlassung
gewerkschaftlich aktiver Mitarbeiter durch Transrail gut
sichtbar. Auch der Zorn der Baumwollanbauer verschafft sich in
der Demo Luft. Sie sehen den Preis für ihr Produkt immer weiter
unkontrolliert fallen, zugleich wurde die mit dem Verkauf dieses
wichtigen Exportprodukts befasste maliensische
Textilgesellschaft CMDT unter internationalem Druck privatisiert
und durch Franzosen aufgekauft, die drei Viertel der Erlöse aus
dem Land abführen. Ansonsten gibt es eine Abschlusskundgebung im
Stadion von Bamako mit einem Kulturprogramm, an dem Künstler aus
verschiedenen Ländern des Kontinents – von Guinea bis Burundi –
teilnehmen. Zu einer hässlichen Note kommt es am Schluss, als
Teilnehmer aus Marokko und aus der seit 1975 durch dieses Land
annektierten Westsahara sich erst einen Flaggenstreit auf dem
Rasen liefern und es anschliebend
fast zur gröberen
Prügelei kommt. Die malische Polizei trennt die Kontrahenten,
indem es die Saharaouis vom Rasen in die Tribünen abdrängt und
die Marokkaner am Hinterhersetzen hindert. Aber in den kommenden
Tagen wird es bei einer Debatte um das Westsaharaproblem
nochmals zu Gerangel und zu Störererein kommen.
Agiert so das
marokkanische Sozialforum, das zu den wohl stärksten auf dem
Kontinent gehört und auch in der Demo Präsenz zeigte? Bei
Michèle, die aus der französischen KP kommt und seit langem
Solidaritätsarbeit mit Afrika leistet, bleibt ein Zweifel
zurück: „Nein, ich glaube, da hat auf jeden Fall auch die
marokkanische Botschaft ihre Hände im Spiel gehabt. Aber es
stimmt, dass sehr viele progressive Kräfte in Marokko versuchen,
sich bei der Monarchie ihre Freiheit auf Kosten der Freiheit von
Anderen einzukaufen, indem sie eine chauvinistische Linie zum
Westsaharaproblem einnehmen und dadurch ernst genommen zu werden
glauben.“ Dieser Auffassung sind auch andere Teilnehmer, die
ergänzen, eine Vereinigung ehemaliger malischer Studenten in
Marokko habe sich im Vorfeld manipulieren lassen, bei dem Ganzen
mitzumischen.
Thema:
Kriminalisierung von Migration
Freitag
vormittag: Heute beginnen die thematischen Arbeitsgruppen.
Zuerst begebe ich mich zum Kongresspalast, der in unmittelbarer
Nähe des Niger-Ufers liegt. In einem durch Klimaanlagen völlig
unterkühlten Konferenzraum im Erdgeschoss, mit Blick auf das
« Pressezentrum vom französisch-afrikanischen Gipfel », das von
der letzten Ausgabe des neokolonialen Präsidententreffens von
Anfang Dezember stehen geblieben ist, geht es um das Thema
« Kriminalisierung von Migration ». Lucile Damas von ATTAC
Marokko geht scharf mit der europäischen Politik ins Gericht,
die sich durch Heuchelei und Doppelbödigkeit auszeichen.
Einerseits schliebe
man dort, wo es um die Aufhebung von Schutzbarrieren für die
Ökonomien des Südens und die Durchsetzung von
Freihandelsinteressen der stärkeren Nationalökonomien gehe,
Abkommen an, in deren Rhetorik viel von Zusammenarbeit zu
gegenseitigem Nutzen die Rede sei und oft der Eindruck erweckt
werde, als stünden die Verträge allein im Interesse der Länder
des Südens und ihrer „Entwicklung“. Andererseits aber
verschwinde diese Rhetorik sofort, wo es um den „Schutz“ Europas
vor unerwünschter Zuwanderung gehe, und mache einer regelrechten
„Obsession“ der Abwehr Platz. Staaten wie Marokko, Tunesien,
Libyen und Ägypten lieben
sich vor den europäischen Karren spannen, im Interesse einer
vorgelagerten Abwehr- bzw. Selektionspolitik für Migranten, die
detailliert untersucht wird. Die deutsche Europaparlamentarierin
Gaby Zimmer berichtet von den Versuchen der Fraktion der
Vereinigten Europäischen Linken (der die Linkspartei.PDS
angehört), mehr über die dramatischen Bedingungen für
unerwünschte Flüchtlinge und Migranten zu erfahren, die in
Libyen oder den Italien vorgelagerten Inseln geparkt würden. Sie
wünscht eine intensivere Zusammenarbeit mit Kräften im Süden, um
genauer zu wissen, was in dieser Hinsicht in Ländern wie Marokko
oder Libyen passert. Ich bin einigermaben
erstaunt über die doch recht korrekten Äuberungen
der Abgeordneten, aber ob sie das in Brandenburg auch so sagen
würde? Der Abgeordnete Ag Ibarcane aus Gao im Norden Malis
fordert die linken Abgeordneten und Gleichgesinnte auf, eine
„Kampagne in den Tiefen Europas, bei ihren Wählern“ zu
entfachen, um für eine Öffnung Europas für Immigranten
einzutreten, denn auch Europa habe kein Interesse an einer
dauerhaften Abschottung.
Da später eine
weitere Debatte über Ceuta und Melilla aufgrund thematischer
Überschneidungen annulliert wird, folge ich einer Debatte über
das so genannten afrikanische Partnerschaftsmodell „NEPAD und
den südafrikanischen Imperialismus auf dem Kontinent“. Eine
muntere Combo aus Südafrika, bestehend aus einer Schwarzen,
einem Inder und einer Weiben,
schildert die Offensive der dominierenden südafrikanischen
Wirtschaft im übrigen Afrika, seitdem die Barrieren des
Anti-Apartheid-Boykotts gefallen sind. Es kommt zu einer kleinen
Kontroverse mit Teilnehmern aus Senegal, von denen etwa ein
Hochschullehrer meint, eine Stärkung Südafrikas sei „als
Gegengewicht zu den groben
Wirtschaftsmächten wie der EU, Indien und China“ positiv zu
werten. Eine Debatte, die mir von den Kontroversen über eine
Haltung zur Europäischen Union als angebliches „Bollwerk“ gegen
US-Hegemonie und Neoliberalismus bekannt vorkommt. Die linken
Südafrikaner meinen dagegen, die aggressive Wirtschaftsoffensive
erwecke bereits heute eher Ressentiments gegen das Land im
übrigen Kontinent.
Spontan
entdeckte Genossen
Drauben
vor dem Kongresspalast ist ein riesengrobes
Strohdach aufgebaut. Träge erheben sich in der Wärme des
Nachmittags weibe
Reihervögel von den Bäumen in Flussnähe. Einige Malier sitzen
beim Essen zusammen und löffeln mit der Hand Reis mit Sauce aus
einer Riesenschüssel. Ein jüngerer Mann lädt mich zur Teilnahme
ein. Nach wenigen Sätzen Diskussion habe ich verstanden, dass
der junge Mann sich als Kommunist bezeichnet. Rasch gebe ich zu
verstehen, dass ich auch Kommunist sei – über genauere
Definitionen, was man unter diesem Begriff fassen oder lieber
draubenlassen
sollte, lässt sich ein andermal diskutieren. Daraufhin nimmt er
mich zu einer hitzigen Debatte mit, die unter einem riesigen
Strohzelt vor den Toren des Kongresspalastes stattfindet und
offenkundig durch die kommunistische Bewegung SADI (Afrikanische
Solidarität für Entwicklung und Unabhängigkeit) organisiert
wird, die den Kultur- und Tourismusminister stellt, aber de
facto eher oppositionell ist. Seltsamerweise taucht dieser Ort
in den offiziellen Programmen nicht auf. Hier läuft Sozialforum
im besten Sinne: Fast ausschlieblich
Malier sind gekommen, man erkennt allerdings auch etwa
Jean-Claude Amara von der französischen Bewegung der „Sans“ (Sans
papiers = ohne Aufenthaltstitel, sans domicile fixe =
Obdachlose, sans travail = Arbeitslose...) Es wird in Bambara –
das von einer Bevölkerungsmehrheit im Land gesprochen wird –
vorgetragen und auf Französisch übersetzt. Minen- und
Landarbeiter sowie arme Bauern sind hier zusammengekommen, die
wütend ihren sozialen Protest vortragen. Hier wird auch nicht
mit Kritik an der Regierung von Mali, die ansonsten auf dem WSF
nicht so stark ins Visier genommen wird und die das
Weltsozialforum – und sei es als Devisenbringer – eher
unterstützt hat, hinter dem Berg gehalten.
In einem
Höllentempo werden an diesem, aber auch am folgenden Tag unter
dem Zelt die drängendsten sozialen Fragen behandelt. Anwohner
der Goldminen in Morila und anderen Orten, die durch ein
französisch-südafrikanisches Kapitalkonsortium aufgekauft worden
sind und für den Grobteil
der Malier verschlossenes Terrain darstellen, berichten über grobflächige
Verseuchungen mit Quecksilber, das zum Goldabbau eingesetzt und
rücksichtslos in die Landschaft geblasen wird. Männer und Frauen
berichten von Missbildungen an Kindern, „wir erleben eine
Situation wie in Nagasaki nach dem Atombombenabwurf“.
Gewerkschafter aus den Minen berichten über willkürliche
Verhaftungen und Gefängnisaufenthalte ihrer Kollegen seit sechs
Monaten ohne jede offizielle Begründung. Mutmablich
analphabetische Bäuerinnen berichten über heftige
Agrarkonflikte, über Wasser, das von den Feldern auf die
Exportkulturen von Bananen umgeleitet wird, die einheimischen
Reichen gehören, die auf die Komplizenschaft von Richtern und
Gedarmen bauen können. Über Wasserrechnungen, die trotzdem
bezahlt werden müssen („nur 58 unserer 250 Felder sind aber
bewässert worden, aller Rest wurde umgeleitet“), und über
brutale Misshandlungen durch die Gendarmerie für alle
Zuwiderhandelnden. Die Frauen meinen, die Zeiten seien vorbei,
wo man darauf bauen konnte, dass Ihresgleichen sich nicht für
Politik interessiere. Hier findet Sozialforum at it’s best
statt.
Am Freitag
abend steht ein anderes, auβerhalb des Kongressprogramms
stehendes Vergnügen auf dem Programm: Im Stadion findet das
Afrikanische Reggeafestival statt, mit einem Konzert des
örtlichen, aber weit über Mali hinaus bekannten Stars Tiken Jah
Fakoly (ausgesprochen „Tschicken Dschah Fakoly“). Der auch
politisch engagierte Sänger ist u.a. mit dem Titel „Ainsi
l’Afrique doit du fric“ (So so, Afrika schuldet also Kohle?)
auch in Frankreich bekannt und in einschlägigen Kreisen beliebt.
Nach sieben Vorgruppen kommt endlich Tiken Jah mit einem
Kleinbus auf der Rasenfläche des Stadions vorgefahren, wo eine
Bühne aufgebaut ist. Militärs und Gendarmen, die speziell
hergestellte Gürtel mit Eisennieten als Schlaginstrumente
einsetzen, hindern die zehntausenden jungen Leuten daran, von
den Sitzreihen des Stadions aus auf den Rasen vorzudringen. (Am
folgenden Tag fällt mir auf, dass auch jene Soldaten, die die
zentralen Tagungsorte des Sozialforums bewachen, solche
Schlaggürtel besitzen. Dort kommen sie aber freilich nicht zum
Einsatz.) Dann überklettern aber immer mehr und mehr junge Leute
den Zaun, der die Sitzreihen vom Rasen abtrennt. Nach zehn
Minuten klettern auch meine malischen Begleiter, die zunächst
eher zögerlich schienen, und ich ins Innere und finden uns in
einer ausgelassenen Stimmung wieder. Es ist bald drei Uhr, als
wir nach Hause zurückfahren. Im Moment graut mir ein bisschen
beim Gedanken an das frühe Aufstehen morgen, aber ich möchte
dennoch nichts vom Sozialforum versäumen. Kurz nach sieben Uhr
stehe ich schon wieder auf den Füβen, wie die gesamte Familie.
Auf der
Suche nach Spannendem zur Banlieuefrage: enttäuscht...
Am Wochenende
finde ich ach längerem Suchen quer durch einen Komplex von
Studentenwohnheimen und Hörsälen ich den ziemlich gut
versteckten Konferenzraum, wo ein Sozialforschungszentrum aus
Brasilien und ine Initiative aus Mali eine Debatte über «
Banlieues und grobstädtische
Gewalt – Hintergrund für die Entwicklung vom Sozial- zum
Strafstaat“ anbieten. Das verspricht spannend zu werden, vor
allem auch möchte ich wissen, wie in anderen Teilen der Welt
über die Ereignisse in den französischenTrabantenstädten vom
vergangenen November – auf die der Titel offenkundig anspielt –
diskutiert wird und welche Parallen die Brasilianer zu den
Favelas ihrer Grobstädte
ziehen. Schon bedauere ich heftig, dass ich zu spät dran bin.
Das ist aber unnötig, wie sich herausstellt, denn die
Brasilianer sind gar nicht gekommen. Generell ist Lateinamerika
nach meinem Eindruck in Bamako gar nicht vertreten – gut, kein
Wunder, wo doch nur wenige Tage später in Caracas der Vorhang
für den zweiten Teil des Weltsozialforums aufgehen wird. Aus
Mali sind einige Leute anwesend, aber im Wesentlichen zum
Zuhören und Fragenstellen. So wird die Debatte im Wesentlichen
unter Leuten aus Frankreich bestritten und endet in einer
nervigen Polemik mit einem Vertreter der 2005 gegründeten
Bewegung der « Indigènes de la République » (Eingeborenen der
Republik): Er versucht nahezu alle Diskriminierungs-,
Ghettoisierungs- und sozialen Probleme im heutigen Frankreich
auf den Einheitsnenner einer « Fortsetzung des Kolonialismus »
zu bringen und spricht einer sozioökonomischen, klassenmäbigen
Analyse der Banlieueproblematik ihre Berechtigung ab. Eine
legitime Reaktion könne jedenfalls in einer ersten Zeit nur von
den postkolonialen Subjekten kommen, statt von einem gemeinsamen
Kampf aller Marginalisierten. Auch so kann man universelle
Solidarität verhindern...
Internationale Gewerkschaftersolidarität: Deutsche
Sozialdemokraten als falsche NGO-Fuffziger unterwegs
Danach suche
ich die Debatte über internationale Zusammenarbeit von
Gewerkschaften und « die Überwindung der Zersplitterung » in der
weltweiten Arbeiterbewegung, die von einer senegalesischen
Lehrergewerkschaft angeboten wird. Also nichts wie hin. Aber
auch hier sind die Referenten leider nicht gekommen. Auf dem
Flur wartet neben drei Mitgliedern der französischen
linksalternativen Basisgewerkschaft SUD/Solidaires auch Monsieur
Amrani aus Algerien, der als Organisationsbezeichnung « FES »
auf seinem Button stehen hat. Da ich diese Abkürzung im
algerischen Spektrum noch nicht kenne, frage ich ihn, welche
Gewerkschaft denn hinter dem Kürzel stecke. Aber es steht für
die Friedrich-Ebert-Stiftung, von der ich weib,
dass sie ein Büro in Algier unterhält und sich dort durch
Förderprogramme und Mittelverteilung sehr massiv in Aktivitäten
der « Zivilgesellschaft » einzuschalten versucht. « Da drüben
steht mein Boss » fügt Monsieur Amrani hinzu, und hinter mir
erblicke ich einen vielleicht 50jährigen, untersetzten
Deutschen, der wohl für die Parteistiftung der SPD arbeitet. Mit
dem muss ich jetzt aber wirklich nicht diskutieren. Lieber
begebe ich mich auf die Suche nach einer Debatte über
„Globalisierung von unten“ in einem anderen Saal, die zur
Abwechslung auch wirklich stattfindet.
Später am Tag
komme ich wieder vor dem Kongresspalast an. Dort sind inzwischen
zahlreiche Transparente angebracht worden. Eines ist etwa vom
Nigeria Social Forum. Unter ihm steht, weniger erfreulich,
auf einem anderen zu lesen: « Die Friedrich-Ebert-Stiftung begrübt
sie zum polyzentrischen Weltsozialforum ». Die schon wieder!
Nicht überall, wo NGO drauf steht, ist eben auch wirklich eine
non gouvernemental Organisation drin. Langsam beginnen die
Heinis von der Stiftung der deutschen Regierungspartei aber
wirklich zu nerven.
Noch viele
interessante Debatten gibt es bis zum Abschluss am Montag abend
zu entdecken, darunter an herausragender Stelle die Diskussion
über Perspektiven der Frauenbewegung in Nord und Süd sowie ihrer
Zusammenarbeit oder die Augenzeugenberichte afrikanischer
Migranten, die in Ceuta und Melilla am Stacheldrahtzaun
scheiterten. Und die elenden deutschen Spezialdemokraten können
ja, zum Glück, nicht überall stecken.
Editorische Anmerkungen
Bernhard Schmid
stellte uns seinen Artikel in der vorliegenden Fassung zur
Verfügung. Er weist daraufhin, dass dies eine
Ausführliche Fassung eines Reportagetextes ist,
der am Mittwoch (24. Januar 06) deutlich gekürzt in der
Wochenzeitung „Jungle World“ erschien.
Die Fotos stammen
auch vom Autor. Sie zeigen Eindrücke von der Auftaktdemo.
Danke!!!
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